W&F 2023/3

Strukturelle Nichtverteidigbarkeit

Zur Aktualität der Verletzbarkeit moderner Industriestaaten

von Rolf Bader1

Wer vor einem Krieg abschrecken will, muss ihn kämpfen können, lautet die gültige Maxime der militärischen Sicherheitspolitik. Landesverteidigung ist aber nur dann sinnvoll und gegenüber der eigenen Bevölkerung zu verantworten, wenn das, was verteidigt werden soll, nicht zerstört wird. Militärische Verteidigung moderner Industriestaaten ist dabei allerdings in einem unüberwindbaren Widerspruch gefangen – denn sie sind strukturell nicht verteidigbar.2 Zu militärischen Verteidigungsansätzen müssen also tragbare Alternativen entwickelt und propagiert werden.

Die Bundeswehr müsse wieder befähigt werden, ihren eigentlichen Auftrag der Landesverteidigung erfüllen zu können, so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede kurz nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022. Folglich muss die heutige Sicherheitspolitik mit dem Fokus auf Landesverteidigung auch die Frage nach dem Überleben einer Gesellschaft im »Verteidigungsfall« überzeugend beantworten können. Wenn sich nämlich zeigen ließe, dass der Fortbestand des Lebens durch die Anwendung militärischer Gewalt (nicht nur durch einen Atomschlag) gefährdet wird, wären militärische Verteidigungsstrategien ein existentielles Risiko und somit keine überzeugende oder gar zulässige Option für Verteidigung.

Im Dezember 1988 gründete sich auf der Tagung der Naturwissenschaftler*innen-Initiative »Verantwortung für den Frieden e.V.« in Tübingen eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die es sich zur Aufgabe machte, die zivile Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften primär in Europa zu untersuchen und aus den Ergebnissen sicherheitspolitische Konsequenzen abzuleiten.

Es war die Zeit des Kalten Krieges. Hochgerüstet standen sich in Mitteleuropa entlang der deutsch-deutschen Grenze die Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes gegenüber. Im Falle eines Krieges wären beide deutschen Staaten unmittelbares Schlachtfeld gewesen. Deshalb bemühte sich die Tübinger Forschergruppe auch um den Kontakt und den Austausch mit einer ähnlichen Arbeitsgruppe in der DDR, die dem Rat für Friedensforschung an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin angegliedert war. Der Leipziger Chemiker Karlheinz Lohs referierte schon 1987 auf einem Kongress der IPPNW in Essen über die Risiken, die von industriellen Ballungsräumen der Stoff- und Energiewirtschaft ausgingen. Seine Expertise half bei der Untersuchung der Gefahrenpotentiale der chemischen Großindustrie unter Kriegseinwirkung.

Zivile Verwundbarkeit

Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation. Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist.

Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems. Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig (vgl. BBK 2023, BSI 2022). Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen. Diese Gefahr wurde der Mehrheitsbevölkerung abrupt sichtbar, als mit der Sprengung des Staudamms von Kachowka Anfang Juni 2023 in den besetzten Gebieten der Ukraine die Kühlkette des größten europäischen Atomkraftwerks unterbrochen zu werden drohte.

„Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und ‚intelligenten‘ Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann.“ (Knies 1988, S. 81)

Ohne diese Infrastruktur sind Indus­triestaaten weitgehend handlungsunfähig. Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte elektronische und elektrisch gesteuerte Infrastruktur (bspw. Pipelines, Kraftwerke usw.) lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich beeinträchtigen. Um aber die wichtigsten und großen Elektrizitätswerke und die Schaltzentralen zu zerstören, bedarf es keiner Atomwaffen. Es reichen »chirurgische« Einsätze mit zielgenauen konventionellen Waffen – auch dies wurde im Verlauf des Krieges in der Ukraine mit gezielten Angriffen auf Elektrizitäts- und Umspanneinrichtungen deutlich. Nicht nur den wichtigen Industrieanlagen, auch den lebenswichtigen Bereichen der Trinkwasser-, Fernwärme- und Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung droht in solchen Fällen der Kollaps. Eine hochindustrialisierte Zivilisation ohne Stromversorgung bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens.

