The Responsibility to be Responsible
Über Außenpolitik und Verantwortung
von Hanna Pfeifer und Kilian Spandler
„Im Jahr 2014 scheint unsere Welt aus den Fugen geraten“, resümierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (2014c) jüngst die globalen Konflikte und Krisen, mit denen sich die Weltgemeinschaft konfrontiert sieht. Angesichts der sich wandelnden Herausforderungen, so argumentieren derzeit viele Spitzenpolitikerinnen,1 müsse die deutsche Außenpolitik ihre Rolle in der Welt überdenken. Spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 ist das Thema aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken. Die Bundesregierung scheint dabei mit der Tradition brechen zu wollen, Außenpolitik als Elitenprojekt zu begreifen: Zu Beginn des Jahres stieß das Auswärtige Amt die Initiative »Review 2014 - Außenpolitik Weiter Denken« an. Hier sollen deutsche und internationale Vertreter aus Diplomatie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu Wort kommen, um ihre Visionen für Ziele und Mittel der deutschen Außenpolitik zu diskutieren und in den Willensbildungsprozess einzubringen. Der nachfolgende Beitrag basiert auf einer kritischen Auseinandersetzung mit den Forderungen nach einer neuen deutschen Rolle, die im Rahmen dieses Projektes veröffentlicht wurde (Spandler/Pfeifer 2014).
Als Fluchtpunkt der aktuellen Debatte um die deutsche Außenpolitik kristallisiert sich immer stärker der Begriff der Verantwortung heraus. Das gilt für die Beiträge des Review-Projekts (Review 2014) ebenso wie für die Spitzenvertreterinnen aus der Politik. „Ich habe das Gefühl, dass unser Land eine Zurückhaltung, die in vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen sollte zugunsten einer größeren Wahrnehmung von Verantwortung“, schrieb etwa Bundespräsident Joachim Gauck der Bundesregierung ins Stammbuch (Gauck 2014). Auch der Außenminister gab zu bedenken, Deutschland trage „Verantwortung für [sein] Nicht-Handeln genauso wie für [sein] Handeln“ (Steinmeier 2014d) und müsse daher „bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen“ (Steinmeier 2014a). Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen schließlich gab zu Protokoll: „Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.“ (von der Leyen 2014a)
Die Proliferation des Verantwortungsbegriffs im Kontext der deutschen Außenpolitik lässt aufhorchen, sind doch klassische Kategorien dieses Diskurses eher Interessen und deren Durchsetzung oder Werte und deren Erhalt. Auffällig ist zudem, dass der neue Verantwortungsbegriff merkwürdig inhaltsleer bleibt, weshalb es gerechtfertigt erscheint, ihn als „Nebelkerze“ zu bezeichnen, wie es einer der Review-Kommentatoren tat. Arvid Bell (2014) wies zu Recht darauf hin, dass Verantwortung je nach Kontext „von mehr Engagement zur friedlichen Lösung internationaler Konflikte über mehr Einsatz für ein vereintes Europa bis hin zu mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen“ nahezu alles bedeuten könne. Der Begriff der Verantwortung suggeriert damit Eindeutigkeit, wo es eigentlich kontrovers zugehen sollte. Was also bleibt, wenn der Nebel sich lichtet?
Die Logik der neuen deutschen Verantwortung
Die momentane Debatte um die neue deutsche Verantwortung lässt sich als Reaktion auf ein bereits seit einigen Jahren spürbares Spannungsfeld deutscher Außenpolitik deuten. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Zeit unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges standen noch relativ deutlich unter dem Diktum deutscher Zurückhaltung, das auch im Rollenmodell der so genannten Zivilmacht2 seinen Ausdruck fand. Schon seit einigen Jahren werden aber Stimmen lauter, die ein gesteigertes Engagements fordern. In diesem Kontext drängen neue - oder vielmehr: neu bemühte - Logiken in den politischen Diskurs: Es findet eine Geopolitisierung und eine Moralisierung der deutschen Außenpolitik statt.
