W&F 1996/2

Tornados im Blindflug

Der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr lief an Parlament und Verfassungsgericht vorbei

von Reinhard Mutz

Auf dem Weg der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Streitmacht mit erweitertem Aufgabenspektrum markieren zwei Daten tiefgreifende Einschnitte. Am 12. Juli 1994 erlegte das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung auf, vor einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Zustimmung des Bundestages einzuholen. Am 30. Juni 1995 wandten Regierung und Parlament das Karlsruher Urteil zum ersten Mal an und führten es gleich ad absurdum: Was der Bundestag an diesem Tag auf Antrag der Bundesregierung nach kontroverser Debatte beschloß, deckte den nachfolgenden Einsatz der Bundeswehr nicht.

Die zweiwöchigen Luftschläge gegen die bosnischen Serben im Spätsommer 1995 (Operation Deliberate Force) waren die aufwendigste militärische Intervention im ehemaligen Jugoslawien und die massivste Kriegshandlung gegen eine der Konfliktparteien. Die Bundesluftwaffe nahm mit 14 Tornado-Kampfflugzeugen daran teil. Was immer der politische Zweck der Operation gewesen sein mag und inwiefern sie zur Beendigung des Balkankrieges beigetragen haben könnte – für die militärische Ausgestaltung deutscher Außenpolitik, die den Auflagen des Karlsruher Richterspruchs nachkommen muß, war sie der Präzedenzfall eines Kriegseinsatzes der Bundeswehr ohne parlamentarische Billigung.

Die Involvierung der Bundeswehr in den bosnischen Aufteilungs- und Aneignungskrieg erfolgte etappenweise, wobei die Übergänge zwischen humanitären, nichtmilitärischen und militärischen Aktivitäten fließend waren. Am einfachsten fällt die Zuordnung bei den Hilfsflügen für die Zivilbevölkerung. Ab Juli 1992 beteiligte sich die Bundeswehr an der Luftbrücke von Zagreb nach Sarajevo zur Versorgung der moslemischen Viertel der bosnischen Hauptstadt und ab März 1993 am Abwurf von Lebensmitteln und Hilfsgütern über unzugänglichen Kampfgebieten in Bosnien. Diese Versorgungseinsätze wurden von Transportmaschinen westlicher Luftwaffen geflogen, aber vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) koordiniert.

Unter der Regie der NATO standen vier Missionen im Luftraum bzw. an der Peripherie des Kriegsschauplatzes. Seit Juli 1992 überwachten Schiffe und Marineaufklärungsflugzeuge in der Adria das Embargo gegen Serbien und Montenegro. Im Oktober 1992 übernahm das integrierte NATO-Frühwarn- und Aufkärungsgeschwader AWACS die kontinuierliche Beobachtung des Konfliktgebietes aus der Luft (Operation Sharp Guard). Gegen die Mitwirkung der Bundeswehr an diesen beiden Missionen wandten sich die Organklagen der Bonner Opposition beim Bundesverfassungsgericht, die klären sollten, welche Grenzen das Grundgesetz Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte zieht. Mit den ersten Gefechten amerikanischer Kampfjets gegen serbische Luft- und Bodenziele in Bosnien im Februar bzw. April 1994 wurden die Maschinen des AWACS-Geschwaders in ihrer Zweitrolle als Feuerleitzentralen Teil aktiver Kriegshandlungen – und damit auch die deutschen Besatzungsmitglieder in den Aufklärungsflugzeugen.