Schon 2010 formulierte das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag, dass ein längerer Stromausfall in Deutschland und „die dadurch ausgelösten Folgen […] einer nationalen Katastrophe gleich[käme]. Diese wäre selbst durch eine Mobilisierung aller internen und externen Kräfte und Ressourcen nicht beherrschbar, allenfalls zu mindern.“ (Petermann et al. 2010, S. 237) Es zeigt sich also, dass es völlig ausreicht, nur die lebenswichtigen Nervenzellen der Industriestaaten zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen.

Verschränkte Risiken

Hier liegt nun eine Verschränkung mit der gleichzeitigen Komplexität und Vernetzung von Industriegesellschaften vor, die schon in Friedenszeiten ein erhebliches potentielles Risiko allgegenwärtig werden lässt: Industriekomplexe sind vor allem in der Nähe von Großstädten und Ballungszentren angesiedelt. Bei technischen Unfällen können diese das Leben vieler Menschen gefährden. Die Katastrophen von Seveso (Italien 1976), Bophal (Indien 1984), Tschernobyl (Sowjetunion/Ukraine 1986) und Fukushima (Japan 2011) sind Indizien für die Gefährlichkeit, die von Großtechnologien ausgehen kann. Die Flucht und Betroffenheit abertausender Menschen im direkten Umfeld der Industrieansiedlungen zeigt die Risiken der zivilen Verwundbarkeit deutlich auf. Industriekatastrophen dieser Art kennen weder nationale Grenzen noch soziale Schranken. Sie kennen nicht einmal zeitliche Grenzen und können Generationen von Menschen treffen. Die Irreversibilität der erzeugten Folgen ist ein wesentliches Novum.

Beispiel Chemieindustrie

Die geographische Betrachtung der industriellen Struktur Europas zeigt, welches Ausmaß die Ansiedelung chemischer Industrieanlagen vorrangig am Rand oder in der Nähe dicht besiedelter }Gebiete erreicht hat. Die Zentren der chemischen Industrie erstrecken sich von Norditalien bis an die Rhein- und Elbemündungen.

In den Industrieregionen der Chemie werden heute nichtmilitärische Giftstoffe als Vor-, Zwischen- oder Finalprodukte in großen Mengen hergestellt, weiterverarbeitet, gelagert und transportiert. Die Beherrschbarkeit der von der chemischen Industrie ausgehenden Risiken ist nur unter Friedensbedingungen realisierbar.

Schon 1988 dokumentierte der Chemiker und Toxikologe Prof. Karlheinz Lohs am Beispiel der Stoffe Chlor, Phosgen und Zyanwasserstoff, dass durch eine Zerstörung chemischer Großanlagen aus einem „EUROCHEMIA ein EUROSHIMA“ entstünde (Lohs 1989, S. 38). Die Produktionskapazitäten lagen schon damals für Chlor bei 25 Mio. Tonnen, für Phosgen bei 1,5 Mio. Tonnen und für Zyanwasserstoff bei 600.000-700.000 Tonnen im Jahr.

Ökozid als Kriegsstrategie

Aktuell droht in der Ukraine ein Umweltkrieg, der zu einem Ökozid werden könnte. Am Zugang zur Krim liegt eines der größten Chemiekombinate Europas. Im Krymskj-Titan-Werk werden Titandioxyd und andere hochgiftige Chemikalien produziert. Zehntausende Tonnen des hochexplosiven Ammoniaks sind dort gelagert. So wie Karlheinz Lohs schon 1988 nachwies, würde ein Einsatz konventioneller Waffen – z.B. ein Artilleriebeschuss – zu einer Explosion führen, die hunderte Quadratkilometer der Ukraine verseuchen würden.

Die mit Sprengung des Kachowka-Damms – sehr wahrscheinlich durch die russische Armee – verursachte Flutkatastrophe forderte Menschenleben und überschwemmte weite Gebiete, Dörfer und Städte entlang des Dnipro. Die mit­angeschwemmten Gift- und Explosionsstoffe – u.a. Pestizide, Schwermetalle und Minen – verseuchten zehntausende Hektar Land, die auf Jahre landwirtschaftlich nicht mehr nutzbar sein werden. Der Ökozid ist inzwischen nicht nur eine Kriegsfolge, sondern eine praktizierte Strategie der Militärs.

