Terror grenzenlos?
Höchste Zeit zur Deeskalation
von Corinna Hauswedell
Es gibt genügend Gründe, warum uns die schrecklichen Ereignisse von Beslan nicht loslassen dürfen, obwohl jener Ort in Nordossetien, der Anfang September Schauplatz des blutigsten Geiseldramas wurde, bereits wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.
Mehrere hundert Kinder in einer Schule wurden Opfer eines brutalen Terroranschlages. Der Tabubruch – das Eindringen militärischer Gewalt in diesen von allen Kulturen als besonders geschützt erachteten, zivilen Lebensbereich – war immens. Wir haben diese Zerstörung jungen Lebens – nach zahllosen Selbstmordattentaten, nach den Enthauptungen in Bagdad, nach den Folterbildern von Abu Ghraib – als schockierendes Anwachsen von Inhumanität erlebt. Die Führung der russischen Großmacht hat den Anschlag – ähnlich wie die US-Regierung nach dem 11. September – als totale Kriegserklärung gewertet. Die Maßnahmen zur Einschränkung der ohnehin schwachen russischen Demokratie, die Präsident Putin als innenpolitische Konsequenz eingeleitet hat, sind besorgniserregend; seine Drohungen, präventive Schläge gegen Terroristen auch außerhalb russischen Territoriums durchzuführen, bergen das Potenzial neuer internationaler Eskalation.
Wie kann einer weiteren Entgrenzung von Recht und Moral, der ungeheuren politischen Machtanmaßung sowohl der vermeintlich Schwächeren wie der Starken auf der internationalen Bühne, entgegen gewirkt werden? Kofi Annan hat in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung deutliche Worte zur Illegalität der Kriegführung im Irak gefunden, hat politische Doppelstandards westlicher Staaten kritisiert und eine stärkere Rolle der UNO und ihrer multilateralen Strukturen bei der internationalen Friedenssicherung gefordert. Doch wie sollen Deeskalationsstrategien aussehen, wenn immer häufiger regionale Konflikte wie im Kaukasus, im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent, die ihre eigene Geschichte und Muster haben, zu Schlachtfeldern im globalen Krieg gegen den Terror erklärt und gemacht werden; wenn der Krieg gegen den Terror eine Dynamik auslöst, die – wie im Irak – den Terroristen Tausende neuer Kämpfer in die Arme treibt und ein Land zum Hauptkampfplatz unterschiedlichster Kräfte, auch innerhalb des islamistischen Fundamentalismus, macht?
Ist es nicht höchste Zeit, alle verfügbaren Erfahrungen im Umgang mit internationalen Konflikten und mit regionalen bzw. nationalen Krisenszenarien zusammen zu tragen und auf ihre Tauglichkeit für diese scheinbar neue, globale Konfliktkonstellation hin zu prüfen? Die Behauptung, dass nach historischen Einschnitten wie dem Ende des Kalten Krieges 1989 oder den Anschlägen des 11. Septembers nichts mehr so sei wie zuvor, hat sich mittlerweile als wenig hilfreich und obendrein als sachlich falsch herausgestellt.
Dass sich der 45. Deutsche Historikertag, sonst eher ein behäbiges Verbandstreffen des Elfenbeinturmes, diesmal in gut besuchten Sektionen dieser aktuellen Brandthemen annahm, mag ermutigen. Man hörte begründete Warnungen, Terrorismus nicht mit Krieg gleich zu setzen, schon gar nicht mit »Totalem Krieg«. Sodann der Hinweis darauf, dass Terrorakte mehr als einmal in der Geschichte zum Ausgangspunkt für große Kriege wurden. Plädoyers für Differenzierungen zwischen den Netzwerken von Al Qaida und lokalen Gruppen, dazu Analysen der politischen Dimension des Terrors sowie Fallstudien über die Vergeblichkeit, Terror mit militärischen Mitteln besiegen zu wollen. Aufschlussreich auch das Nachdenken – wie Gudrun Krämer anregte – warum in der islamischen Welt die Wendepunkte 1989 und 11.9. anders wahrgenommen werden als vielerorts im Westen.
Man muss nicht in die von Josef Joffe in der ZEIT so beschriebene »Verständnis-Falle« tappen, wenn man nach Antworten auf die Fragen sucht, wo mögliche Wurzeln für die Eskalation terroristischer Handlungen zu finden sind, oder – vielleicht wichtiger – welche Mechanismen von Aktion und Reaktion den Terrorismus in Gang halten. Diese Analysen werden wir brauchen, um aus der Spirale der Gewalt, die sich zwischen nichtstaatlichen und staatlichem Terror immer schneller dreht, heraus zu kommen.
