Straflosigkeit im israelischen Rechtssystem
Ein Hindernis für Frieden und Gerechtigkeit
von Riad Othman und Alexander Schwarz
Die Gleichheit vor dem Gesetz ist ein wesentliches Merkmal einer gerechten Gesellschaft, die sich darum bemüht, den innergesellschaftlichen Frieden zu sichern. Gerät ein Rechtssystem hier in eine deutliche Schieflage, so hat das Konsequenzen für die Möglichkeiten einer zivilen Konfliktbeilegung. Denn es verliert nicht nur das Recht seine normative Kraft, sondern es kommt zur kollektiven Abwendung und der Suche nach Gerechtigkeit außerhalb formaler Institutionen. Gerade in der derzeitigen Eskalation droht eine inkonsequente Rechtspraxis auch die Straflosigkeit weiterer Kriegsverbrechen zu ermöglichen.
Im Mai 2024 hat die israelische Regierung die Haftbefehlsanträge des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant mit der Begründung zurückgewiesen, Israel sei als Rechtsstaat selbst in der Lage, eine umfassende und unabhängige Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen zu gewährleisten. Dieser Selbstbeschreibung steht eine alarmierende Kultur der Straflosigkeit innerhalb des israelischen Rechtssystems gegenüber, deren Ursprünge bis in die Gründungsjahre des Staates zurückreichen. Dabei geht es weniger um Rechtlosigkeit im Sinne eines mangelnden Rechtsrahmens für schwerste Menschenrechtsverbrechen, sondern um Situationen in welchen – trotz vorhandener Menschenrechtsgarantien – selbst eklatante Verstöße straflos bleiben. Problem ist dabei nicht eine mangelnde Funktionsfähigkeit des israelischen Justizsystems an sich, sondern dass die Strafverfolgung staatlicher Akteure stets dann zur Ausnahme wird, wenn diese an Menschenrechtsverletzungen an der palästinensisch-arabischen Bevölkerung beteiligt sind.
Ein systemisches Problem
Israel gilt – obwohl formale Demokratie – als Land, in dem Menschenrechtsverletzungen an der arabisch-palästinensischen Bevölkerung eine systematische Dimension aufweisen: durch staatliche Sicherheitsorgane, die völkerrechtswidrige Kriegsführung des israelischen Militärs (vgl. Falk 2010, HRC 2009), das völkerrechtswidrige Besatzungsregime (ESCWA 2017), die systematische Diskriminierung eines »dualen Rechtssystems«, das die israelischen Einwohner*innen in den besetzten Gebieten zum Nachteil der palästinensischen privilegiert (HRC 2022, para. 47; CERD 2020, paras. 15, 22) und schließlich durch Vertreibungen, Enteignungen und Tötungen im Westjordanland (UNHCHR 2024a, para. 24). Dabei reichen die menschenrechtswidrigen Praktiken von Tötungen über Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Zwangsdeportation, Eigentumsverletzungen und Körperverletzung bis hin zu willkürlichen Festnahmen, Hausdurchsuchungen und -zerstörungen sowie Drohungen (FIDH 2022). Berichten von UNICEF zufolge befinden sich pro Jahr bis zu 700 palästinensische Kinder in israelischer Haft, die oft unter inhumanen Bedingungen und ohne angemessenen Zugang zu einem fairen Verfahren festgehalten werden (UNICEF 2013, Save the Children 2020). Die sogenannte »Administrativhaft«, die ohne richterliche Überprüfung, Anklage oder Urteil auskommt, kann nach dem israelischen Militärrecht auf unbestimmte Zeit verlängert werden, was als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung gilt (UNHCHR 2024c, para. 58 ff.).
