W&F 2013/4

Syrien

Vorrang für zivil oder Spielball internationaler Politik?

von Christine Schweitzer und Andreas Buro

Der Konflikt in Syrien begann als ein ziviler Aufstand, ähnlich den Aufständen in Nordafrika und anderen arabischen Ländern. Aber er schlug schnell in einen Bürgerkrieg um, in dem diejenigen, die mit gewaltlosen Mitteln ein demokratisches und multikulturelles Syrien schaffen wollten, längst marginalisiert sind. Seit März 2011 sind über 100.000 Menschen getötet und bis zu acht Millionen vertrieben worden; zwei Millionen dieser Vertriebenen halten sich als Flüchtlinge in völlig überlasteten Lagern in den Nachbarländern Syriens auf. Aber es war nicht das Elend dieser Menschen, was die Bereitschaft einiger westlicher Staaten zu einem Militäreinsatz weckte, es war – zumindest vordergründig – der Einsatz von Giftgas.

In der Nacht zum 21. August 2013 sind in der Region Ghuta nahe Damaskus bei einem Giftgaseinsatz zwischen 350 und 1.400 Menschen ums Leben gekommen, 3.600 wurden verletzt.1 Was danach folgte, hatte alle Elemente eines Politthrillers. Am 25.8 sprach Obama zunächst von einer „gründlichen Prüfung der Vorwürfe und aller Optionen“,2 allerdings stellte sein Außenminister schon einen Tag später mit martialischen Worten einen begrenzten Militärschlag in den Raum. Frankreich und Großbritannien erklärten sich sofort bereit, gemeinsam mit den USA militärisch zu handeln, notfalls auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Andere Länder, darunter auch Deutschland, teilten hingegen mit, dass sie sich auf keinen Fall an einem Militärschlag beteiligen würden.

Schnell wurden Zweifel laut. Nicht nur die Friedensbewegungen in den USA und Europa, sondern auch Medien, Stimmen aus dem Militär selbst und politische BeobachterInnen fragten nach Sinn und Zweck eines solchen Eingreifens und verwiesen auf die schlecht berechenbaren Konsequenzen. In den USA sprachen sich in Meinungsumfragen 59% gegen einen Militärschlag aus. Selbst Think-tanks wie die International Crisis Group, die in der Vergangenheit für manche Krisen durchaus auch militärische Optionen empfahl, warnten: Ein Militärschlag sei gefährlich und kaum im Interesse des syrischen Volkes.3

Die konzertierte Kritik zeigte Wirkung: Zuerst erklärte der britische Premierminister Cameron, er wolle nur mit Zustimmung des Parlaments handeln, und dann kündigte Obama an, dass er auch die Zustimmung der beiden Kammern seines Parlaments (Kongress und Senat) einholen werde. Die Abstimmung im britischen Unterhaus war für Cameron ein Desaster: Die Mehrheit stimmte am 29.8. gegen einen Militäreinsatz.

Während sich der Angriff, der ursprünglich noch vor dem G20-Gipfel in St. Petersburg in der ersten Septemberwoche erwartet wurde, verzögerte, wurde sein Charakter immer diffuser. Anfänglich war von einem kurzen, vielleicht zweitägigen gezielten Angriff aus der Luft auf Militäreinrichtungen des Assad-Regimes die Rede (unter Aussparung der Chemiewaffendepots), also einer reinen Strafexpedition ohne entscheidenden Einfluss auf den Bürgerkrieg im Land. Später erklärte sich der US-Senat bereit, einen bis zu 60-tägigen Luftangriff mit einer Verlängerungsoption für weitere 30 Tage zu billigen. Und Außenminister Kerry sprach in einer Pressekonferenz am 3.9. davon, dass auch Bodentruppen nicht ausgeschlossen werden könnten, sofern die Gefahr bestünde, dass Chemiewaffen in die Hände von Extremisten fallen könnten. Kurz danach nahm er diese Aussage wieder halb zurück.4

