W&F 2015/2

Syrien nicht im Stich lassen!

von Robert Lindner

Die Kämpfe in Syrien nehmen kein Ende; über vier Jahre dauert die humanitäre Krise bereits. Mehr als elf Millionen Menschen – über die Hälfte der syrischen Bevölkerung – benötigt Hilfe zum Überleben. Etwa 7,6 Millionen sind im eigenen Land vor der Gewalt auf der Flucht, vier Millionen sind ins Ausland geflohen. In Syrien selbst leben 200.000 Menschen in belagerten Städten, wo sie unter Hunger leiden und kaum Zugang zu Trinkwasser haben. Immer mehr Menschen erreicht noch nicht einmal Nothilfe: 4,8 Millionen halten sich derzeit in Gebieten auf, die von den Vereinten Nationen (UN) als schwer zugänglich definiert werden. Vor unser aller Augen spielt sich in Syrien eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der Gegenwart ab. Dennoch gilt die Aufmerksamkeit von Regierungen und Öffentlichkeit vor allem dem Krieg und dessen Akteuren. Das alltägliche Leid der normalen Menschen, die nichts mit der Gewalt zu tun haben, kommt hingegen viel zu kurz.

Inzwischen hat die Krise längst über das Bürgerkriegsland Syrien hinaus auf die ganze Region übergegriffen. In einigen Nachbarländern gibt es zunehmend Spannungen zwischen der dortigen Bevölkerung und den Flüchtlingen, die um Jobs sowie den Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Bildung konkurrieren. Zum Beispiel im Libanon oder in Jordanien, wo derzeit etwa jeder vierte Einwohner ein syrischer Flüchtling ist. Dort stehen als Folge der enormen Zuwanderung die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme unter enormem Druck, und auch unter Bürgerinnen und Bürgern der Gastgeberländer nehmen Not und Armut zu. Einige Staaten riegeln deshalb ihre Grenzen immer weiter ab und lassen viele Flüchtlinge gar nicht mehr ins Land. Diese Menschen befinden sich in einer besonders prekären Situation, da sie schutzlos Angriffen ausgesetzt sind und kaum Nothilfe erhalten.

Die Vereinten Nationen und einflussreiche internationale Staaten haben nach wie vor kein Mittel gefunden, die Krise zu beenden oder zumindest den schutzlosesten Menschen in Syrien und in der Region ausreichende Hilfe zukommen zu lassen. Die UN-Nothilfeaufrufe sind chronisch unterfinanziert. Während der humanitäre Bedarf immer weiter ansteigt – verglichen mit 2013 ist er heute dreimal so hoch –, sind die Hilfsbemühungen immer unzureichender. Im März waren von den 8,7 Milliarden US$, die laut Berechnungen von UN und internationalen Hilfsorganisationen für die dringendsten Nothilfemaßnahmen 2015 benötigt werden, erst knapp zehn Prozent gedeckt.

Alle bisherigen politischen Initiativen für einen umfassenden Friedensschluss sind gescheitert, zuletzt in Genf im Februar 2014. Örtlich begrenzte Waffenstillstände, über die aktuell verstärkt diskutiert wird, können in bestimmten Fällen zumindest kurzzeitige Erleichterung für die Zivilbevölkerung bringen. Solche Kampfpausen haben jedoch in der Vergangenheit die Lage oft nicht nachhaltig verbessert, manche wurden sogar von Konfliktparteien für politische oder militärische Ziele missbraucht. Es ist deshalb unabdingbar, dass jegliche Friedensverhandlungen strikt auf Grundlage des humanitären Völkerrechts geführt werden. Auch wäre mehr internationale Unterstützung nötig, etwa durch unabhängige Vermittler und Überwacher. Schließlich muss die örtliche Zivilgesellschaft, also die von der Gewalt primär betroffenen Menschen, von Anfang an in Friedensbemühungen einbezogen werden.

Die Bilanz der internationalen Anstrengungen, die Krise zu beenden oder auch nur zu lindern, ist enttäuschend. In mehreren UN-Resolutionen, zuletzt im Februar 2014, forderte der Sicherheitsrat die Kriegsparteien dazu auf, Hungerblockaden zu beenden, Zivilisten und Helfer nicht anzugreifen und mehr humanitäre Hilfe zuzulassen. Doch umgesetzt wurde davon bislang so gut wie nichts. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Unfähigkeit oder der mangelnde Willen internationaler Mächte, Einfluss auf Verantwortliche der Krise in Syrien und in der Region auszuüben.

Was könnte ansonsten getan werden? Verglichen mit der Last, die zum Beispiel ein winziges Land wie der Libanon zu tragen hat, haben reiche Staaten in Europa und anderswo verschwindend wenige syrische Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Oxfam und andere Nichtregierungsorganisationen fordern deshalb reiche Länder außerhalb der Region auf, mindestens fünf Prozent aller registrierten syrischen Flüchtlinge humanitäre Aufnahme zu gewähren. Deutschland hat innerhalb Europas – auch gemessen an seiner Größe und Wirtschaftskraft – bisher am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Doch hat unser Land während der Balkankriege bewiesen, dass es in der Lage wäre, wesentlich mehr zu leisten.

Robert Lindner ist Syrienreferent von Oxfam Deutschland e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/2 Technikkonflikte, Seite 5