Zahlreiche Berichte internationaler Organisationen belegen, dass die weitgehende Straflosigkeit dieser Menschenrechtsverletzungen in Israel seit Jahrzehnten zur Regel geworden ist (UNHCHR 2024b, para. 82, UNHCHR 2023, para. 52). Häufig kommt es, wenn überhaupt, nur vordergründig zu strafrechtlichen Ermittlungen, während die Erhebung von Anklagen ausbleibt oder Verurteilungen nur teilweise vollstreckt werden. Die langfristigen Folgen dieser Straf- und Rechtlosigkeit sind fatal. Dort wo Täter*innen nicht zur Verantwortung gezogen werden, schwinden die Chancen für Versöhnung und sozialen Frieden (Lederach 1997, S. 90ff.). Die Folgen dauerhaft enttäuschter Erwartungen an ein Rechtssystem, das sich dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz verweigert, führen zu zivilgesellschaftlicher Resignation. Dabei verliert das Recht nicht nur seine normative Kraft, sondern es kommt zur kollektiven Abwendung und der Suche nach Gerechtigkeit außerhalb formaler Institutionen (Bourdieu 1998, S. 114ff.). Langfristig trägt Straflosigkeit so zur Radikalisierung bei und wird zum Katalysator von Gewalt. Insofern stellt die jahrzehntelange Praxis anhaltender Straflosigkeit wenn auch nur eines, so doch ein zentrales Hindernis für eine Befriedung zwischen Israelis und Palästinenser*innen dar.
Gefahrenabwehr und Strafverfolgung oder Kampfhandlung?
Nach Zahlen des UN-Menschenrechtsrates wurden allein zwischen Januar 2017 und Oktober 2023 im völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland 934 Palästinenser*innen (darunter 218 Kinder) bei Einsätzen der israelischen Sicherheitskräfte getötet. Im Zusammenhang mit diesen Tötungen sind dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte bislang nur 105 strafrechtliche Ermittlungen bekannt, die im Zusammenhang mit Todesfällen vor Oktober 2022 eingeleitet wurden. Von diesen Ermittlungen wurden mindestens 33 ohne weitere Maßnahmen eingestellt und insgesamt nur fünf zur Anklage gebracht, von denen wiederum nur drei zu Verurteilungen führten (UNHCHR 2024b, para. 82).
Zur Verbesserung dieser Situation leisten auch die Ermittlungsrichtlinien der israelischen Sicherheitskräfte keinen Beitrag, die seit 2011 im Westjordanland gelten. Zwar verlangen diese eine sofortige Untersuchung von tödlichen Einsätzen (vgl. Turkel Commission 2013, S. 322). Ausnahmen von diesem Grundsatz sind aber stets dann vorgesehen, wenn der Vorfall im Rahmen einer Kampfhandlung (»combat«) erfolgte, wodurch die für die Gefahrenabwehr und Strafverfolgung in Friedenszeiten und somit nach menschenrechtlichen Grundsätzen zu beurteilenden Regeln mit den in bewaffneten Konflikten geltenden Regeln des humanitären Völkerrechts vermischt werden (vgl. UNHCHR 2023, para. 53 ff.).
Zwei ausgewählte Fälle veranschaulichen die hieraus folgenden Strafverfolgungsprobleme:
Am 6. Juli 2023 sprach das Bezirksgericht Jerusalem in Anwendung dieser »combat«-Ausnahmeregelung einen Grenzpolizisten frei, der am 30. Mai 2020 Ijad Al-Hallaq, einen 32-jährigen autistischen Palästinenser aus Ostjerusalem, getötet hatte, obwohl dieser zum Zeitpunkt seiner Tötung keine Bedrohung darstellte. Das Gericht stellte fest, dass der Angeklagte eine Entscheidung in Sekundenbruchteilen getroffen habe, die vom Beschuldigten als „integraler Bestandteil einer militärischen Kampfhandlung“ aufgefasst wurde, wobei der Polizist, nach Auffassung des Gerichts, die beiden Regelungsregime – polizeiliche Gefahrenabwehr und militärische Kampfhandlungen gegen militärische Ziele – vertauscht habe und die „Ausnahmeregelung für den bewaffneten Kampf“ auf die Gefahrenabwehr anwendete (UNHCHR 2021, paras. 17, 18).