Der neue Terror ist vor allem grenzenloser als viele alte Formen des Terrors. Das begründet ein neues Bedrohungsgefühl, mit dem wir leicht in eine irrationale »Alarmismus-Falle« geraten können. Bei allem, was ein islamistisches Netzwerk wie Al Qaida von beispielweise der IRA Nordirlands unterscheidet, verweisen seriöse Forschungen wie die von Peter Waldmann aber eben auch auf (gemeinsame) Tatbestände wie, dass der Terrorismus vor allem eine Methode der Provokation der Macht sei, und insofern eine, wenn auch moralisch verwerfliche, Kommunikationsstrategie verfolgt werde. Hierauf die geeignete »Antwort« durch eine kommunikative Gegenstrategie zu finden, wird absehbar eine der großen Herausforderungen der internationalen Politik sein. Dürfen sich Staaten oder nichtstaatliche Organisationen erpressen lassen durch das zunehmend eingesetzte Mittel der Geiselnahme? Ist mit Terroristen zu verhandeln? Wenn ja, welches sind die Maßstäbe? Ist Vertrauensbildung hier eine geeignete Kategorie? Im Falle Nordirlands war es u.a. der Bereitschaft einzelner demokratischer Politikerinnen und Politiker, wie der Britin Mo Mowlam oder dem US-Senator George Mitchell, zu danken, dass – in einer oft umstrittenen Gratwanderung – die Einbeziehung auch radikaler Parteien in den langwierigen, oft von Rückschlägen begleiteten politischen Dialog- und Friedensprozess gelang, der schließlich auch zum Gewaltverzicht führte.
Der Ost-West-Konflikt hält ganz andere, aber zweifelsohne ähnlich ambivalente Erfahrungen in Sachen Deeskalation bereit. Das Paradox, dass der militärisch und ideologisch am höchsten gerüstete Konflikt unserer Zeitrechnung, der die Welt mehrfach an den atomaren Abgrund geschickt hat, letztlich unblutig zu Ende gegangen ist, wird die Forschungen weiter zu beschäftigen haben. Auch hier war Kommunikation im Spiel: Détente á la Kennedy sollte sich als weniger tragfähig erweisen als deutsche Ostpolitik. Unterschiedliche (Bedrohungs)Wahrnehmungen voneinander prägten das Konflikthandeln von Freund und Feind. Wo geredet wurde, wurde (fast) nicht geschossen. Am Ende (und Anfang einer neuen Ordnung) stand die KSZE: Welche Garantien bot dagegen die von den Gnaden bipolarer Ordnung abhängige Abschreckungslogik, deren Verschwinden heute von manchen bedauert wird? Wie viel Status-quo-Erhalt war der Preis der Deeskalation? Wie viel friedliche Veränderung machte sie andererseits möglich? Wie überzeugend war das in den 80er Jahren entstandene Konzept »Gemeinsamer Sicherheit«? Wie tragfähig ist das aus der Globalisierung erwachsene Konzept von »Human Security«? Ist das wachsende Zusammenspiel militärischer und ziviler Komponenten bei der Friedenssicherung einer Deeskalation von Konflikten eher förderlich oder hinderlich? Wie kann heute internationale Abrüstung als Teil einer erfolgversprechenden Deeskalationsstrategie (re)konstruiert werden?
Viele Fragen, auf die auch die multidisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung helfen kann, Antworten zu finden. Zweifelsohne lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten aus der bipolaren, aber durchaus auch asymmetrischen Blockkonfrontation für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägte internationale Konstellation heute bereit stellen. Der Wegfall der bipolaren Konfrontation hatte den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte geöffnet und in den 90er Jahren mehrere erfolgreiche Friedensprozesse in Gang gesetzt. Die Welt läuft Gefahr, dass diese Erfahrungen im »war against terror« verloren gehen.
Die Zeit drängt. Und es ist nicht einmal in erster Linie der Mangel an Analyse und wissenschaftlichen Konzepten, der wirksamen Deeskalationsstrategien entgegen steht. André Glucksmann hat in einem bemerkenswerten Essay anhand des Beslan-Desasters grundsätzliche Fragen von Menschenrechtspolitik, Kriegführung und Anti-Terror-Kampf aufgeworfen und die »Kopf in den Sand«-Haltung der Mächtigen der Welt angeprangert: „Als Putin 1999 in Tschetschenien einmarschiert, behauptet er, gegen 2000 Terroristen anzutreten. Er schickt seine Bomber, seine Panzer und 100.000 Soldaten zur Eroberung eines Landes, das so groß ist wie Groß-Paris … Er schleift Grosny … Wenn ein solches Schlachthaus als Terrorbekämpfung gilt, muss man sich fragen, warum die Engländer nicht Belfast dem Erdboden gleich machten, die Spanier Bilbao, die Franzosen Algier … Wir sind ein aktiver Teil in diesem Desaster …“
Höchste Zeit also für Deeskalationsstrategien, die die Augen nicht verschließen vor den Konfliktinhalten, ihren Ursachen, Interessenlagen und Wahrnehmungen. Deeskalation, das heißt nicht Frieden; aber es ist die Suche nach anderen Formen des Konfliktaustrages als mittels der inhumanen, tödlichen Gewaltspirale.
Dr. Corinna Hauswedell ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und im geschäftsführenden Vorstand von Wissenschaft und Frieden