W&F 2014/3

Theater und zivile Konfliktbearbeitung

von Linda Ebbers

Frieden und Konflikt und Theater: Welche Verbindungen und Wirkungszusammenhänge gibt es zwischen diesen unterschiedlich anmutenden Bereichen. Konkret: Was machen Konflikte im Theater. Vor allem aber: Was macht Theater mit Konflikten? Inwieweit kann das Methodenspektrum des »Theaters der Unterdrückten« in der Tradition seines Begründers Augusto Boal zur Konflikttransformation beitragen und damit Frieden stiften? Der folgende Artikel stellt diese Theaterform vor, wie sie heute am Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro, Brasilien, praktiziert und weitergegeben wird, als eine kreative Methode der Konflikttransformation. Im Fokus des Textes steht das »Forumtheater«, welches anhand der Projektgruppe der »Marias do Brasil« dargestellt wird.

Die leidenschaftliche Auseinandersetzung auf der Bühne ist existenziell für das Theater, für das konventionelle wie für das Theater der Unterdrückten. Theater lebt von Widersprüchen und Konflikten und den davon ausgehenden Spannungen. „Im Theater ist der Konflikt Berechtigungsgrund der Inszenierung. Ein gutes Stück hängt von einem guten Konflikt ab.“ (Santos S.110) Das Theater der Unterdrückten nimmt Konflikte grundsätzlich als etwas Positives an: Sie sind Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand. Das Theater der Unterdrückten versucht Konflikte kreativ zu bearbeiten und gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Dabei folgt es der Annahme, dass Konflikte notwendig sind für Veränderungen und ein erhebliches Transformationspotenzial in sich tragen. Das Theater der Unterdrückten bietet einen »Ästhetischen Raum«1, in dem persönlich erlebte Konflikte, abstrahiert ins Kollektive, bearbeitet werden können. Hier können subjektive Erinnerungen und Emotionen projiziert und Techniken der Konfliktanalyse angewendet werden, um den Konflikt zunächst besser zu verstehen, ihn dialogisch zu bearbeiten und dann Handlungsalternativen zu erproben, mit dem Ziel, dass diese außerhalb des ästhetischen Raumes in der Realität Umsetzung finden. Augusto Boal, der »Vater« des Theaters der Unterdrückten, formulierte es so: „Theater der Unterdrückten heißt Auseinandersetzung mit einer konkreten Situation, es ist Probe, Analyse und Suche.“ (Boal 1989, S.68)

Das Theater der Unterdrückten

Das Theater der Unterdrückten ist ein dialogisches, partizipatorisches, politisches Theater, welches mit realen Konflikten – in der Sprache Augusto Boals: mit real durch die Teilnehmer erlebten Situationen von Unterdrückung – arbeitet und eine soziale Transformation dieser Konflikte anstrebt. Grundlage der in einem Gruppenprozess erarbeiteten Stücke sind konkrete Erlebnisse der Vergangenheit, die noch ungelöst sind und deren Veränderung in der Gegenwart für die Umsetzung in der Zukunft geprobt wird. „Sein ursprünglich politisch motiviertes Konzept umfasst […] Techniken, die von der politischen Aktionsmethode bis zum therapeutischen Verfahren reichen.“ (Neuroth 1994, S.34)