Bei dem G20-Gipfel in St. Petersburg, der am 6. September endete, konnten die USA und Russland keine gemeinsame Position finden. Die verhärtete Haltung zwischen Ost und West wurde sichtbar, als die anwesenden EU-Länder Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen mit der Türkei, Japan, Australien, Kanada und Südkorea ein gemeinsames Statement verabschiedeten, in dem sie die Angriffspläne der USA als Antwort auf Giftgasangriffe in Syrien unterstützen: „Wir fordern eine starke internationale Antwort auf diese schwerwiegende Verletzung internationalen Rechts […], die deutlich macht, dass derartige Gräueltaten sich nicht wiederholen können […]“ und „Diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.“.5 Deutschland schloss sich der Erklärung erst einen Tag später an mit der Begründung, man habe erst einmal eine einheitliche Position der EU abwarten wollen. Diese ließ auf ihrem Gipfel in Vilnius am 7.9. verkünden, sie appelliere an Obama, zunächst das Ergebnis der UN-Untersuchungen abzuwarten.

Unterdessen bemühte sich Obama weiter, in den beiden Häusern seines Parlamentes Zustimmung für den Militärschlag zu gewinnen. Der Auswärtige Ausschuss des Senats hatte am 4. September mit 10:7 Stimmen für einen Militärschlag gestimmt, was als erster Erfolg für Obama gewertet wurde. Aber seine Aussichten, auch den Kongress auf seine Seite zu ziehen, schienen gering: Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung in den USA war gegen einen Angriff auf Syrien, sondern auch die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Nach Meldungen vom 9. September hatte Obama dort nur 30 der 435 Abgeordneten hinter sich.

Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann

Drei Tage nach Ende des G20-Gipfels griff Russlands Präsident Putin eine Äußerung auf, die US-Außenminister Kerry bei einer Pressekonferenz am Montag, den 9.9. gemacht hatte und der zu entnehmen war, bei einer Vernichtung der syrischen Chemiewaffen wäre ein Militärschlag unter Umständen verzichtbar. Putin kündigte eine Initiative an mit dem Ziel, die Chemiewaffen Syriens unter Kontrolle der Vereinten Nationen zu stellen und anschließend zu vernichten.6 Aus den USA verlautete, dies sei zwischen den USA und Russland am Rande des G20-Gipfels abgesprochen worden – ob das stimmt, muss dahingestellt bleiben. Assad stimmte jedenfalls am nächsten Tag dem russischen Vorschlag zu und erklärte sich danach bereit, dass Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen zu unterzeichnen, seine Bestände und Produktionsstätten unter internationale Kontrolle zu stellen und sämtliche Chemiewaffen vernichten zu lassen.

Ebenfalls am 10.9. verkündete Obama in einer mit Spannung erwarteten Ansprache an die Nation, er werde vorerst von einem Militärschlag gegen Syrien absehen, und bat den Kongress, die Abstimmung aufzuschieben. Seine Drohung mit einem Militärschlag hob er zwar nicht auf, aber er werde „keine Maßnahmen mit offenem Ende verfolgen, wie in Irak oder Afghanistan. Ich werde keinen Luftfeldzug über längere Zeit verfolgen, wie in Libyen oder im Kosovo. Es würde sich um einen gezielten Militärschlag mit klarem Ziel handeln: vom Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken und Assads Fähigkeiten zu schwächen“.7 Mit anderen Worten: Von einem 60-tägigen Einsatz war nicht mehr die Rede.

Die Situation hatte sich also plötzlich grundlegend verändert. Die bis dahin auf das Nebengleis geschobenen Vereinten Nationen traten plötzlich wieder in den Vordergrund. Die Außenminister der USA und Russlands einigten sich am 16.9. auf die Grundzüge einer Resolution des UN-Sicherheitsrates: UN-Inspektoren sollen die von Syrien binnen einer Woche offen gelegten Waffen registrieren und ihre Vernichtung oder den Abtransport vorbereiten. In der entsprechenden, am 27.9. beschlossenen Resolution kündigt der Sicherheitsrat für den Fall, dass Syrien nicht kooperiere, an, er werde Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta verhängen, ohne allerdings die Möglichkeit einer Militärintervention beim Namen zu nennen. Parallel dazu legte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon einen ehrgeizigen Plan vor, demzufolge die Chemiewaffen Syriens bis zum 30. Juni 2014 unschädlich gemacht werden sollen. Dazu müssen sich die UN-Kräfte in einem Gebiet bewegen, in dem weiterhin Krieg herrscht.