Geopolitisierung
Der geopolitische Aspekt der Debatte zeigt sich vor allem in der Begründung, warum gerade Deutschland mehr Verantwortung übernehmen solle. Diese Argumente werden einerseits von den westlichen Partnern an die deutsche Außenpolitik herangetragen, tauchen andererseits aber auch im innerdeutschen Diskurs immer wieder auf. Verwiesen wird hier auf die Position Deutschlands als größter Staat in der Mitte Europas und auf seine wirtschaftliche Stärke. Beides mache ein gesteigertes Engagement unentbehrlich. So argumentierte Außenminister Steinmeier zum Auftakt des Review-Prozesses: „Deutschland ist ein bisschen zu groß und wirtschaftlich zu stark, als dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie kommentieren könnten.“ (2014b; ähnlich Gauck 2014 und von der Leyen 2014a)
Diesen Äußerungen liegt die implizite Annahme zugrunde, dass sich die internationale Rolle und damit die außenpolitischen Leitlinien eines Staates aus scheinbar objektiven Faktoren wie seiner geographischen Verortung, der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft ableiten lassen. Je gewichtiger diese Determinanten, desto mehr liege das Auftreten als Ordnungs- und Gestaltungsmacht im natürlichen Interesse des Landes - sei es um ein Machtvakuum zu verhindern oder um den Zugang zu Märkten und Ressourcen zu sichern. Aus dieser Perspektive konstituiert sich internationale Politik in erster Linie als Konkurrenz um Einflusssphären.
Dass dieses Paradigma nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa an Bedeutung gewinnt, zeigt sich im Ukrainekonflikt. Was als innerstaatlicher, soziopolitischer Konflikt begann, eskalierte auf Grundlage der geopolitischen Logik in ein Tauziehen um die Hegemonie über ein strategisch zentrales Territorium zwischen Ost und West. Beide Parteien werfen sich dabei vor, sie operierten unter den Vorzeichen eines neuen Kalten Krieges. Auch die europäischen Staaten trifft dieser Vorwurf nicht zu unrecht. Russland sieht sich durch die Osterweiterung der NATO und die Östliche Partnerschaft der EU mit expansiven Ordnungsbestrebungen des Westens konfrontiert. Die Ukraine-Krise ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Folge des neuerlichen Aufkeimens des geopolitischen Denkens in Europa. Die Verantwortungsrhetorik verschleiert jedoch den Blick auf solche Zusammenhänge, indem sie das Denken in Einflusssphären zunehmend als Bestandteil einer »normalisierten« deutschen Außenpolitik begreift.
Moralisierung
Die moralisierende Dimension der Debatte wird bei der Frage unverkennbar, für wen und für was die deutsche Außenpolitik Verantwortung trage. Hier wird mit dem Argument moralischer Notwendigkeit operiert, was sich exemplarisch an den Waffenlieferungen an die Peschmerga im Irak zeigt. Mit dieser Entscheidung brach die deutsche Außenpolitik mit einem Jahrzehnte währenden Prinzip: dem selbst auferlegten Verbot, Waffen in Krisengebiete zu liefern.
Unabhängig von der Frage, ob es gute Gründe für die Waffenlieferungen gibt, ist dieser Schritt bemerkenswert. Zwar gab es auch zuvor umstrittene Entscheidungen in diesem Feld - man denke etwa an Waffenlieferungen in Länder der arabischen Halbinsel und des Nahen Ostens. Eine Waffenlieferung mit dem dezidierten Ziel, eine Konfliktpartei offener Kampfhandlungen zu unterstützen, ist allerdings ein Novum. Legitimiert wurde die grundlegende Kehrtwende, indem die Waffenlieferungen an die Kurden als alternativloses moralisches Gebot konstruiert wurden. Die Verteidigungsministerin formulierte dies in einem hypothetischen Imperativ: „Wenn sich ein Völkermord nur mit deutschen Waffen verhindern lässt, dann müssen wir helfen.“ (von der Leyen 2014b) Kanzlerin Angela Merkel gar stellte alle Kritiker der Entscheidung auf die falsche Seite der Geschichte, als sie erklärte: „[Wir] haben ja nur zwei Möglichkeiten: Wir liefern jetzt etwas und tragen dazu bei, dass diesem Treiben dieser Terrormilizen ein Ende gesetzt wird und verhindern damit einen Genozid oder mehrere Genozide; oder aber wir sagen, das Risiko ist uns zu groß. [...] Und sich da einfach abseits zu stellen, das war für uns [...] keine Option.“ (Merkel 2014)
Wer sich den Forderungen nach einem deutschen Eingreifen widersetzt, macht sich aus dieser Sicht mitschuldig am Völkermord.