Für Boal kommt dem Dialog eine zentrale Bedeutung zu. Er strebt einen Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Schauspieler und Zuschauer an. Boal hebt die Grenze zwischen ihnen auf und entwickelt den »Espectador« (Zu-Schauspieler), eine Wortschöpfung aus den Begriffen »Zuschauer« und »Schauspieler«. Der Zuschauer kann aktiv in das Geschehen eingreifen und wird dadurch zum Schauspieler und anders herum. Die Bühne dient dabei der Probe für die Wirklichkeit, auf der alle Protagonisten die Transformation für die Realität erproben. Damit sind die zwei grundlegenden Prinzipien von Boals Theater der Unterdrückten beschrieben: zum einen die Transformation des Zuschauers in den Protagonisten der theatralen Aktion, zum anderen der Versuch, ausgehend von dieser Transformation eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen und sie nicht (wie im konventionellen Theater) »nur« zu interpretieren (Boal 2004, S.319). Die Methoden und Techniken des Theaters der Unterdrückten zielen auf die Befreiung aus und Überwindung von Unterdrückung und damit auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Theater der Unterdrückten will Transformationen auf verschiedenen Ebenen erreichen. Dabei ist die Transformation von Konflikten auf der intrapersonalen Ebene stets Ausgangspunkt und Voraussetzung, um Transformationen auf anderen Ebenen zu erreichen.

Theater ist in Boals Verständnis nicht einer bestimmten Gruppe vorbehalten. Das Theater der Unterdrückten ist nicht elitär oder exklusiv, denn nach Boal sind alle Menschen Schauspieler. Boal zielt darauf ab, jegliche Art von Subjekt- und Objektbeziehung aufzuheben. Er möchte, dass alle Menschen Protagonisten werden, also aktive handelnde Akteure auf der Bühne wie in der Wirklichkeit. Nach Boal ist die Essenz des Theaters „der Mensch, der sich selbst betrachtet. Der Mensch »macht« nicht nur Theater, er »ist« auch gleichzeitig Theater. Und neben der Tatsache, dass alle Menschen Theater »sind«, machen einige von ihnen zusätzlich noch Theater auf der Bühne.“ (Boal 2006, S.28)

Entstehungskontext und Entwicklung

Das Theater der Unterdrückten, sein Name und die Entwicklung dieser Theatermethoden sind in ihrem Entstehungskontext zu verstehen und in besonderer Weise mit dem Leben Augusto Boals, des brasilianischen Regisseurs, Pädagogen, Politikers und Autors, verbunden.

„Das Theater der Unterdrückten und seine Formen […] entstanden als Antwort auf die Repressionen in Lateinamerika, wo täglich Menschen auf offener Straße niedergeknüppelt werden, wo die Organisationen der Arbeiter, Bauern, Studenten und Künstler systematisch zerschlagen, ihre Leiter verhaftet, gefoltert, ermordet oder ins Exil gezwungen werden.“ (Boal 1989, S.67) In diesem Zitat beschreibt Boal die Situation zur Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika und seine reale Erfahrung, aufgrund seines politischen Theaters und als Leiter des Volkstheaters »Teatro Arena« in Sao Paulo während der brasilianischen Militärdiktatur (1969-1985) immer mehr unter Druck gesetzt worden zu sein. Die von Boal erlebten Repressionen reichten von der Zensur seiner Stücke bis hin zu Verhaftung und Folter. Boal floh zunächst nach Argentinien und Peru, später ins europäische Exil. Die verschiedenen Methoden und Techniken, die er zeitlebens weiterentwickelte und systematisierte, sind als Reaktion auf die soziale und politische Realität, in der er sich bewegte, zu verstehen.

Das noch in Brasilien entwickelte »Zeitungstheater« beispielsweise ist eine Methode politischen Theaters, um die Zensurbehörde zu umgehen. Im »Unsichtbaren Theater«, welches in Argentinien entstand, wird nicht nur die Grenze zwischen Schauspieler und Zuschauer aufgehoben, sondern es wird sich der Bühne vollkommen entledigt. Das Unsichtbare Theater findet im öffentlichen Raum statt und »spielt« mit den Reaktionen der Öffentlichkeit, die gar nicht erfährt, dass das, was da passiert, »Theater« ist. Um subtilere Unterdrückungsformen zu überwinden, auf die Boal vor allem während seines Exils in Europa gestoßen ist, entwickelte er die Techniken des »Regenbogens der Wünsche«. Mit diesen können internalisierte Konflikte, deren Ursprünge häufig in der Gesellschaft verankert sind, bearbeitet werden.

