W&F 1989/1

Teststopp für Interkontinentalraketen

von Udo Schelb

Entwicklung der Raketenzielgenauigkeit

Aus den Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing II und bodengestützter Cruise Missiles ist noch bekannt, daß eines der Hauptargumente die neuartige enorme Zielgenauigkeit dieser Waffensysteme betraf. Denn eine hohe Zielgenauigkeit ist die entscheidende Voraussetzung dafür, sehr stark »gehärtete« Punktziele, v.a. Raketensilos und verbunkerte Kommandozentralen, mit großer Wahrscheinlichkeit ausschalten zu können – mithin ein Attribut von »erstschlagsfähigen Waffen«. Zwar wird die Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen solche in die Erde eingelassenen, gewaltig betonarmierten Ziele nicht nur von der Treffgenauigkeit der Waffen, sondern auch von der Sprengkraft ihrer nuklearen Sprengköpfe und vom Grad der Härtung der Ziele mitbestimmt: Aber die Zielgenauigkeit beeinflußt diese bei weitem am stärksten. So hat etwa eine Verdoppelung der Treffgenauigkeit der angreifenden Waffe dieselbe Erhöhung der Zerstörungswahrscheinlichkeit zur Folge wie eine Verachtfachung der Sprengkraft. Für die militärische Anwendung am wichtigsten ist, daß man also bei sehr hohen Zielgenauigkeiten mit kleineren atomaren Ladungen denselben gewünschten Effekt erzielen kann. Denn dadurch würden die unerwünschten »Kollateralschäden« – v.a. Opfer in der Zivilgesellschaft – geringer und die Möglichkeit näherrücken, »präzise, selektive Schläge« gegen rein militärische Ziele zu führen. In der Pershing II ist/war die Kombination höchste Zielgenauigkeit/geringe Sprengkraft gut realisiert.

Wie stellt sich der aktuelle Stand der Zielgenauigkeit und der aus ihr resultierenden Hartzielzerstörungsfähigkeit real dar?

Die ersten ICBMs verfehlten ihre Ziele im Durchschnitt noch um mehrere Kilometer; in den 70er Jahren waren es einige hundert Meter, in der 2.Hälfte der 80er Jahre erreichen die treffsichersten strategischen Raketen als Höchstwert etwa 100 m Treffgenauigkeit auf interkontinentalen Reichweiten. Als qualitative Trends waren zu verzeichnen: Sowjetische ICBMs hinkten und hinken den amerikanischen in der Genauigkeit deutlich hinterher; durchschnittlich um sieben Jahre, wenn man es mit Zeitabständen zu fassen versucht. U-Boot-abgeschossene SLBMs waren in der Vergangenheit immer wesentlich ungenauer, was hauptsächlich verursacht wurde durch die Schwierigkeit, den genauen Abschußort des fahrenden U-Bootes präzise genug zu bestimmen. Dieser Abstand zwischen ICBM und SLBM wurde jedoch von den USA seit Beginn der 80er Jahre mit den SLBM Trident I und Trident II tendenziell aufgehoben: Trident I erreichte als erste SLBM eine Zielgenauigkeit, die der einer modernen ICBM vergleichbar war; Trident II (gegenwärtig in der Flugerprobung) stößt mit in den neuen Rekordbereich von Genauigkeiten um 100 m vor. Für die sowjetischen SLBM ist ein ähnlicher Trend bis heute nicht auszumachen. Der Weltrekordinhaber bei den strategischen Raketen ist die MX mit 100 m Zielgenauigkeit; man spricht davon, daß ihr Lenksystem im Vergleich mit anderen ICBMs einer anderen Generation angehöre. Als Vergleichszahl interessant ist die Zielgenauigkeit der nicht-strategischen (Reichweite knapp 2000 km) und die der Verschrottung geweihten Pershing II : Nurmehr 40 m, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Während die bis 1985 zielgenaueste ICBM, die Minuteman III A, gegenüber Silos mit einer typischen gegenwärtigen Widerstandsfähigkeit rechnerisch knapp 75% Zerstörungswahrscheinlichkeit erreicht, sind es für die MX, die einen um 10% kleineren Sprengkopf hat, fast 99%. D.h., die neueste Raketengeneration ist (rechnerisch) in der Lage, gegenwärtige ICBM-Silos nahezu mit Sicherheit ausschalten zu können. Summiert man die inzwischen vorhandene Hartzielzerstörungsfähigkeit aller Raketen in den Arsenalen von USA und UdSSR zusammen, kommt man auf das beunruhigende Ergebnis, daß beide Seiten damit mehr als 97% Zerstörungswahrscheinlichkeit gegen die Silos des Anderen haben (wobei jeweils mehrere Raketen ein Silo angreifen würden). Eine analoge Gegenüberstellung derselben Daten, die Kosta Tsipis 1974 vorgenommen hatte, zeigte noch beide ICBM-Arsenale klar im sicheren Bereich. Die Verwundbarkeit der ICBM-Silos ist also in den letzten 15 Jahren sehr schnell gewachsen – heißt das, daß beide Seiten kurz vor der Erlangung einer Erstschlagsfähigkeit stehen?