Beispiel Atomenergie

Ein weiteres Risiko sind die rund 110 Reaktorblöcke in 13 Staaten der Europäischen Union, die aktuell noch in Betrieb sind (BMK 2023). Obwohl immer wieder behauptet wird, der Schutzmantel der Reaktorblöcke wäre auch bei einer direkten Einwirkung konventioneller Waffen noch intakt, sind Zweifel angebracht. Es ist eher davon auszugehen, dass mit einer Beschädigung zu rechnen ist. Moderne panzerbrechende Waffen mit einer wesentlich höheren Durchschlagsleistung und Sprengstoffmenge könnten bei einem Direktbeschuss einen Bruch des Schutzmantels bewirken (vgl. Greenpeace 2010). Die Gefahr einer Kernschmelze besteht im Kriegsfall auch schon bei einem längeren Ausfall der Stromversorgung und der Kühlung der Reaktoren (wie im oben diskutierten Fall des ukrainischen Kernkraftwerkes Saporischschja vielfach sichtbar wurde).

Die Analyse ließe sich mit etwa gleichen Resultaten auf alle weiteren Lebensbereiche ausdehnen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Transport-, Kommunikations- und Informationsbereich, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft bei einem Waffeneinsatz mit großen, vielleicht sogar irreversiblen Schäden zu rechnen.

Dies wirft Fragen auf: Ist die Störanfälligkeit und existentielle Verwundbarkeit hochindustrialisierter Staaten grundsätzlich reduzierbar? Gibt es realistische Szenarien und Maßnahmen, diesen Zustand durch eine Reduzierung der Gefahrenpotentiale, durch technische Maßnahmen oder durch einen verstärkten, verbesserten Zivilschutz aufzuheben? Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik gibt es sicher Möglichkeiten, durch Redundanz die Störanfälligkeit des Gesamtsystems zu mindern. Auch durch Zivilschutzmaßnahmen ließen sich Schäden und gravierende Störungen reduzieren. Ein flächendeckender Schutz ist nach Einschätzung des Büros für Technikfolgenabschätzung aber nicht realisierbar (vgl. Petermann et al. 2010) – und eine weitere Versicherheitlichung und Militarisierung kritischer Infrastruktur sind auch nicht sinnvoll. Die Verwundbarkeit moderner Industriestaaten ist also eine unumgängliche Faktizität: Die Staaten und ihre Gesellschaften sind nur noch unter Friedensbedingungen lebens- und funktionsfähig.

Militärische Landesverteidigung – ein existentielles Risiko ?

Ein konventioneller Verteidigungskrieg aber scheint nach Überzeugung hochrangiger Militärs und Fachpolitiker*innen immer noch mit kalkulierbarem Risiko führbar, zumal nur begrenzte Kollateralschäden durch den Einsatz konventioneller Waffen entstünden. Die Zerstörungswirkung wird verharmlost, um ein entsprechendes Kriegsbild mit noch tragbaren Opfern aufrechterhalten zu können.

Ein auf das Schlachtfeld begrenztes Szenario (wie zuletzt im I. Weltkrieg) ist völlig unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Evakuierungspläne für Millionen Menschen aus? Wie viele Millionen flüchtender Menschen werden einkalkuliert? Ist eine medizinische Versorgung von hunderttausenden verletzten Soldat*innen und Zivilist*innen überhaupt realisierbar?

An der Scheidelinie zwischen der NATO und Russland stehen sich hochgerüstete Streitkräfte gegenüber. Waffenarsenale aller Art – konventionell wie atomar – könnten bei einem Versagen der Abschreckung im Verteidigungsfall in Europa eingesetzt werden. Und auch schon unterhalb der Ebene der atomaren Eskalation zeigen sich hier existentielle Gefahren.

Denn in den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich weitgehend alle Parameter der konventionellen Waffentechnik deutlich verschoben: vor allem durch die Steigerung der Reichweite, der Durchschlagskraft und Zerstörungswirkung im Zielbereich. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Vernichtungswirkung konventioneller Waffen auf einer immer größeren Fläche. Die Schäden, die durch den massenhaften Einsatz dieser Flächenwaffen hervorgerufen werden, töten und verletzen nicht nur Soldat*innen auf dem Gefechtsfeld sondern auch die betroffene Zivilbevölkerung.3 In den konventionellen Kriegen wird das Sterben zunehmend vergesellschaftet. Die Unterscheidung zwischen Kombattant*in und zu schützender Zivilperson trägt nicht mehr. Auch scheint es zunehmend weniger Hemmungen kriegführender Parteien zu geben, Infrastruktur zu vernichten (Gebäude usw.), obwohl im Kriegsvölkerrecht klar geächtet.