Die anderen beiden NATO-Missionen fanden ohne Beteiligung der Bundeswehr statt: die Kontrolle des militärischen Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch Luftpatrouillen mit Kampfflugzeugen seit April 1993 (Operation Deny Flight) und die Vorbereitung bzw. Übung von Luftangriffen auf militärische Ziele in Bosnien. Die Bundesregierung vertrat die Auffassung, daß schon nach geltendem Verfassungsrecht Kampfeinsätze der Bundeswehr außerhalb des Bundes- wie des Bündnisgebietes zulässig seien und daß es ihr zukomme, nach Ermessen davon Gebrauch zu machen. Sie enthielt sich aber wegen der unrühmlichen Rolle der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien einer direkten deutschen Mitwirkung an den im engeren Sinne militärischen Missionen der westlichen Allianz. Mit derselben Begründung stellte die Bundesrepublik auch kein eigenes Kontingent für UNPROFOR, die Blauhelm-Truppe der Vereinten Nationen, die mit einem lediglich friedenserhaltenden Mandat ohne Kampfauftrag in Kroatien und Bosnien stationiert war.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994 machte sich in der Sache den Standpunkt der Bundesregierung zu eigen. Waren die rechtlichen Hindernisse nun entfallen, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch die politischen Bedenken gegen deutsche Soldaten auf dem Balkan schwinden würden. Drei gleichgerichtete Interessenlagen griffen ineinander. Die westlichen Verbündeten ließen an ihrem Wunsch nach einem stärkeren – auch bewaffneten – Engagement der Bundesrepublik keinen Zweifel. In der Bonner Koalition fehlte es nicht an prinzipieller Bereitschaft, der deutschen Sicherheitspolitik ein militärisch schärferes Profil zu geben. Und schließlich waren da noch die Streitkräfte selbst. Einen Segen für die Bundeswehr, nannte ein Kommandierender General des deutschen Heeres die im Frühjahr 1994 glücklos beendete Somalia-Expedition: Müsse doch eine Armee nicht nur wissen, sondern auch erleben können, wofür sie da sei.

Eine Armee muß erleben, wofür sie da ist

Am 20. Dezember 1994 beschloß das Bundeskabinett, dem Bündnis ein deutsches Kontingent von rund 2.000 Soldaden aller drei Teilstreitkräfte in Aussicht zu stellen, unter Einschluß von zwölf bis vierzehn Tornado-Flugzeugen. Die Zusage bezog sich auf den hypothetischen Fall, daß im Gefolge einer dramatischen Verschlechterung der Kriegslage in Bosnien die UNPROFOR-Truppe abgezogen und die Evakuierung militärisch gesichert werden müßte.

Dabei war die Abstimmung mit den NATO-Gremien nicht ganz reibungslos verlaufen. Eine erste Anfrage aus Brüssel hatte schlicht eine Staffel deutscher Tornado-Jets geordert, die in das alliierte Aufgebot für die laufenden NATO-Missionen eingefügt werden sollte. Darin sah in Bonn insbesondere der kleinere Koalitionspartner vor wichtigen Landtagswahlen keinen hinreichend öffentlichkeitswirksamen Verwendungszweck. Folglich stellte die nachgebesserte Anfrage des NATO-Hauptquartiers gezielt auf die deutsche Unterstützung der westlichen Eventualplanung ab, d.h. auf Hilfeleistung für Verbündete in Not, ein Ansuchen, das sich schlecht ablehnen ließ.

Was in der deutschen Debatte gänzlich außer Betracht blieb: Die erforderliche Zuspitzung des Krieges, der Rückzugsgrund für UNPROFOR, war nur herbeizuführen durch Wahl einer »Lift-and-Strike-Strategie«, wie sie in Washington befürwortet wurde, in Paris und London jedoch auf Skepsis stieß. »Lift« hieß Aufhebung des Waffenembargos für die kroatischen und moslemischen Bosnier, »Strike« massive Luftschläge gegen die bosnischen Serben. Doch es sollte sich noch ein griffigerer Ansatz finden, die deutsche Kriegsbeteiligung ins Spiel zu bringen.

Im Mai 1995 führte das permanente Nebeneinander der beiden unvereinbaren Operationsformen – gewaltfrei zu Lande, kriegführend aus der Luft – zu einer neuerlichen Eskalation. Als NATO-Bomber Munitionslager bei Pale angriffen, reagierten die Serben mit der spektakulären Geiselnahme von UNO-Soldaten. Die Regierungen in London und Paris, verständlicherweise besorgt um ihre Blauhelm-Einheiten, verlangten die »Restrukturierung« von UNPROFOR. Die Friedenstruppe der Vereinten Nationen sollte umgruppiert und so dem serbischen Zugriff entzogen werden, zusätzlich beschützt von einem schnellen Eingreifverband aus zwei Brigaden regulärer britisch-französisch-niederländischer Kampftruppen.