Eine solche »combat«-Ausnahmeregelung wurde von den israelischen Behörden auch bei der Tötung der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shirin Abu Akleh am 11. Mai 2022 geltend gemacht, die von einem israelischen Soldaten erschossen wurde, während sie über eine Operation der israelischen Sicherheitskräfte im Flüchtlingslager Dschenin berichtete. Nachdem die Rechercheagentur Forensic Architecture (2022) zu dem Ergebnis kam, dass die Journalistin von einem israelischen Soldaten gezielt erschossen wurde, gaben die israelischen Streitkräfte am 5. September 2022 zu, dass die als solche eindeutig erkennbare Journalistin mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem ihrer Soldaten getötet wurde (IDF 2022). Allerdings haben die israelischen Behörden zum Tod Shirin Abu Aklehs weder strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet noch Anklage erhoben, da es sich um eine Gefechtssituation (»combat«) gehandelt habe. Wörtlich sagte der Generalstaatsanwalt des israelischen Militärs: „Es gibt keinen Verdacht auf eine Straftat“ (WELT 2022).
Die Fälle zeigen, dass die völkerrechtlich unzulässige Vermischung zweier unterschiedlicher Regelungsregime bei der Anwendung von Gewalt – Strafverfolgungs- bzw. Gefahrenabwehrmaßnahmen, die durch internationale Menschenrechte geregelt sind, und die unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten, die durch die Regeln des humanitären Völkerrechts bestimmt wird – einer der Gründe dafür ist, dass Todesfälle von Palästinenser*innen im Westjordanland und entlang der Grenze zum Gazastreifen nur selten untersucht werden. Sie sind zugleich Beispiel für die weitreichende Straflosigkeit, die israelische Sicherheitskräfte im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, genießen.
Mangelnder Wille, nicht Fähigkeit
Demgegenüber bestraft die Justiz Verstöße gegen nationale Strafvorschriften, wie etwa Korruptionstatbestände, mit unerschrockener Härte – wogegen auch hochrangige Politiker*innen nicht immun sind. Ein prominentes Beispiel ist der ehemalige Premierminister Ehud Olmert, der 2014 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Zuvor wurde 2011 der ehemalige Staatspräsident Mosche Katzav wegen Vergewaltigung verurteilt und inhaftiert. Im Jahr 2022 musste der damalige Innenminister Arie Deri nach einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung sein Amt niederlegen. Auch der aktuelle Prozess gegen Benjamin Netanjahu, der sich wegen Korruptionsvorwürfen verantworten muss, belegt, dass trotz eines anhaltenden bewaffneten Konflikts die juristische Aufarbeitung weitergeführt wird. Dies zeigt, dass die verbreitete Straflosigkeit von Taten gegen Palästinenser*innen weniger auf die mangelnde Fähigkeit, als vielmehr auf den mangelnden Willen zu einer ernsthaften Strafverfolgung zurückzuführen ist.
Israelische Staatsbeamte bestreiten diese Vorwürfe und verweisen auf Verurteilungen, die jedoch Ausnahmen darstellen und einer unverhältnismäßig hohen Zahl an Fällen von Straflosigkeit gegenüberstehen (eingehend dazu: B’Tselem 2016). Hinzu kommt, dass im Falle von Verurteilungen sowohl das beantragte als auch das festgelegte Strafmaß in der Regel in keinem Verhältnis zu den begangenen Taten steht. So beantragte am 16. August 2020 der Generalstaatsanwalt des israelischen Militärs eine Haftstrafe von drei zusätzlichen Monaten Militärdienst und drei Monaten Bewährung für einen israelischen Soldaten, der den 23-jährigen Palästinenser Ahmad Manasra erschossen hatte. Die »Strafe« erfolgte im Gegenzug zu einem Geständnis, dem der Soldat zugestimmt hatte. Am 20. März 2019 hatte der israelische Soldat den Palästinenser mit mehreren Schüssen in Brust und Schultern getötet, als dieser der Familie eines weiteren Palästinensers half, der unmittelbar nach einer Autopanne an einer Kreuzung in der Nähe des Dorfes El-Hadar bei Bethlehem von israelischen Sicherheitskräften angeschossen und schwer verwundet worden war (UNHCHR 2021, para. 16).