In Peru, im europäischen Exil und zurück in Brasilien entwickelte Boal Methoden, die Wirksamkeit auf verschiedenen Ebenen entfalten. So werden internalisierte Konflikte auf intrapersonaler Ebene, soziale Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene und Konflikte, deren Ursprung in der Gesetzgebung (bzw. im fehlenden Rechtsschutz) begründet sind, auf legislativer Ebene bearbeitet und letztlich zu überwinden versucht. Damit folgt Boal einem ganzheitlich-integrativen Ansatz der Konfliktbearbeitung.

Gründung des Zentrums des Theaters der Unterdrückten

Nach dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien (1985) entschloss sich Boal 1986, mit seiner Familie dauerhaft nach Brasilien zurückzukehren. 1989 gründeten einige seiner Mitarbeiter das Zentrum des Theaters der Unterdrückten (CTO) in Rio de Janeiro; Boal wurde sein künstlerischer Leiter. 1992 ließ sich Boal als Kandidat der Arbeiterpartei PT (Partido Trabalhador) für das Stadtparlament aufstellen und wurde, in der Kampagnenarbeit unterstützt durch das CTO, zum Abgeordneten gewählt. So zog er 1993 ins Stadtparlament von Rio de Janeiro ein und konnte die Mitarbeiter des CTO als seinen Mitarbeiterstab einstellen. „Das war für ihn die Möglichkeit mit Hilfe des [Theater der Unterdrückten] im Parlament direkte Demokratie zu praktizieren.“ (Staffler 2009, S.119) Dies war die Entstehungszeit des »Legislativen Theaters« (Teatro Legislativo), in der mithilfe des Theaters konkrete Gesetzentwürfe erarbeitet wurden. Fünfzehn mit dieser Methode entwickelte Gesetze wurden in Boals Mandatszeit bis 1996 verabschiedet.

Auch ohne politisches Mandat hatte Boal bis zu seinem Tod (2009) die künstlerische Leitung des CTO inne. Das CTO führte und führt bis heute in der Organisationsform einer Nichtregierungsorganisation Projekte u.a. in Schulen, Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und forensischen Einrichtungen durch. Außerdem bietet es Multiplikatorenausbildungen, Workshops und ein internationales Austauschprogramm für Interessierte an.

Transformation sozialer Konflikte

Die weltweit bekannteste und am häufigsten praktizierte Methode des Theaters der Unterdrückten ist das »Forumtheater«. Hier wird in einer Konfliktsituation gemeinsam mit den Zuschauern durch direkte theatrale Interaktion nach Handlungsalternativen gesucht. Das Forumtheater steht im Zentrum des Methodenspektrums des Theater der Unterdrückten und ist hinsichtlich seiner konflikttransformativen Potentiale besonders relevant.

Gegenstand des Forumtheaters ist ein real existierender, ungelöster Konflikt, der durch die Improvisation von Handlungsmöglichkeiten transformiert werden soll. Es können im Forumtheater sowohl antagonische als auch nicht-antagonische Konflikte bearbeitet werden. Bei antagonischen Konflikten verfolgen die Konfliktparteien unterschiedliche Interessen, die einander entgegenstehen. Bei nicht-antagonischen Konflikten besteht zwar eine Konfliktsituation, unabhängig davon streben aber beide Konfliktparteien nach Verständigung und Versöhnung. Das Theater der Unterdrückten arbeitet in der Regel mit asymmetrischen Konflikten, in denen eine Asymmetrie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten vorherrscht. Mittels des Theaters der Unterdrückten wird versucht, die ungleiche Verteilung bzw. Verfügbarkeit von beispielsweise Ressourcen, Macht und Handlungsoptionen zu überwinden.