Kritik der neuen deutschen Verantwortung
Diese -alten -neuen Gedanken lösen das etablierte außenpolitische Leitbild Deutschlands nicht grundsätzlich ab. Das wird deutlich, wenn mit Hanns W. Maull einer der Väter des Zivilmachtskonzepts schreibt: „[M]ilitärische Instrumente der Außenpolitik [werden] wohl auch in Zukunft immer wieder durch Friedenseinsätze, militärische Beiträge zum Staatsaufbau oder durch militärische Erzwingungsmaßnahmen Beiträge zu einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen leisten müssen. Deutschland kann und darf sich seiner Verantwortung in diesem Zusammenhang nicht entziehen.“ (Maull 2014)
Im Diskurs der neuen deutschen Verantwortung wird der Zivilmachtidentität also ein Konzept zur Seite gestellt, das alternative Legitimationsmuster für außenpolitisches Handeln ermöglicht und damit dessen Handlungsspielraum erweitert. Nun ist die Bereitschaft der Entscheidungsträgerinnen, ihr Handeln im öffentlichen Diskurs anhand bestimmter Leitprinzipien zu begründen und zu rechtfertigen, an sich begrüßenswert. Problematisch sind allerdings zwei Effekte des verantwortungszentrierten Diskurses.
Entpolitisierung
Zum einen leistet der Diskurs einer Entpolitisierung der außenpolitischen Debatte Vorschub. Der rhetorische Bezug auf quasi-objektive Determinanten und moralische Notwendigkeiten erzeugt eine äußerst wirksame Metaphorik der Unausweichlichkeit, die nur schwer hinterfragt werden kann (man denke an die vermeintliche Alternativlosigkeit der Krisenpolitik in der Eurozone): Deutschland habe angesichts der Realitäten keine Wahl, als in den Krisenregionen dieser Welt Verantwortung für die großen liberalen Errungenschaften wie Menschenrechte, Freiheit oder Demokratie zu übernehmen. Bisweilen mischt sich hier das nationale Narrativ der Befreiung, Befriedung und Läuterung Deutschlands mit dem pastoral-moralischen Imperativ, diese Werte mit allen Mitteln zu verteidigen. So fordert Bundespräsident Gauck:
„Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine ganz besondere Verantwortung für heute und morgen. [...] Lassen Sie uns also nicht die Augen verschließen, vor Bedrohungen nicht fliehen, sondern standhalten, universelle Werte weder vergessen noch verlassen oder gar verraten, sondern gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie glaubwürdig vorleben und sie verteidigen.“ (Gauck 2014)
Wie schon der US-amerikanische Neokonservatismus basiert dieser „Gauckismus“ (Spandler/Pfeifer 2014) auf der mehr oder weniger stark religiös eingefärbten Annahme einer »mission civilisatrice«, die den aufgeklärten und fähigen Staaten eine Pflicht zur Ordnung einer chaotischen Welt auferlegt - auch wenn sich der konkrete Auftrag dieser Mission in der deutschen Variante gemäßigter ausnimmt als die maximalinvasiven Regime-Change-Phantasien der Neocons. Wer in dieser Argumentationsatmosphäre angesichts der Exzesse anderer westlicher Länder im Namen der Sicherheitspolitik vor bedingungsloser Unterstützung des liberalen Interventionismus warnt, wird schnell als Trittbrettfahrer der ordnungspolitischen Anstrengungen der Partnerländer oder als amoralische Zynikerin diffamiert.