Nein; was durch diese Zahlen belegt wird, ist eine reale, ernstzunehmende, destabilisierende Tendenz, aber sie erfassen nicht, ob es eine konkrete rationale Option für einen Counterforce-Angriff gibt. Auch wenn man durch den Einsatz des allergrößten Teils der eigenen Raketen 97% der ICBM der anderen Seite ausschalten könnte, bliebe mit den auf absehbare Zeit unverwundbaren U-Boot-Raketen ein allemal ausreichendes Zweitschlagspotential bestehen. Solange nicht erreicht werden kann, daß diese unbeschädigten SLBMs nicht eingesetzt werden oder sie sonstwie entwertet werden können, bleibt also ein Erstschlag nach wie vor eine selbstmörderische Option. Hochgradige Silo-Verwundbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Erstschlagsfähigkeit (rationales Handeln vorausgesetzt).

Die realen Konsequenzen der zunehmenden Silo-Verwundbarkeit liegen in zwei Richtungen: Zum einen wird dadurch die Rüstungsdynamik angefacht. So hat die UdSSR mit ihren neuesten ICBMs, SS 24 und 25, begonnen, von der ortsfesten Stationierung zu einer mobilen auf LKW und Eisenbahn überzugehen, und dieser Trend wird sich auf beiden Seiten verstärkt fortsetzen. Denn das Beweglich-Machen der Ziele ist die natürliche Antwort auf höchste Treffsicherheit gegen Ziele mit fixierten Koordinaten. Mobilstationierung kompliziert aber erheblich die gängige Satelliten-Überwachung, weswegen die USA in den START-Verhandlungen den Verzicht darauf verlangten. Zum anderen ist es irritierend, aber Fakt, daß die Verwundbarkeit in den Köpfen und den realen Entscheidungen vieler Militärs und Politiker offenbar doch zu einem Gutteil mit der Möglichkeit einer Erstschlagsfähigkeit gleichgesetzt wird.

Ein typisches Denkmuster in strategischen Spielen setzt darauf, daß begrenzte, kontrollierte, gar »chirurgische« Schläge geführt werden können, die vom Gegner nicht ähnlich begrenzt, sondern nur durch eine Eskalation auf höhere Ebenen vergleichbar beantwortet werden können. Von solch einer Eskalation, bei der er nichts zu gewinnen habe, sondern nur das Schadensausmaß sich vergrößere, könne der Gegner abgeschreckt werden – hofft man. Für solche Szenarios sind natürlich hochzielgenaue Waffen, die mit geringen Sprengladungen auskommen, von größtem Interesse. In der Studie »Discriminate Deterrence« spielt dies eine zentrale Rolle; zugespitzt wird dort die Erwartung geäußert, daß die Zielgenauigkeits-Entwicklung von ICBMs im nächsten Jahrzehnt so weit getrieben werden könne, daß sie gehärtete Silos mit konventionellen Gefechtsköpfen ausschalten können. Sollte das zutreffen – was allerdings recht zweifelhaft ist – böte es den strategischen Planern eine faszinierende Option: Strategische Kernwaffen des Gegners mit nicht-nuklearen Mitteln auszuschalten. Wollte er dann auf gleicher Ebene zurückschlagen, müßte er als erster die nukleare Schwelle überschreiten – vorausgesetzt, er verfügt nicht über ähnlich zielgenaue Waffen. Solche Präzisionslenkung trauen die Amerikaner aber bisher nur sich selbst, nicht aber den Sowjets zu. Die Konsequenz einer solchen technischen Entwicklung würde mit Gewißheit nicht das Überflüssigwerden der Nuklearwaffen sein und die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Krieges nicht senken, sondern vergrößern.