Zentrales Merkmal dieser Methode ist die oben genannte Aufhebung der Trennlinien zwischen Schauspieler und Zuschauer. Bei der Aufführung eines Forumtheaterstückes kann der Zuschauer aktiv intervenieren. Die Person, die den Gruppen- und dramaturgischen Prozess begleitet hat, nimmt während der Aufführung eine intermediäre Funktion zwischen Bühne und Zuschauerraum ein und regt einen Diskurs über den Ausgang des Stückes an. Diese Rolle übernimmt der im Brasilianischen so genannte »Curinga« (im englischen Sprachgebrauch »Joker« genannt), dessen Rolle in vielen Punkten der des Konflikt-Facilitators (nach dem Begriffsverständnis des Konfliktforschers John Paul Lederach) im Prozess der Konfliktbearbeitung entspricht. Zur Diskussion stehen die Neutralität und Unparteilichkeit des Curinga, die von einem Mediator zu fordern sind. Der Curinga sollte nach Boal mit Bedacht seinen Arbeitsort (wo und mit wem er mit den Methoden arbeitet) wählen bzw. eine bewusste Positionierung für die Unterdrückten vornehmen, um dann im dialogischen Prozess einer Aufführung Neutralität wahren zu können. Dies ist erforderlich, damit Interventionen und Interaktionen im Schutzraum dargestellt werden und somit eine Diskussion sowie letztlich eine Reflexion angestoßen werden können.

„Es ist wahr, dass der Curinga, beispielsweise bei einer Forumtheater-Aufführung, seine Neutralität bewahren soll und nicht versuchen soll, seine eigenen Ideen durchzusetzen […] dies jedoch erst, nachdem er den Arbeitsort gewählt hat. Seine Neutralität kommt erst ins Spiel, wenn er seine Wahl getroffen hat.“ (Boal 2005, S.26)

Das Forumtheater bietet einen diskursiven und antiautoritären interaktiven Raum, einen Raum der Begegnung, in dem Reflexionen angebahnt sowie Bewusstwerdungsprozesse über Unterdrückungsmechanismen aktiviert werden. Dieser ästhetische Raum, der im Grunde überall, zum Beispiel durch eine gegenständliche Markierung im öffentlichen Raum oder auf einer Bühne in einem Theatersaal entstehen kann, ist ein »Schutzraum« und ein »Raum der Möglichkeiten«, in dem Konfliktalternativen erprobt und somit Handlungsspielräume erweitert werden können. Ihm wird eine friedensbildende Kraft im Sinne der Wissensgenerierung und der Erweiterung der Handlungsspielräume zugeschrieben. Verschiedene (Zeit-) Dimensionen lassen sich in ihm abbilden, er dient der Erinnerung (der Vergangenheit) und der Imagination (der Zukunft). Er ist formbar und gestaltbar; er setzt Erinnerungen frei, und Wünsche und Vorstellungen können in ihn hineinprojiziert werden. Durch die Retroperspektive können Konfliktursachen identifiziert und analysiert werden, durch die Zukunftsperspektive Lösungen für den Konflikt erarbeitet werden.

Im ästhetischen Raum können verschiedene Rollen und damit verschiedene Perspektiven eingenommen werden. Er bietet die Chance der Doppelung, sich selbst und zugleich den Charakter, in dessen Rolle geschlüpft wird, zu betrachten. Außerdem kann beobachtet werden, wie man selbst von anderen wahrgenommen wird. Der Protagonist muss sich entscheiden, wer er ist, da er sich im Raum, im Verhältnis zu den anderen und zu dem Konflikt positioniert. Dies regt eine intensive Auseinandersetzung und Reflexion über sich und seine Rolle im Konflikt, über die andere Konfliktpartei und den Konfliktgegenstand an. Einzelne Situationen können unter das Brennglas genommen und tiefer liegende Annahmen und Verhaltensweisen sowie Vergessenes bzw. Unterbewusstes an die Oberfläche gebracht werden.

