W&F 2002/2

Traumaarbeit im Kosovo

von Michaela Huber

Erinnern Sie sich noch an die Bilder, die uns im April 1999 über die Fernsehanstalten ins Wohnzimmer flimmerten? Krieg im Kosovo! Menschen, die im letzten Winterschnee abwechselnd vor den Kanonen und Gewehren der Serben und den Bomben der NATO fliehen. Ich weiß nicht, was Sie dachten, als Sie – wie wir alle – realisieren mussten, dass hier die Deutschen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg beteiligt waren, diesmal im NATO-Verbund und auf Beschluss der ersten rot-grünen Regierung. Der Bevölkerung in ihren jeweiligen Mitgliedsländern hatte die NATO weismachen wollen: „Nur unsere Bomben verhindern die so genannten ethnischen Säuberungen.“ Doch die Fernsehbilder bewiesen das Gegenteil: Die Serben vertrieben nach Kriegsbeginn die albanischstämmigen Kosovaren erst recht, sie quälten sie jetzt erst recht und sie hörten erst damit auf, als sie auch im letzten Dorf und im letzten Gehöft ihr Werk beendet hatten.
Natürlich weiß ich nicht, wie es Ihnen ging, ob Sie sich von den Bildern des Grauens, dem Elend in den provisorischen Lagern, den in Schlamm und Kälte, teilweise ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Windeln für die Kinder oder andere Hygieneartikel und ohne Zelte, dahinvegetierenden Menschen in besonderer Weise haben anrühren lassen oder ob Sie die Katastrophe im Kosovo mehr oder weniger kopfschüttelnd registrierten, wie wenige Monate später die Gemetzel und Vertreibungen in Osttimor oder Tschetschenien und vor wenigen Monaten den Krieg in Afghanistan.

Ich weiß nur, wie es mir ging, damals, als ich die Bilder aus den Flüchtlingslagern sah: Ich war aufgewühlt. Ich war aufgewachsen mit der Losung »Nie wieder Krieg!«, hatte diese Regierung gewählt, weil sie unter anderem genau dies einzuhalten versprach. Und nun half ich mit meinen Steuergeldern, halfen Politiker, die von mir gewählt worden waren, dabei, die Existenz von Menschen zu vernichten. Es sollte es ein »gerechter Krieg« sein, aber getroffen wurden – wie in jedem Krieg – vor allem Zivilisten. Bomben lösen eben keine Konflikte, sie verlagern sie höchstens.

Ich weiß noch, dass ich im April 99 immer wieder dachte: „Hier werden an einem Tag Zigtausende traumatisiert. Welchen Sinn hat dann unsere Arbeit, die wir versuchen, in mühsamer, jahrelanger Kleinarbeit zerstörte Lebensperspektiven von traumatisierten Menschen wieder oder zum ersten Mal aufzubauen? Welchen Sinn macht es, in meinem Beruf in Deutschland zu arbeiten, wenn ich mit meiner Wahlentscheidung, mit meinen Steuergeldern mithelfe, Menschen in anderen Ländern – nicht nur im Kosovo, auch in Serbien und demnächst wahrscheinlich an vielen Stellen der Welt – seelisch und körperlich zu zerstören und ihnen ihre Existenzgrundlage zu nehmen?“

Mir kam es im Nachhinein betrachtet so vor, als wären wir Deutsche, damals im April 99, in einen kollektiven Dissoziationsprozess geraten.

Da gab es Amnesie: Die Fernsehbilder – gleich wieder vergessen; Derealisierung: Ach, irgendwie wird es schon nicht so schlimm sein; und Depersonalisierung: Nur nicht fühlen, wie schrecklich es wirklich sein muss. Wir benahmen uns kollektiv wie eine dysfunktionale Familie: Das offensichtliche Leid, das wir mit angerichtet hatten oder das wir durch unsere Untätigkeit weiter geschehen ließen, wurde bagatellisiert. Die Bedeutung, »Die Deutschen werfen wieder Bomben in einem Krieg«, wurde gleich komplett geleugnet. Das schlechte Gewissen konnte durch ein paar Hundert Mark Spenden an eine Hilfsorganisation beschwichtigt werden – ganz so, als handelte es sich nicht um einen Angriffskrieg, an dem die Deutschen mit teilnahmen, sondern um eine Art Naturkatastrophe. Statt uns persönlich verantwortlich zu fühlen als »Zoon politicon« – als politisch denkendes, fühlendes und handelndes Wesen, das die meisten von uns sicher zu sein vorgeben –, gaben wir die Verantwortung ab und hofften, es gehe alles gut.

Viele fühlten sich gelähmt, sprachlos. Ich erlebte es immer wieder im Bekannten- und Kollegenkreis: Kaum brachte ich die Sprache auf den Kosovokrieg, erlahmte und verstummte die Unterhaltung – und dann wurde das Thema gewechselt. War es im Afghanistankrieg anders? Kaum.