Der Gauckismus verortet den Entscheidungshorizont der Außenpolitik in einem vorpolitischen Raum reiner Moral, sodass jedem Widerspruch der Ruch der Amoralität anhaftet. Entsprechend kann Widerspruch nur unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck erfolgen, denn wer möchte schon als verantwortungslos erscheinen, weil er ein verstärktes internationales Engagement der Bundesrepublik ablehnt? Konsequent wird in diesem Zusammenhang überdies ausgeblendet, dass die Forderungen anderer westlicher Staaten nach mehr »burden sharing« nicht etwa Appelle der Weltgemeinschaft als höchster moralischer Instanz an das deutsche Gewissen, sondern Formulierungen nationaler, überwiegend geopolitisch definierter Interessen sind.
Ganz konkret zeigt sich die entpolitisierende Wirkung eines solchen Außenpolitikverständnisses in der schleichenden Einflussverschiebung weg von der Legislative hin zur Exekutive. Die Waffenlieferungen an die Kurden etwa durften vom Bundestag nur noch abgenickt werden. Besonders alarmierend sind Forderungen nach einer „Flexibilisierung“ des Parlamentsvorbehalts bei Militäreinsätzen, wie sie die Stiftung Wissenschaft und Politik und der German Marshall Fund im Papier »Neue Macht - neue Verantwortung« vorschlagen, an dem auch der Planungsstab des Auswärtigen Amtes beteiligt war (SWP/GMF 2013, S.44). Dass die Außen- und Sicherheitspolitik kein Elitengeschäft sein darf, sondern in der Mitte der Gesellschaft ankommen müsse (siehe z.B. Gauck 2014), erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Lippenbekenntnis oder ein Versuch zur Ex-post-Legitimierung bereits gefasster Beschlüsse.
Simplifizierung
Die Entpolitisierung ist nicht nur demokratietheoretisch beunruhigend, sie verschärft gleichzeitig einen zweiten bedenklichen Zug der Debatte, nämlich ihre Tendenz, die Orientierung deutscher Außenpolitik auf simple Dichotomien wie »Ordnung« versus »Bedrohung« zu verengen. Verantwortung gilt in diesem Sinne immer der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Die Politik gibt dadurch den Anspruch auf, die Bedingungen und Folgen jener Ordnung zu reflektieren und zumindest gedanklich zu transzendieren. Insofern überrascht es nicht, dass die deutsche Außenpolitik zunehmend wie eine Getriebene immer neuer Krisen wirkt. Dass die Grundlagen der bestehenden internationalen Ordnung möglicherweise die Bedingungen für ihre Destabilisierung schaffen - etwa durch ökonomische Ungleichheit, ökologischen Raubbau und die Aushöhlung lokaler soziopolitischer Strukturen durch fehlgeleiteten Interventionismus -, diese Überlegung ist zu viel der Dialektik für das Weltbild der neuen deutschen Verantwortung.