Wenn die Konfliktbearbeitung im Forumtheater an ihre Grenzen stößt, wenn die Handlungsmöglichkeiten erschöpft sind und sich im Dialog von Bühne und Zuschauerraum bei einer Forumtheater Aufführung herausstellt, dass eine Konflikttransformation nicht erreicht werden kann, da z.B. bestimmte rechtliche Barrieren die Transformation be- oder verhindern, kann mit dem »Legislativen Theater« weitergearbeitet werden. Das legislative Theater schließt in der Praxis an eine Aufführung eines Forumtheaters an. Es werden dazu verschiedene Vertreter der Zivilgesellschaft, möglichst auch Politiker und Rechtsexperten, geladen, um gemeinsam mit den Schauspielern und Zu-Schauspielern Gesetzeslücken zu identifizieren und Gesetzesinitiativen zu erarbeiten.

Die Gruppe »Marias do Brasil«

Die »Marias do Brasil« (Marias aus Brasilien) sind brasilianische Hausangestellte, die in einem langjährigen Prozess durch die Anwendung verschiedenster Techniken des Theater der Unterdrückten Transformationen auf verschiedenen Ebenen erreicht und durch konkrete soziale und politische Aktionen gefestigt haben. Seit über einem Jahrzehnt wenden die Hausangestellten diese Techniken an und entwickelten zwei Forumtheaterstücke. In den Stücken werden u.a. aus gesellschaftlicher Diskriminierung und arbeitsrechtlicher Unterdrückung entstehende Konflikte sowie Konflikte zwischen ihren Arbeitgebern und ihnen als Arbeitnehmerinnen, wie z.B. sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, dargestellt und diskutiert. Ein anderes Beispiel ist die (nicht gesetzlich vorgeschriebene) Verpflichtung der Arbeitgeber, Zahlungen zur Absicherung der Hausangestellten im Falle von Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfällen zu leisten. Neben Bewusstwerdungsprozessen, der Analyse der Ursachen der Konflikte, der Transformation von individuellen und sozialen Konflikten wurden von den »Marias do Brasil« im dialogischen Prozess Gesetzesinitiativen erarbeitet und durch Kooperationen mit Gewerkschaften und anderen Organisationen die Verabschiedung und Umsetzung dieser Gesetze angestrebt. Die »Marias do Brasil« sind ein reales Fallbeispiel für das transformative Potenzial des Theater der Unterdrückten und seiner Wirkkraft auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen.

Chancen und Grenzen dieser Methode

Als Methode der zivilen Konfliktbearbeitung verzichtet das Theater der Unterdrückten auf Gewaltanwendung und fördert den konstruktiven Umgang mit Konflikten. Die Stärke der Methoden liegt in der umfassenden und ganzheitlichen Bearbeitung asymmetrischer Konflikte auf verschiedenen Ebenen, in denen ein klares Machtungleichgewicht vorherrscht.

Ausgangspunkt des Theaters der Unterdrückten ist der Mensch mit seiner subjektiven Konflikterfahrung, die im Gruppenprozess erweitert und im Kollektiv bearbeitet wird. Es wird davon ausgegangen, dass der Mensch unentdeckte Potenziale in sich trägt und durch den dialogischen und damit Wissen generierenden Aspekt im ästhetischen Raum selbst Handlungsalternativen für die Konflikttransformation erprobt. Dem ästhetischen Raum wird eine katalysatorische Versöhnungsfunktion zugeschrieben; in ihn werden Gefühle und Erfahrungen projiziert; er dient der Bewusstwerdung, Wissensgenerierung und Reflexion.

Das Theater der Unterdrückten, wie es am CTO praktiziert wird, kann mit dem Konfliktforscher J.P. Lederach als Konfliktlösungstraining und Empowerment-Werkzeug beschrieben werden, denn es setzt intrinsische Potenziale der Menschen frei und fördert den Beziehungsaufbau. Als Nichtregierungsorganisation setzt das CTO dabei an der Grasswurzelebene an und versucht, in andere gesellschaftliche Ebenen hineinzuwirken.

