W&F 1984/3

Technik, Gesellschaft, Rüstung.

Zum Verhältnis von technischen und gesellschaftlichen Triebkräften der Rüstungsspirale

von Hellmuth Lange

  1. Waffensysteme sind technische Mittel zur Erreichung politischer Zwecke. Diese Zwecke sind abstrakt betrachtet auf jeder Seite gleich: Hinderung eines Gegners, seine Interessen über einen bestimmten Punkt hinaus weiterzuverfolgen. Konkret betrachtet, unterscheiden sich die Zwecke z. T. erheblich (z. B. einerseits: 1870/71, 1. Weltkrieg; andererseits. UdSSR/„3. Reich“, USA/Vietnam, Nicaragua; NATO/Warschauer Vertrag).
  2. Waffen erreichen diese Zwecke mit spezifischen Wirkungen, die technisch vorgegeben sind, Im Unterschied zu anderen Mitteln (politischen, diplomatischen, publizistischen, wirtschaftlichen) erreichen Waffen die betreffenden politischen Zwecke durch die Wirkungen von materiellen Zerstörungen (direkt der Menschen, und indirekt: ihrer technischen und natürlichen Lebensgrundlagen). Dies ist eine erste Eigengesetzlichkeit von Waffen.
  3. Eine zweite quasi technische Eigengesetzlichkeit besteht darin, daß Aufbau und Unterhalt moderner Waffensysteme eine entsprechende Infrastruktur und einen entsprechenden Vorlauf erfordern (wissenschaftlich, ressourcenmäßig, wirtschaftlich, ausbildungsmäßig etc.) Die militärische Infrastruktur bindet Mittel, die somit für andere Aufgaben nicht mehr oder nurmehr partiell zur Verfügung stehen. Außerdem muß die militärische Infrastruktur in das allgemeine gesellschaftliche Leben eingefügt werden, da sie sich auf diese Weise verändert.
  4. Eine dritte technische Eigengesetzlichkeit besteht darin, daß qualitativ bestimmte Systeme ihre Wirkungen stets nur auf bestimmte Weise und mit bestimmten Resultaten erzielen (z. B. mittels unterschiedlicher Reichweiten, unterschiedlicher Vorwarnzeiten, unterschiedlicher Treffgenauigkeit etc.). Ein eventueller Schutz des Gegners verlangt daher stets bestimmte Gegenmaßnahmen, auch wenn die insgesamt vorhandene Zerstörungskraft in der Summe bereits ausreicht, um den Gegner mehrfach zu zerstören. „Overkill“ besagt hier konkret also wenig. Allerdings liegt in dieser dritten Eigengesetzlichkeit der eigentliche technische Kern der Rüstungsspirale:
  5. Ist ein neues System nämlich einmal eingeführt, muß die Gegenseite - ggf. auch militärisch - reagieren, sofern sie nicht hinsichtlich der speziellen Wirkungsweise der betreffenden neuen Systeme und u. U. weit über sie hinaus („Enthauptung“) - wehrlos und in der Folge bis zur Selbstaufgabe politisch und wirtschaftlich erpreßbar werden will. Ist das militärisch-technische Nachrüsten aber einmal vollzogen, wird es schwer, den politischen Kern der geschaffenen Lage noch zu identifizieren: Beide Seiten erscheinen auch hinsichtlich ihrer politischen Interessen gleich (beide bedrohen sich gegenseitig), obwohl sich nichts daran geändert hat, daß eine Seite eine Bedrohung aufgebaut hat, gegen die sich die andere Seite zu schützen sucht. In der Verkennung dieses Mechanismus im Rahmen eines ahistorischen Denkens liegt eine der Ursachen für das Streben nach „Äquidistanz“ und für das Verständnis der USA und der UdSSR als wesensgleichen Supermächten. Beides bleibt indessen sowohl der politischen als auch der technischen Spezifik des Wettrüstens unangemessen. Ein direkter Rückschluß von der technischen Spezifik einzelner Waffensysteme auf die verfolgten politischen Zwecke bzw. Interessen ist nicht möglich.
  6. Dies ist um so weniger der Fall, als die militär- und allgemeinpolitische Funktion einzelner Waffensysteme nicht nur durch den Zeitpunkt ihrer Installation, sondern auch durch die geographischen Gegebenheiten ihrer Placierung (bezogen auf das gegnerische Territorium) nachhaltig berührt wird (Verteilung der Stützpunkte und ihrer je speziellen Waffensysteme hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die gegnerischen Grenzen zu überwinden). Erst in diesem Zusammenhang ergibt sich auch die neue militärische und politische Qualität von Pershing 2. Ohne Berücksichtigung der letztgenannten Gegebenheiten besagt auch die Existenz von Militärblöcken nicht mehr, als daß heftige Spannungen vorliegen. Das aber ist eine Trivialität.