Vielmehr sehen dessen Verfechter Deutschland auf der Seite des Guten im Kampf gegen das Böse. Wie schnell eine solche Zweiteilung an ihre Grenzen stößt, zeigen die Krisenherde des Nahen Ostens. Ohne Zweifel fordern die Gräueltaten des Islamischen Staates (IS) das moralische Gewissen der Menschheit heraus. Doch zugleich zeigt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung, dass die Bedingungen für den Aufstieg der Fundamentalisten auch in der kurzsichtigen Strategie des Westens liegen, der sich in der Region je nach politischer Großwetterlage stets mit neuen Feinden und Partnern konfrontiert sieht. In seinem Vormarsch profitiert der IS von den schwachen staatlichen Strukturen und der sektiererischen Politik, die deutsche Bündnispartner nach ihrer Intervention im Irak hinterließen, ebenso wie von mutmaßlichen Spenden aus den autokratischen Ölstaaten der arabischen Halbinsel, mit denen der Westen strategische Beziehungen unterhält. Dass die Antiterror-Koalition in dieser Situation auf die Duldung von Luftschlägen durch das Assad-Regime angewiesen ist, dass die Möglichkeit einer westlichen Kooperation mit dem ehemals zur Achse des Bösen zählenden Iran im Raum steht, dass die türkische Regierung einerseits die Operationen des Westens unterstützt, andererseits deren Hauptpartner im Irak, die kurdischen Peschmerga, als Bedrohung für die eigene territoriale Integrität empfindet und klein zu halten versucht - das alles verdeutlicht nur einmal mehr, wie wenig hilfreich ein Schwarz-Weiß-Denken in der globalen Politik ist. Wo auch immer die politische Komplexität sich der simplen Ordnung des Verantwortungsdiskurses entzieht, droht nicht nur eine kurzsichtige Politik, sondern diese wird aufgrund der Widersprüche zu ihren normativen Prinzipien auch auf ernsthafte Legitimationsprobleme zu Hause und in der Welt stoßen.
Alternativen zur neuen deutschen Verantwortung
Wie lassen sich diese negativen Diskurseffekte verhindern? Von zentraler Bedeutung muss das Bestreben sein, den Diskurs um die deutsche Rolle in der Welt zu repolitisieren und zu pluralisieren. Außenpolitik muss (wieder) als Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Identitäten, normativen Vorstellungen und Interessen verstanden werden, nicht als von geopolitischen Realitäten vorgezeichnetes Schachbrett. Politik machen bedeutet streiten, argumentieren und Widersprüche aushalten. Dies bewusst zu machen ist freilich eine Mammutaufgabe, sodass an dieser Stelle nur drei Ansätze zu ihrer Umsetzung aufgezeigt werden können.
Erstens ist es notwendig, die blinden Flecken der derzeitigen Debatte offenzulegen. Die Förderung eines über den krisenhaften Moment hinausgehenden historischen Bewusstseins kann helfen, die Risiken und Paradoxien einer geopolitischen Doktrin hervorzuheben. So rückt im Hinblick auf die Krisenherde des Nahen Ostens der Verweis auf die lange Geschichte westlicher Verstrickungen das Eskalationspotential von Waffenlieferungen ins rechte Licht. Und in Bezug auf den Ukraine-Konflikt lässt sich anhand des KSZE-Prozesses das deeskalierende Potential eines institutionellen Rahmens aufzeigen, der Sicherheit nicht als Nullsummenspiel, sondern als Kollektivgut begreift (Hauswedell 2014).
Zweitens müssen die Verfechterinnen der Verantwortungsrhetorik dazu gedrängt werden, implizite Annahmen über deutsche Interessen offenzulegen und sich klar über ihre langfristigen Ordnungsvorstellungen und deren normative Implikationen zu äußern. Für was für eine Welt soll sich deutsche Politik einsetzen? Wer soll daran wie teilhaben können? Wie soll der fundamentale Zielkonflikt zwischen Ordnung und Gerechtigkeit vermittelt werden? Gerade die Tatsache, dass solche Annahmen und Ziele in der derzeitigen Debatte meist unausgesprochen bleiben, konfligierende Verpflichtungen und Visionen als konsistent dargestellt und Widersprüche in den eigenen Interessen und Werten verschleiert werden, erschwert derzeit eine fundierte politische Auseinandersetzung.
Schließlich müssen drittens alternative Ordnungs- und Rollenkonzepte aufgezeigt und beworben werden. Eine kritische Revitalisierung des Zivilmachtskonzepts wäre eine Möglichkeit, wobei insbesondere Fragen nach der Tragfähigkeit bestehender multilateraler Institutionen, der Demokratisierung der internationalen Ordnung und der Ausrichtung auf Prinzipien der Nachhaltigkeit zu klären wäre. Darüber hinaus bietet die Wissenschaft eine Vielzahl an weiteren analytischen Blickwinkeln und normativen Leitbildern, die den Diskurs über die deutsche Außenpolitik bereichern könnten.