Der Giftgaseinsatz: Erkenntnisse und Spekulationen

Die Regierung Assad hatte schon im Jahr 2012 zugegeben, dass Syrien über Giftgas verfügt. Militärstrategisch sind diese Waffen wohl als Abschreckungsmittel gegenüber den israelischen Atomwaffen zu verstehen. Viele BeobachterInnen zweifeln jedoch nicht daran, dass sie auch im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Es bleiben aber viele Fragen offen, was am 21. August tatsächlich geschehen ist. Die von den USA vorgelegten »Beweise« für die Verantwortung des Regimes bleiben zumindest bislang nur Indizienbeweise und berufen sich auf vage „Geheimquellen“.8

Auf Facebook soll am 21.8. kurzfristig eine Meldung gepostet gewesen sein, in der sich Anhänger des Regimes zu dem Giftgasangriff bekannten.9 In einer saudischen Zeitung wurde gar behauptet, eine syrische Eliteeinheit habe gegen den Willen ihres Kommandanten Giftgas entwendet und zum Einsatz gebracht.10

Die syrische Regierung ihrerseits macht die Rebellen für den Einsatz verantwortlich. Es kann in der Tat gefragt werden, warum die Regierung Assad gerade zu dem Zeitpunkt einen solchen Angriff durchführen sollte, an dem UN-Inspektoren zur Überprüfung der Vorwürfe früherer Giftgaseinsätze im Land waren. Es ist nicht nur der Reflex, bei allem, was die USA behaupten, erst einmal das Gegenteil als zutreffend anzusehen, wenn aus Kreisen der Linken und Teilen der Friedensbewegung die Vermutung geäußert wurde, Rebellen seien für den Giftgasangriff verantwortlich. Die Logik des »cui bono« (wem nützt es) lässt sie in Verdacht geraten, denn sie fordern seit Beginn des Bürgerkrieges eine internationale Militärintervention. Der Krieg lief die letzten Monate nicht gut für sie, und die USA hatten mit ihrer »roten Linie« für den Fall eines Giftgaseinsatzes eine Intervention angedroht. Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Fälle, in denen eine Seite einen Angriff auf die eigene Seite vortäuschte, um einen Grund zu haben, in den Krieg zu ziehen. Man denke z.B. an den von Deutschland inszenierten Angriff auf den Sender in Gleiwitz an der polnischen Grenze 1939 oder an die von den USA vorgetäuschte Attacke auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin vor Vietnam 1964.

In den Medien wie in der Politik wird überwiegend der US-Behauptung folgend von einer Verantwortung des Regimes ausgegangen. Es gibt andererseits auch Berichte, Kämpfer der Jabhat al-Nusra, die von Saudi-Arabien Giftgas bekommen hätten, seien verantwortlich. Die Gasmunition sei in Tunneln versteckt worden, ohne dass diejenigen, die sie transportierten, überhaupt gewusst hätten, worum es sich dabei handelte.11

Bisher behaupten weder Washington noch die EU-Staaten, sicher zu wissen, wer in Syrien Giftgas eingesetzt hat. Man spricht nur von „hoher Wahrscheinlichkeit“. Diese wird in einem Memorandum hochrangiger ehemaliger Mitarbeiter von US-Geheimdiensten , das an Obama gerichtet ist, in Zweifel gezogen. Sie sind zusammengeschlossen zu den »Veteran Intelligence Professionals for Sanity» (VIPS) und sprachen sich schon im Jahr 2003 klar gegen die lügenhafte Begründung für den US-Angriff gegen Irak aus. Ihr Tenor: Die zuverlässigsten Geheimdienstinformationen besagten, das Assad-Regime habe das am 21.8.2013 verwendete Giftgas nicht eingesetzt und die britischen Geheimdienste wüssten dies sehr wohl. Bereits eine Woche vor dem Giftgaseinsatz habe am 13. und 14. August 2013 in der türkischen Kaserne in Antalya (Hatay Provinz), die jetzt als Hauptquartier der Freien Syrischen Armee dient, ein Treffen hoher Kommandeure der vom Westen unterstützten Aufständischen mit Geheimdienstoffizieren aus den USA, der Türkei und Katar stattgefunden. Die Aufständischen wurden dort unterrichtet, in Kürze werde eine Eskalation im Kriegsgeschehen eintreten, die zu einer Bombardierung Syriens durch US-Streitkräfte führen würde. Die Aufständischen sollten sich darauf vorbereiten, diese Situation für die Eroberung von Damaskus und die Beseitigung des Assad-Regimes zu nutzen. Große Waffenlieferungen wurden zugesagt und zwischen 21. und 23.8.2013 abgewickelt. Die Waffen kamen aus Lagern unter türkischer und katarischer Aufsicht und unter Kontrolle von US-Geheimdiensten.12