Der Kosovokrieg hat mein Leben verändert

Erlauben Sie mir hier eine persönliche Bemerkung: Der Kosovokrieg hat mein Leben verändert. Er hat mich – die ich in den siebziger Jahren die Hoch-Zeit meines politischen Engagements erlebt hatte – erneut politisiert. Noch einmal verlor ich sozusagen meine politische Unschuld. Besser: die vorübergehende naive Vorstellung, wenn ich nur die richtigen Politiker wählte, würde auch eine richtige Politik dabei herauskommen und ich könne diesen Politikern vertrauen. Ohnmacht, Hilflosigkeit, Zorn und Enttäuschung, unruhiges Vorwärtsstreben: „Da kann man doch nicht untätig zusehen, da müssen wir doch etwas tun!“ – solche Empfindungen und Überlegungen trieben mich im Frühjahr 99 um, wochen- und monatelang. Und seither, bis heute!

Der erste Schritt zum eigenständigen Handeln

Wie es der Zufall so will, wurde ich unmittelbar nach dem Kosovo-Krieg von Medica Mondiale, einer Hilfsorganisation von Frauen für Frauen, die sich schon im Bosnienkrieg einen guten Namen gemacht hatte, angesprochen, ob ich ihnen nicht helfen wolle, ein Konzept für Erstintervention nach Traumatisierung für die neu gegründete Unterorganisation Medica Kosova zu entwickeln.

Wir setzten uns zusammen: Expertinnen, die vor Ort (gewesen) waren, und ich als Traumaexpertin erstellten ein Konzept, das die kulturspezifischen Bedingungen der KosovoalbanerInnen einbezog und das darauf hinauslief, kosovarische Ärztinnen, Krankenschwestern, Beraterinnen, Hebammen auszubilden, um Frauen und von da aus Familien zu helfen, mit den sozialen und psychischen Folgen des Krieges fertig zu werden.

Am Schluss kam dann für mich völlig unerwartet die Frage, ob ich ihnen auch im direkten Kosovoeinsatz behilflich sein könnte, das Konzept umzusetzen. Vor den Tagen im April hätte ich sicher gesagt: „Ach, es gibt in Deutschland genug zu tun. Nun muss ich nicht auch noch in ein Kriegs- oder Krisengebiet. Ich leide doch nicht am Florence-Nightingale-Syndrom!“

So aber bat ich mir erst einmal Bedenkzeit aus und versprach, auch noch andere Therapeutinnen bzw. Ausbilderinnen zu suchen, die das Konzept vor Ort umsetzen könnten. Doch mit wem ich auch sprach, alle Kolleginnen winkten ab: „Um Himmels Willen, das halte ich selbst psychisch nicht aus.“ – „Fahr du doch erst mal.“ oder „Vielleicht, wenn sich die Situation da unten mehr beruhigt hat“, oder auch ehrlich: „Das traue ich mir nicht zu.“ Ich konnte das alles gut verstehen, schließlich ging es mir ähnlich, das alles rang auch in mir.

Die Arbeit vor Ort

Trotzdem sagte ich schließlich zu und wusste gleichzeitig: Hiermit lege ich mich auf lange Zeit hinaus fest, mehrfach im Jahr ins Kosovo zu fahren. Denn was nützt das beste Ausbildungskonzept, wenn die Ausbilderin einmal auftaucht, einen brillianten Workshop abhält – und auf Nimmerwiedersehen verschwindet? Schließlich sieht das Konzept von Medica vor, einheimische Fachfrauen auszubilden, die dann ihrerseits mit den traumatisierten Frauen, Kindern und Familien arbeiten, und ihnen jede – auch supervisorische und therapeutische – Hilfe zur Verfügung zu stellen. Diese einheimischen Fachfrauen gab es schon. Es gibt zwei Dutzend Frauen, die einen Halbtagsjob bei Medica Kosova bekommen haben. Frauen, die selbst durch den Krieg traumatisiert wurden und die trotzdem bereit waren und sind, diese schwere Arbeit zu tun. Zwei Teams galt es zu schulen: zum einen die Frauen von den beiden gynäkologischen Ambulanzen – Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern. Zum anderen die Beraterinnen, deren Erstberufe von Lehrerin über Juristin bis Soziologin reichen und die in die Zelte, die zerschossenen und halb aufgebauten Häuser, die abgelegenen Dörfer und Gehöfte gehen und die Menschen vor Ort betreuen. Dabei suchen sie vor allem den Zugang über die Frauen und den bekommen sie auch, denn ihre praktische Unterstützung und Beratung sind ebenso willkommen wie ihr offenes Ohr für die Folgen des Krieges und ihre – in Zukunft hoffentlich wachsende – Fähigkeit, traumatisierten Menschen nicht nur mit ihrer Empathie, sondern auch therapeutisch-fachkundig beizustehen.

Keine einzige der Frauen hat eine psychotherapeutische Erstausbildung. Keine spricht deutsch, nur sehr wenige gebrochen englisch und alle sind nicht nur stellvertretend traumatisiert durch das größtenteils massive Leid, das sie tagtäglich hören und sehen, sie sind auch selbst traumatisiert.