Eine solche Öffnung des Diskurses für unterschiedlichste Verständnisse von der und Visionen für die Weltordnung ist dringend notwendig, um Außenpolitik zu betreiben. Andernfalls drohen die wohlklingenden Bekenntnisse zu einer neuen deutschen Verantwortung in monologischer Selbstreferenzialität zu versinken.
Anmerkungen
1) In diesem Beitrag verwenden wir aus Platzgründen jeweils entweder die männliche oder die weibliche Form; die jeweils andere ist dabei mitgemeint.
2) Für ein Überblicksmodell der Zivilmacht siehe Pfeifer (2012, S.23),orientiert v.a. an Maull (1999, S.4; 2007, S.75-77).
Literatur
Arvid Bell (2014): Die Nebelkerze der »internationalen Verantwortung«. Ein Schlagwort, drei Lesarten. review2014.de, 4.6.2014 .
Joachim Gauck (2014): Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen - Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. 31.1.2014.
Corinna Hauswedell (2014): Reflektierte Verantwortung für Friedensentwicklung! Gegen eine reflexhafte Sicherheitslogik. review2014.de, 23.6.2014.
Hanns W. Maull (1999): Germany and the Use of Force. Still a »Civilian Power«? Paper prepared for the Workshop on Force, Order and Global Governance - An Assessment of the U.S., German and Japanese Approaches. Universität Trier, Trierer Arbeitspapiere zur Internationalen Politik No. 2, S.1-35.
Hanns W. Maull (2007): Deutschland als Zivilmacht. In: Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann, Reinhard Wolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Außenpolitik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.73-84.
Hanns W. Maull (2014): Deutschlands außenpolitische Kontinuität ist richtig. Die Außenpolitik fliegt auf Autopilot, die Piloten bewältigen Turbulenzen. review2014.de, 2.7.2014.
Angela Merkel (2014): „Man muss miteinander sprechen“. Interview in der ARD, 24.8.2014.
Hanna Pfeifer (2012): Dilemmata wertegebundener Außenpolitik am Beispiel der deutsch-israelischen Beziehungen. Eine Betrachtung des Gazakrieges. Ludwig-Maximilan-Universität München, Münchner Beiträge zur Politikwissenschaft No. 11, S.1-150.
Review 2014: Außenpolitik Weiter Denken. review2014.de.
Kilian Spandler und Hanna Pfeifer (2014): Komplexität aufbauen statt abbauen. Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Beitrag zum »Review 2014«-Essaywettbewerb. review2014.de, 7.10.2014.
Frank-Walter Steinmeier (2014a): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz. 1.2.2014.
Frank-Walter Steinmeier (2014b): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Konferenz »Review 2014 - Außenpolitik Weiter Denken« am 20. Mai 2014 in Berlin.
Frank-Walter Steinmeier (2014c): Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der 69. Generalversammlung der Vereinten Nationen. 27.9.2014.
Frank-Walter Steinmeier (2014d): Schlussrede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Konferenz »Review 2014 - Außenpolitik Weiter Denken«, 20.5.2014.
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund of the United States (GMF) (2013): Neue Macht, neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch.
Ursula von der Leyen (2014a): Rede der Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz München. 31.1.2014.
Ursula von der Leyen (2014b): „Weltgemeinschaft muss Flüchtlingen helfen“. Interview in der Bildzeitung, 15.8.2014.
Hanna Pfeifer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Magdeburg sowie Vorstandsmitglied und Regionalleiterin Nahost und Nordafrika bei IFAIR - Young Initiative on Foreign Affairs and International Relations e.V. Kilian Spandler ist Lehrbeauftragter und Doktorand an der Universität Tübingen sowie Stellvertretender Regionalleiter Süd- und Ostasien bei IFAIR - Young Initiative on Foreign Affairs and International Relations e.V.