Der syrische Bürgerkrieg als Stellvertreterkrieg

Die Wünsche der Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und Anerkennung von Minderheiten spielen auf dem syrischen Schlachtfeld heute keine Rolle mehr. Die außersyrischen Akteure verfolgen ihre Eigeninteressen ohne Rücksicht auf die syrische Bevölkerung.

  • Saudi-Arabien und Katar fördern sunnitische Milizen, die Al Kaida nahe stehen. Aus Syrien soll ein sunnitisch-islamistischer Partnerstaat werden. So würde der Rivale Iran als potentielle Regionalmacht geschwächt.
  • Der Iran hält mit der Entsendung schiitischer Kämpfer und mit Waffenlieferungen dagegen.
  • Russland setzte ebenfalls lange Zeit seine Waffenlieferungen an die syrische Regierung fort und erwies sich mit China darüber hinaus als verlässlicher Partner des Assad-Regimes bei den Beratungen des UN-Sicherheitsrates.
  • Die libanesische Hisbollah schickt eigene Kämpfer nach Syrien, um das befreundete Assad-Regime zu stützen, das seinerseits für ihr eigenes Überleben wichtig ist. Dabei riskiert sie die Ausweitung des Krieges in den Libanon.
  • Die Türkei finanziert und bewaffnet islamistische Milizen und Teile der Freien Syrischen Armee (FSA), damit sie gegen die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden kämpfen.
  • Frankreich liefert ebenfalls Waffen an die FSA und gibt politische, finanzielle und mediale Unterstützung.
  • Die konservative britische Regierung wollte mit in diesen Kampf ziehen, wurde allerdings vom eigenen Unterhaus ausgebremst.
  • Die anderen EU Staaten sind vorwiegend damit befasst, Flüchtlinge aus Syrien abzuwehren.13
  • Die USA sind geostrategisch involviert. Der Sturz des Assad-Regimes würde dazu beitragen, den Iran zu isolieren, zu schwächen und dort letztlich einen Regimewechsel zu erreichen. Damit würden die USA ihrem Ziel näher kommen: der Kontrolle des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Ihr Zögern, dafür umfassende militärische Mittel einzusetzen, dürfte einerseits an der Kriegsmüdigkeit der US-Gesellschaft nach den langen Kriegen im Irak und Afghanistan liegen, andererseits ist aber auch schwer absehbar, wer nach einem Sturz von Assad die Macht übernehmen würde.

Eine amerikanische Alleinkontrolle der Region kann weder der russischen noch der chinesischen Regierung gefallen. Den Russen geht es nicht nur, wie immer berichtet wird, um den Kriegshafen in Syrien, sondern vor allem um die Abwehr der US-Dominanz in dieser großen, bis Zentralasien reichenden Region.

Das grundlegende Problem aller Akteure der Stellvertreter-Kriege liegt in der fehlenden Kompatibilität ihrer jeweiligen Ziele. Das gilt insbesondere für diejenigen, die das Assad-Regime stürzen wollen: Die einen wollen einen islamistischen Staat, die anderen einen laizistischen, damit die Kräfte des »islamistischen Terrorismus« nicht weiter gestärkt werden.