Mittels der Eingreiftruppe ließ sich die Frage des Schicksals von UNPROFOR nunmehr ins Positive wenden: Nicht mehr den Abzug, sondern den Verbleib der trotz (oder wegen) aller Schlappen immer noch populären Blauhelm-Soldaten gelte es abzusichern. Mit diesem Argument trat die Bundesregierung am 30. Juni vor den Bundestag und gewann sechzig Prozent der Abgeordneten – auch aus den Reihen der Opposition – für ihren Vorschlag der Entsendung eines Bundeswehrkontingents in das Konfliktgebiet. Die Mehrheit wäre noch deutlicher ausgefallen, hätte der Antrag nicht auch die umstrittene Tornado-Komponente enthalten.

Worin genau bestand der Auftrag der deutschen Tornados? Es war nicht gerade ein Muster an Klarheit, was die Beschlußvorlage dreifach verschachtelt umschrieb: Die Flugzeuge sollten die NATO unterstützen, wenn diese den schnellen Einsatzverband unterstützte, der seinerseits die UN-Friedenstruppe darin zu unterstützen hatte, ihren Aufgaben nachzukommen. Wohl ahnend, daß daraus kein Abgeordneter klug werden konnte, zog die Regierungsvorlage an anderer Stelle zur Verdeutlichung die Resolution 998 des UN-Sicherheitsrats vom 16. Juni heran. Dort wird der Auftrag des Einsatzverbandes in drei konkreten Aufgaben fixiert: Notfallhilfe für isolierte oder bedrohte Einheiten der Vereinten Nationen, Unterstützung bei der Umgruppierung von UNPROFOR-Elementen, Erleichterung der Bewegungsfreiheit, wo erforderlich.

In dieser sehr engen Eingrenzung warb die Bundesregierung vor dem Parlament für ihren Antrag. Nur zur Hilfestellung für UNPROFOR werde das Tornado-Geschwader eingesetzt, so hieß es, nicht in Frage komme die Mitwirkung an älteren NATO-Aufträgen, insbesondere an Luftschlägen. Daran werde sich die Bundeswehr nicht beteiligen, erklärte der Verteidigungsminister auf Vorhalt in der Debatte. Genau zwei Monate sollte es dauern, bis die Versicherungen Makulatur waren.

Den Tornado-Piloten wurden exakt die Einsätze befohlen, die ihr Minister kategorisch ausgeschlossen hatte. Kein Blauhelm-Soldat war angegriffen, bedroht oder in seiner Bewegungsfreiheit behindert, als am 30. August 1995 das NATO-Bombardement »Deliberate Force« losbrach. Zweck der Operation war, ein Exempel zu statuieren – weitab jeden UN-Mandats zur Anwendung militärischen Zwangs und ohne erkennbaren Nutzen für das Ziel der Beendigung des Krieges in Bosnien. Gewiß spielte die Bundeswehr darin keine tragende Rolle: Sie bestritt gerade 59 der insgesamt 3.515 Lufteinsätze. Auch hat sie selbst keinen Schuß abgefeuert. Aber an einer Kriegshandlung nimmt auch teil, wer militärische Ziele nur aufklärt, damit andere sie bombardieren.

Das Karlsruher Urteil vom Sommer 1994 beseitigte die verfassungsrechtlichen Hindernisse exterritorialer Einsätze deutscher Streitkräfte. Als neue Schranke schuf es die parlamentarische Zustimmungspflicht. Ein Fall, wie der vom Januar 1991 während des Golfkonflikts, als das Bonner Kabinett im Umlaufverfahren ohne Beratung und am Bundestag vorbei über die Entsendung von Jagdbombern des Typs Alpha Jet in das Krisengebiet entschied, sollte sich nicht wiederholen. Aber das Konzept der Parlamentsarmee strandete schon im ersten Anlauf. Den meisten Abgeordneten entging, daß die Tornados in Bosnien ganz andere Aufträge ausführten, als sie beschlossen hatten, und die politische Öffentlichkeit hat es nicht einmal registriert: kein gutes Omen für die Zukunft demokratischer Kontrolle der bewaffneten Macht in der Bundesrepublik.

Reinhard Mutz ist stellvertrtender wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitk, Hamburg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/2 Größer – Stärker – Lauter, Seite