  7. Die in den Thesen 2., 3. und 4. genannten technischen Eigengesetzlichkeiten gelten unabhängig von der politisch-gesellschaftlichen Spezifik der jeweiligen Gegner, also in „Ost“ und „West“. Weitere technische Eigengesetzlichkeiten gibt es nicht. Die Faktoren „Zeit“ und „Raum“ (Thesen 5. Und 6. gelten zwar ebenfalls in „Ost“ und „West“. Die betreffenden Sachgesetzlichkeiten sind jedoch schon nicht mehr „rein technisch“, sondern zugleich wesentlich militärpolitischer Natur. Dies gilt in entsprechender Weise für die Dynamik der Rüstungsspirale. Sie besitzt einen Kern technisch gesetzter Möglichkeiten. Ihre reale Bewegung ist indessen ein Resultat der militärpolitischen Nutzung dieser Möglichkeiten.
  8. Trotz der genannten technischen Eigengesetzlichkeiten gilt: Kriege werden von Menschen vorbereitet, vom Zaun gebrochen und geführt, nicht von Maschinen. Ob sich die Rüstungsspirale dreht oder nicht, hängt von der politischen Entscheidung zum Bau neuer Systeme ab. Dies zeigt sich in zugespitztester Form in der Möglichkeit eines Atomkrieges „aus Versehen“. Die technische Möglichkeit von Computerfehlern fährt nur dann zum Krieg, wenn politische Entscheidungen dem Gegner die betreffenden Systeme so nahe „vor die Haustüre“ stellen, daß politische Entscheidungen über die Art der Gegenmaßnahmen technisch nicht mehr möglich sind.
  9. Politisch und finanziell so folgenreiche Angelegenheiten wie die Festlegung auf militärpolitische Optionen, der Aufbau einer entsprechenden Militärmacht oder gar ihr Einsatz werden heute noch weniger als früher allein von gegebenenfalls verselbständigten Bürokraten entschieden. Derartige Entscheidungen berühren allemal die gesellschaftlichen Grundinteressen. Sie werden demzufolge von den sozialökonomisch bestimmenden Kräften der Gesellschaften entschieden. Mehr noch: Die Bestimmung der militärpohtischen Optionen ist heute - zumindest für die USA - zum erklärten strategischen Mittel des Kampfes gegen die konkurrierende sozialökonomische Ordnung geworden (UdSSR als „Zentrum des Bösen“).
  10. Insofern geht es heute national und international um den gleichen Konflikt: Um konkurrierende Konzepte von Arbeit, Selbstverwirklichung und Menschenwürde und um die dazugehörigen sozialökonomischen Aneignungsmechanismen. Die alte Klasse, die im Faschismus bereits auf nationaler Ebene alle zivilen Formen der Machtsicherung verlassen hatte, um die Zukunft eines Systems zu sichern, ohne das sie nicht leben kann, bereitet sich gegenwärtig im Weltmaßstab auf die Möglichkeit vor, dies auch international durchsetzen zu können. Die Gegenseite ist auf nationaler Ebene zumeist unterlegen - am brutalsten im Faschismus. Dort, wo sie gesiegt hat und sich in der Folge auch als staatliche Macht etablieren konnte, hat sie es bisher (Interventionskriege, Weltkrieg 2 und danach) vermocht, entsprechende Niederlagen abzuwenden. Ohne die Existenz und im Notfall auch den Einsatz ihres Militärs wäre dies bekanntlich nicht möglich gewesen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die heutigen Waffensysteme eine unermeßlich gesteigerte Vernichtungskapazität besitzen.
  11. Was im Rahmen der Thesen 5. und 6. als technisches Paradoxon erscheint, wiederholt sich hier nur als militär- und allgemeinpolitisches Paradoxon: Das bislang erfolgreiche - Bestreben der einen Seite, der anderen Seite den allgemeinen „Systemkrieg“ zum untragbaren Risiko werden zu lassen hat, wie auch die UdSSR feststellt, zu einer enormen Erhöhung der Kriegsgefahr geführt. Die UdSSR hat sich an dieser Entwicklung aktiv beteiligt. Somit erscheint diejenige Seite, die für gleiche Sicherheit und schrittweise Abrüstung plädiert, im gleichen Topf wie die Gegenseite, die „totale militärische und technologische Überlegenheit über die Sowjetunion“ (Reagan am 15.7.1980) anstrebt. Was aber hätte der Sozialismus sonst tun sollen, um sich zu schützen und um seiner internationalen Verantwortung gerecht zu werden? Und was sollte er anderes tun, als einen generellen Gewaltverzicht und eine schrittweise Reduzierung der Rüstung beider Seiten auf der Grundlage gleicher Sicherheit anzubieten. Selbst wenn man dies als Finte betrachtet, so liefe sie doch darauf hinaus, daß der Sozialismus zur Durchsetzung seiner Interessen (worin sie in dieser Hinsicht auch immer bestehen mögen) den Frieden als ausreichenden, ja notwendigen Rahmen betrachtet.