Bei der Diskussion um eine Militärintervention ging es deshalb keineswegs um die moralische Empörung über den teuflischen Einsatz von Giftgas, der ein Verstoß gegen das Giftgasprotokoll von 1925, das humanitäre Völkerrecht (die Genfer Konventionen von 1949) und das Chemiewaffen-Verbotsabkommen von 1996 ist. In anderen Situationen hatten die westlichen Mächte die Anwendung von Giftgas hingenommen.14 Vielmehr ging es darum, mit welchen Mitteln so in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen werden konnte, dass das Ergebnis den strategischen Interessen der jeweiligen externen Parteien entgegenkommen würde.

Bewertung

Es hat seit langem keinen Plan einer Militärintervention gegeben, der auf so viel Widerstand gestoßen ist, dass er zumindest aufgeschoben, vielleicht sogar aufgehoben wurde. Natürlich hat nicht allein und nicht vorwiegend die Friedensbewegung diese Wirkung entfaltet, sondern der Widerstand war quer durch alle Lager groß, von einfachen BürgerInnen bis zur so genannten Elite, von Links bis Rechts.

Auch lagen dem Umdenken keine pazifistischen Motivationen zugrunde – es war kein grundsätzlicher »Vorrang für zivil«. Hinter der Entscheidung, einen Militärschlag aufzuschieben, steht die bereits geschilderte, höchst widersprüchliche innersyrische und internationale Situation und die Sorge, dass ein Eingreifen in den Bürgerkrieg auf Seiten der bewaffneten Opposition ein Eingreifen zugunsten derer sein könnte, die man im von den USA ausgerufenen »Krieg gegen den Terror« bekämpft und die auch Russland als bedrohlich empfindet.

Der Kampf um die Deutungshoheit dessen, was geschehen ist, hat schon begonnen. Es zeichnet sich ab, wie die gegenwärtigen Ereignisse – so sie zu einer zivilen Lösung des Konfliktes führen – einmal im Mainstream der Medien und Politikwissenschaft beschrieben werden: als ein neuer Sieg der Politik von »Zuckerbrot und Peitsche«, einer Politik, die durch die glaubhafte Drohung mit Gewalt einen unwilligen Diktator zum Einlenken bewegt hat.15 Dabei war es wohl kein durchdachter Plan, der zu dem Durchbruch in punkto Chemiewaffen geführt hat, sondern diplomatisches Lavieren und fehlende Zustimmung zu den Plänen der drei westlichen Alliierten in der Bevölkerung und in den Eliten der eigenen Länder.

Noch sind sich die meinungsbildenden Medien in der Bewertung der Politik Obamas nicht einig. Viele werfen ihm »Führungsschwäche« und Planungslosigkeit vor. Aber wieso ist es »Schwäche«, wenn ein Präsident auf seine BeraterInnen hört, wenn er das Parlament befragt? Sollte es nicht ein Kernelement einer Demokratie sein, dass die Politik auf ihr Volk hört? Daher gilt es, bei aller Kritik an dem Vorgehen der Supermacht, doch festzuhalten, dass sie in diesem Fall nicht der Logik des »Erst schießen, dann reden« gefolgt ist.

Ansätze zu einer politischen Lösung

Nach wie vor ist ein US-Militärschlag nicht auszuschließen, auch nicht, dass er dann doch mit Billigung des UN-Sicherheitsrates erfolgt. Die russische Initiative für die Vernichtung des Giftgases in Syrien hat jedoch ein »Fenster der Möglichkeit« geöffnet, das eine Chance für Verhandlungen über die Beendigung des Krieges bietet. Der UN-Sicherheitsrat hat mit seiner Resolution vom 27.9.201316 Fristen für die Vernichtung der Chemiewaffen festgelegt, die nicht leicht einzuhalten sein werden. Damit legen sich beide Großmächte darauf fest, eine politische Lösung zumindest zu versuchen. In diesem Sinne sind auch die Bemühungen um eine Konferenz der Konfliktparteien in Genf noch im Jahr 2013 zu verstehen. Allerdings: Der Iran steht bisher nicht auf der Liste der Einzuladenden.