Historische Ursprünge der Straflosigkeit
Straflosigkeit hat sich in Israel seit seiner Gründung zu einem festen Bestandteil der Beziehungen zwischen der politischen Führung (der Regierung, weiter Teile der Knesset, auch relevanter Teile der Opposition) einerseits und der Armee, der Grenzpolizei und den Geheimdiensten andererseits entwickelt. Diese Konstellation ermöglichte es den Sicherheitsorganen, politische Ziele auch mit rechtswidrigen Mitteln und Gewalt durchzusetzen. Angesichts des Gewichts, das in Israel der Wehrfähigkeit des Landes für die Existenzsicherung beigemessen wird, ist dies kaum verwunderlich (vgl. zur Militarisierung auch den Beitrag von Bertolini et al. in dieser Ausgabe, S. 11).
Die Gewalt, zu der diese Straflosigkeit zweifelsohne beitrug, brach sich im Verhältnis des israelischen Staates zu den Palästinenser*innen immer wieder Bahn – und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um eigene Staatsbürger*innen handelte oder um Menschen, die ohne Grundrechte unter dem Regime der israelischen Militärbesatzung lebten. Als strukturelles Verhältnis etabliert und über mehrere Generationen normalisiert muss sie in vielen Fällen nicht als Ergebnis spontaner Übergriffe von außer Kontrolle geratenen Soldat*inn en verstanden werden, sondern als Ausdruck dieser gewaltförmigen Politik gegenüber jenen, die nicht in die zionistische Vision eines jüdischen Staates passen (vgl. Human Rights Watch 2021 und Amnesty International 2022).
Prägnante Beispiele für dieses gewaltförmige Verhältnis sind die Massaker, zu denen es im Verlauf der Suezkrise in Israel und kurz darauf im Gazastreifen kam. Noch am Tag des israelischen Angriffs auf Ägypten (Shlaim 1997) verhängte die israelische Regierung gemäß dem Geheimplan »Operation Maulwurf« Ausgangssperren über arabische Dörfer in der Region des sogenannten »Dreiecks« in Israel, die an das damals von Jordanien kontrollierte Westjordanland grenzte. Der Plan, dessen vollständiger Inhalt bis heute der Geheimhaltung unterliegt, sah im Kriegsfall Ausgangssperren, Massenverhaftungen und die Beschlagnahmung essentieller Besitztümer vor, um der dortigen palästinensischen Bevölkerung die Lebensgrundlagen zu entziehen und sie zur Flucht nach Jordanien zu drängen (Akevot 2023).
Als am Abend des 29. Oktober 1956 palästinensische Bewohner*innen des Dorfes Kufr Qassem unwissentlich gegen die in ihrer Abwesenheit verhängte Ausgangssperre verstießen, als sie von der Arbeit und den Feldern in ihr Dorf zurückkehren wollten, erschoss die israelische Grenzpolizei insgesamt 48 Menschen. Obwohl die Hauptbeteiligten zu Haftstrafen zwischen sieben und 17 Jahren verurteilt wurden, kamen alle nach höchstens drei Jahren frei. Der Befehlshaber der Einheit, Oberst Jisachar Shadmi, wurde nur unter öffentlichem Druck überhaupt vor Gericht gestellt, vom Mordvorwurf freigesprochen und letztlich lediglich wegen Kompetenzüberschreitung zu einer lächerlich niedrigen, rein symbolischen Geldstrafe verurteilt. Ein Zeuge der Verteidigung war der damalige israelische Generalstabschef Mosche Dajan, der knapp zehn Jahre später Verteidigungsminister wurde (vgl. Segev 2000, S. 298-302).