Es ist durchaus vorstellbar, ein gehärtetes Raketensilo rein konventionell zu zerstören, wie eine Studie der RAND-Corporation 1983 meinte: Technische Voraussetzung dafür ist, das Silo exakt auf den Deckel – also mit Null Meter Zielverfehlung – zu treffen. Denn dann braucht das Silo nicht durch die schiere Explosionskraft einer Atomwaffe zerstört zu werden, sondern es kommt nur auf die Zertrümmerung des Silodeckels und die Beschädigung des Siloinhalts, der Rakete, an. Konventionelle Hohlladungen können aber meterdicken Beton ohne weiteres durchdringen. Nötig wäre es also, die Technologien der selbstzielsuchenden Waffen wie etwa von Panzer- und Luftabwehrraketen übertragungsfähig für Interkontinentalraketen zu machen. Es müßte die Technologie intelligenter, »gemarvter« ICBM/SLBM gemeistert werden: MARV kommt von Manouvering Reentry Vehicles, lenkbare Wiedereintrittskörper. Denn bisher hatten die Sprengköpfe der ballistischen Raketen, wenn sie nach ihrem Flug durch den Weltraum wieder in die Atmosphäre eintraten und auf das Ziel zustürzten, keine Möglichkeit einer Korrektur ihrer Flugbahn mehr. Intelligente MARV-Gefechtsköpfe müßten zum einen über geeignete Steuerungsmechanismen für die Wiedereintrittsphase und zum anderen über die Fähigkeit zur Zielerkennung und -suche verfügen. Die erste ballistische Rakete, die einen solchen MARV-Kopf besaß, ist/war die Pershing II und entsprechend ist/war sie auch die zielgenaueste. Sie benutzt gewöhnliche aerodynamische Flügel zur Kurskorrektur und nimmt im Flug ein Radarbild vom Zielgebiet auf, vergleicht es mit einem im Bordcomputer vorab gespeicherten und berechnet die nötigen Bahnänderungen. Eine Zielverfehlung von Null Metern ist damit nicht erreichbar; sie betrug etwa 40 m. Auf dieser Stufe kann die MARV-Technologie jedoch noch nicht auf ICBM/SLBM übertragen werden; der nötige Aufwand an Platz und Gewicht ist viel zu groß. Beispielsweise ist der Pershing-II-Wiedereintrittskörper, der einen einzelnen 10-20 kt-Sprengkopf enthält, schwerer als das Wurfgewicht der Minuteman-III-ICBM, die gegenwärtig mit drei MIRV-Sprengköpfen à 335 kt bestückt ist. Außerdem dürften die enormen Wiedereintrittsgeschwindigkeiten auf interkontinentalen Reichweiten, die zu starker Erhitzung der Gefechtsköpfe und der Bildung einer wenig transparenten Plasmawolke um sie herum führen, die Radarlenkung der Pershing erblinden lassen. Das Ziel der MARV-Entwicklung ist, die Fähigkeiten der Pershing in die vorhandenen ICBM-Wiedereintrittskörper zu inkorporieren (und für konventionelle Sprengköpfe sie noch stark zu steigern), statt sie durch zusätzliche äußere Aufbauten zu erreichen. Von diesem technisch äußerst schwierigen Ziel ist man noch weit entfernt.

Um sich ihm zu nähern, gibt es eine unabdingbare Voraussetzung: Raketentestflüge. Wenn eine Lenktechnologie entwickelt werden soll, die solch extremen Anforderungen wie der exakten Zielsuchlenkung eines mit ca. 7 km pro Sekunde in die Atmosphäre wiedereintretenden MARV-Gefechtskopfes genügen soll, ist es unmöglich, diese ohne realistische Tests zur Einsatzreife zu bringen. Was am zugespitztesten für die MARV-Technologie gilt, trifft aber auch generell für die Entwicklung neuer Raketen mit verbesserten Leistungsdaten, v.a. höherer Zielgenauigkeit, zu: Tests unter realen Einsatzbedingungen – d.h. Testflüge – sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Entwicklungsprogramms. Eine ICBM wird, bevor sie in Dienst gestellt wird, rund 20mal testgeflogen, eine SLBM rund 30mal. Beispielsweise soll die Trident II in diesen Tagen ihren 20. F.u.E.-Flug unternehmen, zugleich der erste vom getauchten U-Boot aus; die bisherigen Tests fanden unter erleichterten Bedingungen von Startrampen an Land aus statt.

So anspruchsvoll und wichtig für die Überprüfung der Raketenkonstruktion eine genaue Beobachtung von Details ist, so einfach ist es auf der anderen Seite, überhaupt festzustellen, daß ein Raketentest stattfindet: Während der Startphase werden die heißen Triebwerksabgase von den Infrarot-Detektoren der Frühwarnsatelliten erfaßt; beim ballistischen Flug über etliche Tausend Kilometer Reichweite steigt die Rakete auch über 1000 km hoch in den Weltraum auf und kann somit leicht von Radars erfaßt werden. Zu verifizieren, ob Raketentestflüge vorgenommen werden oder nicht, ist also für die USA wie die UdSSR mit den vorhandenen Beobachtungsmöglichkeiten zuverlässig möglich.