Den Bemühungen um eine politische Lösung droht vor allem aus zwei Richtungen Gefahr: Erstens könnte der anhaltende Krieg in Syrien die Vernichtung der Chemiewaffen unmöglich machen. Zweitens zeichnet sich bereits ab, dass die Gegner der Assad-Diktatur sich nicht nur untereinander militärisch bekämpfen, sondern auch über die Teilnahme an der geplanten Genfer Konferenz völlig zerstritten sind.

Der Regierung Assad kann es in der Zwischenzeit nur Recht sein, dass die internationale Aufmerksamkeit sich allein auf die Frage der Chemiewaffen konzentriert. Der eigentliche Krieg wird inzwischen mit aller Brutalität fortgesetzt.

Die Friedensbewegung ist sich einig in ihrer Ablehnung einer Militärintervention und in der Forderung nach einem Waffenstillstand, einem Ende des Krieges, einer weit besseren Unterstützung der Flüchtlinge und Vertriebenen, der Gleichbehandlung von AsylbewerberInnen aus Syrien mit den in Deutschland aufgenommenen »Kontingentflüchtlingen«, nach einem kompletten Waffenembargo und der Verweigerung jeder auch indirekten Unterstützung des Krieges durch Deutschland.17

Doch sind in den Forderungen auch geostrategische Aspekte zu berücksichtigen, um tatsächlich eine friedliche Lösung zu erreichen. Bei Obamas geplantem Militäreinsatz ging es nicht um eine Strafaktion gegen den Gaseinsatz in Syrien, sondern um einen Regimewechsel in Syrien. Ein wichtiger Faktor ist des Weiteren der Anspruch des Iran, eine wichtige Regionalmacht mit schiitischer Einfärbung zu sein. Uns wird über die Medien stets vermittelt, es handele sich bei dem Streit zwischen »dem Westen« und Teheran um die Frage der atomaren Bewaffnung. Das ist eine vorgetäuschte Problematik, genauso wie die Behauptung, der westliche Raketenschirm müsse gegen die Bedrohung durch iranische Raketen errichtet werden. Den USA geht es auch im Falle Iran vorwiegend um einen Regimewechsel. Deshalb hält Washington alle Sanktionen aufrecht, die bereits nach dem Sturz des Schah-Regime verhängt worden sind und nichts mit der atomaren Frage zu tun haben. Die Blockade praktisch sämtlicher Lösungen in den Atomverhandlungen ist ebenfalls den USA geschuldet.18

Die Chance zur Verständigung, die sich nach dem Präsidentenwechsel in Teheran abzeichnet und sogar zu einem direkten Telefongespräch zwischen Obama und Rouhani führte, ist in Washington noch immer höchst umstritten. Kurz vor der Vereidigung des neuen – offensichtlich gesprächsbereiten – iranischen Präsidenten wurden in Washington neue weitreichende Sanktionen vorbereitet, und Kräfte aus dem Kongress versuchen, Obama direkte Gespräche mit Teheran zu untersagen.

Wenn die USA tatsächlich eine friedliche Lösung für den Syrien-Konflikt anstreben, müssen sie die Verständigung mit Teheran suchen: Direkte Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen durch schrittweise Aufhebung von Sanktionen, das Angebot eines Nicht-Angriffspaktes, Kooperation auf vielen gemeinsamen Interessensgebieten, Unterstützung der von den Vereinten Nationen beschlossenen Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone in Mittel- und Nahost. . Alle diese Fragen haben direkte Relevanz für den Bürgerkrieg in Syrien. Sie sind also ebenso wie unsere Forderungen zu Syrien von allen Friedensbewegten in unserem Land zu thematisieren.

Anmerkungen

1) Die Zahlen sind unklar. So sprach Großbritannien von „mindestens 360 ZivilistInnen“ und nur die USA behaupten, jedes einzelne Opfer gezählt zu haben: Exakt 1.429 Tote, davon „mindestens 426 Kinder“ (White House, Office of the Press Secretary, August 30, 2013). Zur Zahl der Verletzten: Médecins Sans Frontière: Syria: Thousands suffering neurotoxic symptoms treated in hospitals supported by MSF. 24 August 2013. Das Weiße Haus nennt dieselbe Zahl.