Das Theater der Unterdrückten positioniert sich in asymmetrischen Konflikten an der Seite der »Unterdrückten« und »empowert« zunächst diese. Konfliktbearbeitung im Sinne der Konfliktforscher Lederach und Galtung sollte von beiden Konfliktparteien ausgehen. Inwieweit trotz der Parteinahme im Theater der Unterdrückten ein Beziehungsaufbau über die Konfliktparteien hinweg möglich ist, bleibt vertiefend zu untersuchen und gegebenenfalls zu modifizieren. Im Hinblick auf die Möglichkeit, dass die Methode in Zukunft nicht nur punktuell ihre Wirkkraft entfaltet, sondern weiteren Eingang in die zivile Konfliktbearbeitung und eine breitere Anwendung findet, ist dieser Aspekt von besonderer Bedeutung.

Einige Praktiker des Theater der Unterdrückten haben die Methode bereits in Nachkriegsgesellschaften und Konfliktregionen angewendet und das Konfliktbearbeitungs- und Versöhnungspotenzial der Methode reflektiert, beispielsweise Barbara Santos im Sudan, Joffre Eichhorn in Afghanistan oder Hannah Reich im Libanon. Aus ihren Erfahrungen kann resümierend festgehalten werden, dass eine besondere Sensibilität im Umgang mit konfliktverstärkenden Narrativen in Post-Konfliktkontexten gefordert ist.

Als Methode, die Bewusstwerdungsprozesse anstößt, die der dialogischen Vergangenheitsbewältigung und der Beziehungsbildung dient, mit Hilfe derer Transformationen für die Zukunft angestrebt werden, sollte das Theater der Unterdrückten mehr Beachtung erhalten und stärker in die Praxis der zivilen Konfliktbearbeitung integriert werden. Denn Versöhnung und kollektives Erarbeiten einer gemeinsamen Vision für die Zukunft sind Wegbereiter des Friedens.

Anmerkung

1) »Ästhetischer Raum« im TdU meint Zuschauerraum einschließlich Bühnenraum, die sich durch Interaktion durchdringen.

Literatur

Augusto Boal (1989): Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt am Main: edition suhrkamp; aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2013.

Augusto Boal (2004): Jogos para atores e não atores, edicão revista e ampliada. Rio de Janeiro: Civilização brasileira.

Augusto Boal (2005): Teatro do Oprimido e outras poéticas políticas. Rio der Janeiro: Civilização brasileira.

Augusto Boal (2006): Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag, Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik Band III.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (2013): Wenn die Burka plötzlich fliegt. Einblicke in die Arbeit mit dem Theater der Unterdrückten in Afghanistan. Stuttgart: ibidem-Verlg. derselbe: Ohne die Menschen geht es nicht. Theater als Waffe des Friedens. W&F 3-2013.

Simone Neuroth (1994): Augusto Boals »Theater der Unterdrückten« in der pädagogischen Praxis. Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Hannah Reich (2014): Frieden stiften durch Theater. Konfessionalismus und sein Transformationspotential: interaktives Theater im Libanon. Bielefeld: transcript. dieselbe: Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume. Wissensgenerierung, Transformation und politische Öffentlichkeit. W&F 4-2010.

Barbara Santos (2008): Conflito + Diálogo= Transformacao. In: Antídoto. Seminario international de acoes culturais em zonas de conflitos. São Paulo: Itaú Cultural.

Armin Staffler (2009): Augusto Boal: Einführung. Essen: Oldib.

Linda Ebbers studierte Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Im Januar 2014 wurde ihre Studie »Darstellende Kunst und zivile Konfliktbearbeitung – Das Theater der Unterdrückten als kreative Methode der Konflikttransformation« im ibidem-Verlag veröffentlicht. Grundlage der Studie ist ein zweimonatiger Forschungsaufenthalt über das konflikttransformative Potenzial des Theater der Unterdrückten am Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro (Brasilien). Linda Ebbers lebt zur Zeit in Berlin und arbeitet in einem Frauenhaus.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/3 Die Kraft der Künste, Seite 37–40