In dieser Zeit tötete die israelische Armee in Chan Junis und Rafah im südlichen Gazastreifen am 3. bzw. 12. November 1956 laut dem damaligen Sonderbericht des UNRWA-Direktors 275 bzw. 111 Menschen, die Mehrheit von ihnen registrierte Flüchtlinge. Außerdem sollen in der Zeit von 1. bis 21. November 66 weitere Personen „während kleinerer Zwischenfälle – manche während der Kämpfe, manche wegen Verstößen gegen Ausgangssperren, manche zufällig – getötet“ worden sein (UNGA 1956).
Kontinuitätslinien der Straflosigkeit
In der Folge etablierte sich ein Muster der Straflosigkeit. Die völkerrechtswidrige Deportationspolitik gegenüber politischen Führungsfiguren in den besetzten palästinensischen Gebieten nach 1967, unter Zuhilfenahme der britischen Notstandsregulierung 112 von 1945, wurde nicht juristisch verfolgt. Israel hatte die britischen Notstandsgesetze, die im Empire typischerweise in Kolonien zum Einsatz kamen, nach seiner Gründung übernommen. Nach dem Krieg von 1967 nutzte es sie zur gezielten Unterminierung palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung, indem potentielle Anführer des Landes verwiesen wurden. Die Regulierung 112 war bis 1992 in Gebrauch (vgl. Akevot o.J.). Hinzu kam die Vertreibung und Flucht von 250.000 bis 300.000 Menschen im Zuge dieses Krieges.
Ungesühnt blieb auch die Erschießung von sechs palästinensischen Bürgern Israels am 30. März 1976, die in Galiläa gegen die Enteignung arabischer Ländereien durch den Staat protestierten. Etwa 100 weitere verletzte die israelische Polizei (vgl. Bahour und Jiryis 2014).
Für die Tötung von 13 Demonstranten (zwölf israelische Staatsbürger und ein Gazaner) im Oktober 2000, die zu Beginn der zweiten Intifada gegen das Vorgehen des israelischen Staates und seiner Sicherheitskräfte gegen Palästinenser*innen unter Besatzung protestierten, wurde auch bald ein Vierteljahrhundert nach diesen Verbrechen niemand zur Rechenschaft gezogen (vgl. Adalah 2020).
Gesellschaftliche Akzeptanz
Bis zu welchem Grad die Straflosigkeit – anscheinend auch im öffentlichen Bewusstsein in Israel – schon vor Jahren normalisiert worden war, zeigten die Reaktionen auf den Prozess gegen Elor Azaria. Er hatte im März 2016 im besetzten Hebron vor laufender Kamera einen verletzten, bereits kampfunfähig am Boden liegenden Palästinenser per Kopfschuss exekutiert, der zuvor einen anderen Soldaten mit einem Messer angegriffen hatte. Das Video der Hinrichtung wurde weit verbreitet, und die israelische Staatsanwaltschaft kam nicht umhin, Azaria den Prozess zu machen. Dagegen liefen große Teile der Öffentlichkeit Sturm, ein Teil feierte den Soldaten für seine Tat als Helden (Times of Israel 2017). Selbst Politiker intervenierten, darunter Benjamin Netanjahu, der sich als Premierminister öffentlich für Azarias Begnadigung aussprach (vgl. Gross und TOI-Staff 2017).1 Verurteilt wurde der Soldat für Totschlag (nicht wegen Mordes) zu 18 Monaten – eine Strafe, die nachträglich zweimal verringert wurde, um ihn schließlich vorzeitig aus der Haft zu entlassen, damit er an der Hochzeit seines Bruders teilnehmen konnte (Der Spiegel 2018).