  12. Die Gleichsetzung beider Seiten stellte sich in These 5 „lediglich“ als Resultat unhistorischen Denkens und einer darauf aufbauenden Unterschätzung technischer Sachzwänge dar. Als politisches Deutungsmuster geht sie in ihrer Bedeutung weit darüber hinaus. Sie ist Ausdruck einer fundamentalen Verkennung und/oder der Verniedlichung des eigentlichen politisch-gesellschaftlichen Inhalts der Rüstungskonfrontation und damit auch ihrer Gefährlichkeit auf der einen Seite, und der objektiv gesetzten Handlungsschranken und -möglichkeiten aller beteiligten und betroffenen Kräfte auf der anderen Seite: Die Rüstungskonfrontation ist nicht primär durch geistige Haltungen, Denktypen etc. hervorgerufen. Sie ist vor allem anderen die zugespitzteste Form des international gewordenen Klassengegensatzes.
  13. Daß dieser Gedanke angesichts des politischen Meinungsspektrums der BRD, wie es nicht zuletzt in den Wahlen zum Ausdruck kommt, auch für breite Teile der Friedensbewegung nicht akzeptabel erscheint, liegt auf der Hand. Das Streben nach „Äquidistanz“ versucht den Wirkungen dieses Gegensatzes formal, im Namen abstrakter, nämlich klassenunspezifisch gefaßter Freiheitsideale und entsprechend vage bleibender Modellvorstellungen zu entkommen, ohne sich auf seine sozialökonomischen Ursachen und auf die gesellschaftlich-praktischen Bedingungen der Realisierung von Freiheitsidealen einzulassen. Die Tatsache, daß sich die Forderungen der Friedensbewegung in der BRD und die friedenspolitischen Vorstellungen der UdSSR weithin decken, mag für manche ein weiterer Anlaß sein, um sich - zwecks Wahrung der sogenannten Glaubwürdigkeit (im eigenen Lande) - auf die Suche nach „Äquidistanz“ zu begeben. Sie könnte jedoch auch ein Anlaß sein, den Begriff der „Äquidistanz“ zu hinterfragen, nicht zuletzt in Hinblick auf seine klassenpolitischen Funktionen in der Friedensfrage. Hier hätte sich zu erweisen, ob er angesichts des Wettrüstens die denkbar radikalste politische Konsequenz oder einen sozialdemokratisch halbierten Radikalismus nach Godesberger Art darstellt.
  14. Praktisch besteht das Problem der Friedensbewegung allerdings nicht darin, einen Meinungsstreit darüber auszutragen, wer vermeintlich oder tatsächlich die radikalsten Forderungen vorzuweisen hat. Die Bewegungen der Rüstungsspirale sind zwar objektiv Ausdrucksformen des internationalen und nationalen Klassenkampfes. Um für den Frieden zu sein, muß man indes keineswegs subjektiv Klassenkämpfer sein. Raketen differenzieren im einzelnen ohnehin nicht nach derartigen Kriterien, bevor sie explodieren. Die praktische Bedingung Beglichen Erfolgs in der Friedensbewegung ist vielmehr ihr Vermögen, trotz fortbestehender Differenzen über nahezu alle übrigen Fragen gemeinsam für eine Reduzierung der Kriegsgefahr zu kämpfen. Der entscheidende Schritt in dieser Richtung besteht gegenwärtig darin, die vollständige Aufstellung der neuen Raketen politisch unmöglich zu machen. Da die UdSSR im Begriff zu sein scheint, mit Hilfe U-Boot-gestützter Mittelstrecken-Raketen vor der US-amerikanischen Küste „gleichzuziehen“. besteht der folgende Schritt zwingenderweise im Kampf für eine gleichmäßige Reduzierung der entsprechenden Systeme „Ost“ und „West“.
  15. Falls für diesen Schritt kein hinreichend breiter Druck zustande kommt, wird dies für deutlich weitergehende Forderungen wie „Raus aus der NATO“ oder besser: „Reduzierung der Rüstung beider Blöcke“ und schließlich „Auflösung beider Blöcke“ erst recht nicht gelingen. Umgekehrt: Auch dieser erste Schritt wird u.a. um so eher zu bewerkstelligen sein, je gründlicher und verständlicher die tatsächlichen Hintergründe des Wettrüstens aufgedeckt werden. Die Aufklärung über die militärpolitische Qualität der NATO ist hier ein wichtiger, keineswegs aber der einzige, weitestgehende und in diesem Sinne auch radikalste Aspekt des Rüstungsproblems, über den mehr Klarheit vonnöten ist. Der sozialökonomische, klassenpolitische Aspekt kann zwar verdrängt werden. Seiner praktischen Bedeutung tut dies jedoch leider - keinerlei Abbruch.

Hellmuth Lange ist Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Bremen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/3 1984-3, Seite