Widersprüche der militärischen Verteidigung

Die NATO-Staaten haben sich entschlossen, als Reaktion auf den verbrecherischen russischen Angriff auf die Ukraine ihre Streitkräfte massiv aufzurüsten. Dem Aggressor soll damit abschreckend vor Augen geführt werden, dass ein Krieg und der Angriffskrieg im Besonderen keinen Erfolg haben wird. Diese Strategie der Wehrhaftigkeit scheint die einzige Option zu sein, der Aggression erfolgreich begegnen zu können. Das kann durchaus gelingen – birgt aber unkalkulierbare Risiken. Der Krieg kann jederzeit eskalieren.

Überall dort, wo die Waffen zum Einsatz kommen und ihre vernichtende Wirkung ausbreiten können, bleibt verbrannte Erde zurück. Das belegen schon die Kriege in weniger hochindustrialisierten Staaten, wie im Irak, in Syrien, in Afghanistan. Nicht zuletzt jedoch zeigt eben auch der Krieg in der Ukraine die Auswirkungen dieser strukturellen Nichtverteidigbarkeit. Von den betroffenen Städten bleiben nur noch Ruinen übrig. Die Zivilbevölkerung lebt nach den Angriffen in einem Stadium des »Vegetierens« – ohne Strom, Wasser, Versorgung, in den Resten der Ruinen (im Winter in feuchter Kälte). Zivile Katastrophenhilfe nach Angriffen kann dieses Leid nur begrenzt lindern – und im schlimmsten Fall massiver Angriffe gar nicht darauf reagieren. Krieg bedeutet Tod, Verstümmelung und schlimmste Verletzungen an Leib und Seele.

Eine Demokratie wehrhaft militärisch nach außen zu verteidigen klingt zwar sehr plausibel, trägt aber dieses unauflösbare Dilemma in sich: Aus der Synergie von Vulnerabilität und vernichtender Waffenwirkung resultiert die »Strukturelle Nichtverteidigbarkeit« moderner Industriestaaten. Sie stellt die Sinnhaftigkeit einer militärischen Wehrhaftigkeit, die auf Verteidigung mit Waffengewalt baut, grundsätzlich in Frage. Deshalb bedarf es eines Instrumentariums, das über Krisenprävention und Diplomatie zwischenstaatliche Konflikte entschärft und zur Deeskalation erfolgreich beiträgt, sowie Mitteln der Wehrhaftigkeit ohne Waffen.

Von der Nichtverteidigbarkeit zur »Kultur des Friedens«

Das Dilemma der Nichtverteidigbarkeit ruft also dazu auf, präventiv Krieg zu verhindern. Um dies erfolgreich tun zu können, bedarf es einer Renaissance der UN-Charta von 1945, spezifisch ihres Friedensgebotes. „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ (Kapitel I, 2 UN-Charta)

Es bedarf einer strategischen Allianz von (auch und vor allem hochindustrialisierten) Mitgliedsstaaten in der UN, die aus dem Dilemma der Nichtverteidigbarkeit agieren und sich gegen den Widerstand der aktuell stark als Vetoakteure auftretenden Staaten USA, Russland und China durchsetzen können. Dazu gehören auch blockfreie Staaten aus Asien, Südamerika und Afrika. Dass dies gelingen kann, belegen eine Reihe von Abkommen, die durch die UN-Vollversammlung beschlossen wurden, auch gegen den organisierten Widerstand: beispielsweise das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition von 1999 oder auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002; prominent und von großer Relevanz sind ebenso das Pariser Abkommen zum Klimaschutz von 2015 und der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), der am 22.01.2021 in Kraft trat (vgl. Zumach 2021, S. 16). Bei der Gewichtung strategischer Ziele der UN haben die Verhinderung eines Atomkrieges und die Eindämmung des Klimawandels höchste Priorität, weil sie die Existenz des Lebens bedrohen.

Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung sind und bleiben auch zukünftig eine zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen und der Mitgliedsstaaten. Es bedarf verstärkt diplomatischer Initiativen, um Verhandlungen zu befördern. Besonders der Generalsekretär der UN ist gefordert, diesen Prozess anzustoßen. Diese und weitere Maßnahmen müssten zusammengefügt eine Kultur des Friedens zu etablieren helfen – wie es dazu in der Erklärung einer Arbeitsgruppe in Deutschland schon in den 1980er Jahren hieß:

„Aus der Erfahrung zu lernen heißt, die zerstörerische Idee des Krieges aus den Köpfen der Menschen weltweit zu verbannen, damit die Idee einer Kultur des Friedens Raum in ihrem Bewusstsein finden kann. Kultur des Friedens bedeutet Gegenentwurf zu einer Welt mit Krieg, Hunger, Hass, Ausbeutung, Zerstörung der Natur und der menschlichen Persönlichkeit“ (Abschlussproklamation für eine Kultur des Friedens, Internationaler Kongress „Kultur des Friedens“, Tübingen 6.-8.5.1988).4 Eine solcherlei verstandene Kultur des Friedens kann dann gleichermaßen eine Alternative präventiver Deeskalation schaffen helfen, die einer Welt struktureller Nichtverteidigbarkeit angemessen ist.

Anmerkungen

1) Der Autor dankt dem verantwortenden Redakteur von W&F, David Scheuing, sehr für seine vielfältigen Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag, die diesen wesentlich verbessert haben.

2) Die Wortschöpfung »Strukturelle Nichtverteidigbarkeit« stammt von Michael Kortländer, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Psychologie und Friedensforschung e.V. (IPF) in München, um dem Konzept der »Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« des Instituts für Sicherheitspolitik und Friedensforschung der Universität Hamburg (IFSH) ein Pendant gegenüberzustellen. »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« forderte eine Streitkräftestruktur, die konzeptionell und in der Waffenausrüstung auf effiziente Verteidigung und militärische Abhaltung ausgerichtet ist. Es entwickelte sich in der Folge ein kritischer Diskurs und wertvoller Austausch beider Friedensforschungsinstitute.

3) Die Mehrfach-Raketenwerfer MARS der Bundeswehr und HIMARS der US-Streitkräfte können pro Rakete eine Fläche von ca. 1,3 km² (ca. 185 Fußballfelder) abdecken. Sie haben eine Reichweite bis zu 80km. Die Artilleriesysteme (u.a. die Panzerhaubitze 2000) werden im Verbund mit Luftstreitkräften eingesetzt. Teilweise wird sogar Uranmunition verwendet.

4) Im Mai 1988 trafen sich in Tübingen Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen, um einen Gegenentwurf zu unserer bedrohten Welt zu entwickeln. Zu ihnen gehörten u.a. Mikis Theodorakis, Tschingis Aitmatov, Robert Jung, Christa Wolf und Hans Peter Dürr. Die von ihnen proklamierte »Kultur des Friedens« zielt auf Konfliktlösung über Dialog und Diplomatie. Sie basiert auf der Achtung vor dem Leben, der menschlichen Würde und den Menschenrechten.

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) (2023): Cybergefahren. Homepagebeitrag, bbk.bund.de.

Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) (2022): Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland. BSI-LB22/511, bsi.bund.de.

Greenpeace (2010): Terrorangriff mit einer panzerbrechenden Waffe (AT-14 Kornet-E) auf (ältere) deutsche Atomkraftwerke Bericht, gekürzte Fassung. Erstellt von Dipl.-Physikerin Oda Becker, im Auftrag von Greenpeace Deutschland e.V.

Knies, G. (1988): Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit? S+F 2/88, S. 81-87.

Lohs, K. (1989): Risikopotential Chemie. Wissenschaft und Frieden 1/89, S. 37-38.

Österreichisches Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) (2023): Kernenergie in der EU, Webseite des Ministeriums, bmk.gv.at.

Petermann, T. et al (2010): Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung. Endbericht zum TA-Projekt. Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Arbeitsbericht Nr. 141, November 2010.

Zumach, A. (2021): Reform oder Blockade – Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunkt Verlag.

Rolf Bader, Dipl. Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr und ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der IPPNW, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vorstandsmitglied am ehem. Institut für Psychologie und Friedensforschung e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/3 Gesellschaft in Konflikt, Seite 42–45