2) Tagesschau, 25.8.2013.

3) International Crisis Group: – Syria Statement. 2.9.2013.

4) International Herald Tribune, 5.9.2013.

5) Deutsche Übersetzung laut tagesschau.de vom 7.9.13. Vollständiger englischer Text: The White House, Office of the Press Secretary: Joint Statement on Syria. September 06, 2013.

6) Rosenberg, Steven: Russia’s Nimble Footwork on Syria. BBC News 11.9.2013.

7) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks by the President in Address to the Nation on Syria. September 10, 2013.. Deutsche Übersetzung durch Amerika Dienst vom 11.9.2013; blogs.usembassy.gov/amerikadienst/.

8) International Herald Tribune vom 5.9.13, a.a.O.

9) Bürgerkrieg in Syrien. Aktivisten werfen Assad Giftgaseinsatz mit Hunderten Toten vor. Spiegel Online vom 21. August 2013.

10) Michael Lüders: Reden wir mit Assad! taz.de vom 25.8.2013.

11) Zum Beispiel: Gavlak, Dale und Ababneh, Yahya (2013): Syrians in Ghouta Claim Saudi-Supplied Rebels Behind Chemical Attack. MintPress News vom 29. August 2013.

12) Der Text des Memorandums ist hier nachzulesen: Obama Warned on Syrian Intel. Consortiumnews.com vom 6. September 2013.

13) Diese Angaben können größtenteils auch in bürgerlichen Massenmedien nachgelesen werden, z.B.: Who is supplying weapons to the warring sides in Syria? bbc.co.uk, News – Middle East vom 14. Juni 2013.

14) Der irakische Diktator Saddam Hussein setzte im Angriffskrieg gegen Iran systematisch und über Jahre hinweg Giftgas ein. Zehntausende Iraner starben. Er vergiftete überdies am 16. März 1988 durch einen Angriff auf die Stadt Halabdscha (Irakisch-Kurdistan) mehr als 5.000 kurdische Bürger des Irak und verwundete mehr als 7.000. Damals lieferten Paris und London die Bomber, und aus Moskau erhielt er die geeigneten Scud-Raketen. Firmen aus der Bundesrepublik lieferten die Grundsubstanzen für die Giftgase, das Know-how und die Produktionsanlagen für ihre Herstellung. US-Präsident Reagan war im Detail über die irakischen Giftgaseinsätze informiert und lieferte 1988 Saddam Hussein sogar Aufklärungs- und Zieldaten für vier kriegsentscheidende Chemiewaffenangriffe. Gemeinsam verhinderten vier Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, dass die Beschwerden des Iran über die irakischen Giftgasangriffe dort behandelt wurden. Die Sowjetunion hatte ebenfalls Giftgas in Afghanistan eingesetzt.

15) Als eines der letzten erfolgreichen Beispiele hierfür gilt die amerikanische Vermittlungsstrategie im Bosnienkonflikt 1994-95, als die NATO durch immer weitergehende Bombardierungen serbischer Stellungen Präsident Milosevic und seine Verbündeten in Bosnien militärisch unter Druck setzte, dem von Vermittler Holbrooke ausgearbeiteten Friedensplan zuzustimmen. Siehe Holbrooke, Richard (1998): To End a War. New York: Random House; Sloan, Elinor C. (1998): Bosnia and the New Collective Security. Westport: Praeger Publishers.

16) Die offizielle dt. Übersetzung der Resolution steht unter un.org/Depts/german.

17) Eine Zusammenstellung verschiedener Aufrufe findet sich auf friedenskooperative.de.

18) Buro, Andreas und Ronnefeldt, Clemens (2012): Iran-Verhandlungen. Legitimation für einen Angriffskrieg? Dossier Ib des Monitoring-Projekts. Bonn: Kooperation für den Frieden.

Dr. Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung, Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Redakteurin des »Friedensforums«. Prof. Dr. Andreas Buro ist u.a. friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Koordinator des »Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention«. 2008 erhielt er den Aachener und 2013 den Göttinger Friedenspreis.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/4 Der pazifische Raum, Seite 32–36