Es gibt Behauptungen (die in Reaktion auf den Vorschlag eines Raketenteststopps aufgestellt wurden), daß Raketentestflüge für die Raketenentwicklung nicht zwingend notwendig seien, daß sie durch andere Testmethoden und Simulationen am Boden, die nicht verifizierbar sind, ersetzt werden könnten. Eine Betrachtung allein schon der veröffentlichten Testerfahrungen lehrt, daß das ausgeschlossen ist. Immer wieder werden erst im Testflug gravierende Konstruktionsmängel aufgedeckt, die zuvor nicht erkannt wurden. Von 8 in den 80er Jahren entwickelten neuen ballistischen Raketen der Supermächte versagten beim ersten Testflug 5 vollständig. Da mit neuen Raketentypen immer neue Leistungsgrenzen (z.B. mehr Zielgenauigkeit) erreicht werden sollen, müssen neue, unerprobte Technologien angewendet werden, bzw. alte weiter ausgereizt werden; ohne Testmöglichkeit kann das Militär sich nie darauf verlassen, daß die projektierten Werte tatsächlich geschafft werden. Die so zielgenaue Pershing II verfehlte im 2.Testflug das Ziel um nicht weniger als 6,5 km, nachdem sie im ersten Testflug wenige Sekunden nach dem Start explodiert war.

Erfreulicherweise zeigt auch eine Betrachtung des technologischen Flusses zwischen ballistischen ICBM/SLBM und solchen Raketen, die Satelliten u.ä. in den Weltraum transportieren, daß dies keine taugliche Umgehungsmöglichkeit für einen Raketenteststopp schafft.

Die Raketentestflüge bieten daher der Rüstungskontrolle den Ansatzpunkt, um auf die Raketenentwicklung bremsend und einfrierend einzuwirken. Die Basis für verbesserte Raketenleistungen wird durch mannigfache technische Neuerungen auf den verschiedensten Feldern geschaffen; auf derlei Laborentwicklungen hat die Rüstungskontrolle natürlich keinen Zugriff. Aber auf dem Weg vom Labor zum ausgereiften, funktionsfähigen Großwaffensystem sind die Raketentestflüge ein unerläßliches Kettenglied, an dem die Rüstungskontrolle den Hebel ansetzen kann.

Testflüge finden nicht nur während der Entwicklungsphase einer neuen Rakete statt, sondern begleitend während der ganzen operationalen Stationierungsdauer. ICBM wie die MX, die Minuteman III oder die sowjetische SS 18 werden jeweils 6-8mal jährlich getestet, um ihre unverminderte Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit zu überprüfen. Neben anderen Raketenteilen unterliegt v.a. das Lenksystem während der Stationierung im Silo einer bedeutenden Beanspruchung, weil ständige sofortige Einsatzbereitschaft der Rakete verlangt, daß gewisse Stabilisierungskreisel im Lenksystem permanent rotieren und regelmäßig nachjustiert werden. Ohne operationale Testflüge würde die »confidence« in das exakt plangemäße Funktionieren der Rakete mit der Zeit sinken.

Ein Raketenteststopp würde daher in zwei Richtungen wirken: Erstens würde er die Entwicklung neuer, immer zielgenauerer Raketen verhindern. Insbesondere der Einstieg in die MARV-Technologie, das wesentliche Zukunftspotential bezüglich der Zielgenauigkeit, würde damit verunmöglicht. Zweitens würde er zu einer Entschärfung der schon entstandenen Situation mit sehr hohen Silo-Verwundbarkeiten auf beiden Seiten führen, weil jegliche Erwägung eines Erstschlages gegen die gegnerischen Silos natürlich höchste »confidence« in die Raketen voraussetzt – angesichts der Konsequenzen im Falle des Fehlschlags. In den Worten des oben zitierten Stansfield Turner: „Mit der Zeit würde das Ergebnis des Nicht-Testens sein, daß, während die Raketen hinreichend zuverlässig und genau bleiben würden, um eine allgemeine Abschreckung aufrechtzuerhalten, sie nicht als zielgenau und zuverlässig genug für einen ersten entwaffnenden Schlag betrachtet werden könnten.“

Kurz: Wenn das Einfrieren der rüstungstechnologischen Dynamik bei den interkontinentalen ballistischen Raketen politisch gewünscht wird, ist eine Möglichkeit dazu gegeben.

Dr. Udo Schelb ist Physiker in Marburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/1 1989-1, Seite