Die öffentliche und die politische Reaktion auf den Versuch der israelischen Militärpolizei, im Juli 2024 Soldat*innen in der Basis Sde Teiman in Gewahrsam zu nehmen, um sie wegen schwerster Foltervorwürfe an palästinensischen Gefangenen zu befragen, sprach Bände. Die Untersuchung wurde als Verrat an der Armee porträtiert, die das Land im Überlebenskampf verteidige (Times of Israel 2024). Das gewaltsame Eindringen in die Basis durch Protestierende, um die Militärpolizei aktiv zu behindern und zu bedrohen, kann deshalb kaum überraschen.
Die völkerrechtswidrige Vorenthaltung von humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza wird bis auf den heutigen Tag trotz mehrmaliger rechtsverbindlicher Anordnungen (ICJ 2024, para. 52) seitens des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag im Januar, März und Mai 2024 durch die israelische Armee aufrechterhalten und sogar durch offizielle Stellen öffentlich bestätigt.2 Der Vorwurf des Aushungerns der Zivilbevölkerung war bei der Beantragung der Haftbefehle gegen Premier Netanjahu und gegen Verteidigungsminister Gallant zentral.3 Dass die israelische Militärpolizei im Fall der Foltervorwürfe überhaupt aktiv wurde, dürfte dieser Entwicklung geschuldet sein, wobei die Ausstellung der im Mai 2024 beantragten Haftbefehle bis dato nicht erfolgt ist (vgl. Ambos in dieser Ausgabe, S. 34).
Israel verwehrt sich unter Verweis auf die eigene funktionierende Justiz den internationalen Ermittlungen und kündigte eigene an, sodass nach dem Grundsatz der Komplementarität der IStGH seine Ermittlungen zurückstellen müsse. Die deutsche Bundesregierung ist Israel in dieser Frage beigesprungen und hat im August 2024 in einer Stellungnahme zugunsten Israels argumentiert, dem israelischen Rechtsstaat müsse mehr Zeit für die eigene Strafverfolgung gegeben werden (ICC 2024). Unabhängig davon, dass der von Israel und Deutschland vorgebrachte Komplementaritätseinwand nicht greift (vgl. Ambos 2024), ist fraglich, woher die Bundesregierung vor dem Hintergrund der bestenfalls defizitären Bilanz des israelischen Justizsystems die Zuversicht nimmt, das israelische Rechtswesen werde ernsthaft gegen den eigenen Staat ermitteln und seine Organe in strafrechtlicher Hinsicht gegebenenfalls auch zur Rechenschaft ziehen.
Anmerkungen
1) Auch die ehemalige Vorsitzende der Arbeitspartei, Shelly Jachimowitsch, schloss sich damals der Forderung nach einer Begnadigung an (Wootliff 2017).
2) Die Vereinten Nationen gehen von einem Mindestbedarf von 500-600 LKW-Ladungen pro Tag aus, die in Gaza benötigt werden, um der Katastrophe auch nur einigermaßen Herr zu werden. Die Regierung bestätigte nun in einem vor dem Obersten Gerichtshof in Israel anhängigen Verfahren, das von mehreren medico international-Partnern angestrengt wurde, dass sie „zwei Wochen lang absichtlich und wissentlich den Zugang zu humanitärer Hilfe für die geschützte Bevölkerung im Norden des Gazastreifens verhindert hat und dass sie den Bewohner*innen von Jabalia auch jetzt noch Hilfe vorenthält.“ (gisha.org/en/aid-access-now)
3) Der Vorwurf lautet auf Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Konkret geht es bei den Vorwürfen um die Art und Weise der israelischen Kriegsführung, den Vorwurf des gezielten Aushungerns der Zivilbevölkerung in Gaza sowie der Verfolgung der palästinensischen Zivilbevölkerung (vgl. ICC-OTP 2024).
Literatur
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Riad Othman ist Nahostreferent der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.
Alexander Schwarz ist Jurist und leitet beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) stellvertretend den Programmbereich Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung.