Nicht gerade eine einfache Aufgabe, die beiden Fachteams zu schulen in Erstintervention nach Traumatisierung und dabei ihre eigene Befindlichkeit mit anzusprechen und sie persönlich zu stärken. Ich unternahm den ersten Versuch hierzu Ende Oktober/Anfang November 99 und war danach noch zwei Mal in weiteren Projektstadien als Fortbilderin, Supervisorin und Mut Zusprechende vor Ort.

Da ich dies zum allerersten Mal machte und dann auch noch im Ausland und angewiesen auf die Hilfe einer Dolmetscherin, wollte ich meine Arbeit natürlich sofort evaluieren um zu sehen, ob das, was ich da mitbrachte, überhaupt etwas taugte. Außerdem interessierte mich natürlich, da die Kosovarinnen, wie ich bald merkte, über ihre eigenen Traumatisierungen – zumindest zunächst – wenig bis gar nicht sprechen wollten, ob sie tatsächlich drei Monate nach Ende des Krieges Anzeichen für PTSD-Symptome (Posttraumatische Belastungsstörung) zeigten. Ich konnte sie darauf neugierig machen, nachdem ich erste Arbeitseinheiten zu Trauma und PTSD durchgeführt hatte, hier für sich selbst einmal nachzuschauen. Dabei erwies sich die Medica-Dolmetscherin als ein wahrer Glücksfall: Die 23-jährige ehemalige Germanistikstudentin aus Pristina dolmetschte glänzend und einfühlsam, außerdem übersetzte sie die von mir eingesetzten Fragebogen ins Kosovoalbanische. Vorher-Nachher-Messungen mit Hilfe von Fragebogen zeigten: Nach der Fortbildung sank die Rate der PTSD-Symptome – die bei ausnahmslos allen Kosovarinnen ganz erheblich war – bei den Teilnehmerinnen deutlich, sogar signifikant.

Was also habe ich gesehen und erlebt im Kosovo, das von den KosovoalbanerInnen jetzt in ihrer eigenen Sprache »Kosova« genannt wird? Bei der Rückkehr ertappte ich mich dabei, dass ich auf entsprechende Fragen – sicher überraschend für die Fragenden – meist zunächst mit einem Satz antwortete wie: „Ich fühle mich reich beschenkt.“

Ja, es stimmt. Ich fühle mich reich beschenkt. Zuallererst fühle ich mich reich beschenkt durch die Liebenswürdigkeit und Offenheit, die Gastfreundschaft und begeisterte Aufnahme, die ich und die meine Arbeit in »Kosova« erfahren haben. Sowohl die anwesenden deutschen Medica-Kosova-Mitarbeiterinnen als auch die Kosovarinnen haben sich sehr über meine Hilfe gefreut. Und da ich mich ebenfalls als Lernende begreife und meinerseits mit Offenheit und Freundlichkeit auf sie zuging, entstand eine gute Atmosphäre: Es wurde hart und konzentriert gearbeitet, aber auch viel gelacht, manchmal heftig, aber nie verletzend gestritten und es war immer spürbar, dass es etwas Gemeinsames gab, das unsere Kreativität und Intelligenz ebenso herausforderte wie unsere Fachkompetenz und unser Improvisationstalent, etwas, für das jede von uns sich im Zweifelsfall auch zur Disposition stellte: den Kosovarinnen zu helfen, sich zu einem selbstständigen Unterstützungsprojekt zu entwickeln.

Reich beschenkt fühlte ich mich aber auch durch das Vertrauen und die Lernbereitschaft, ja Lernbegierde, die mir die Teilnehmerinnen des Workshops entgegenbrachten. Dies half mir sehr, den Frauen – fast alle Mütter mehrerer Kinder, die zunächst einmal glaubten, ihr Job bedeute so etwas wie »Mutterschaft als Beruf« – die eine oder andere Einstellungsänderung nahe zu legen. Zum Beispiel, dass sie einen Unterschied machen dürfen, ja machen müssen, zwischen einer Zeit, in der sie für ihre Klientinnen bzw. Patientinnen da sind, und einer Zeit, in der sie sich selbst regenerieren und ihre Ressourcen auffüllen müssen. So habe ich mich dafür entschieden – und der Erfolg zeigte, dass dies richtig war –, gut die Hälfte der Seminarzeit explizit mit dem Thema Ressourcen zu verbringen. Hierzu nur ein Beispiel, weil es mich selbst so überrascht hat: Diese Frauen, die sozial sehr angepasst zu sein scheinen und deutlich enger als wir hier in westlichen Ländern in ihre Familien eingebunden sind, hatten keinerlei Probleme damit eine Übung zu machen, wie sie eine große und starke Pflanze werden und sein können. Als ich sie bat die Pflanze, die sie in ihrer jeweiligen imaginativen Arbeit vor ihrem geistigen Auge gesehen hatten, zu malen, haben bis auf zwei Frauen alle eine starke Einzelpflanze gemalt, die groß und mittig auf ihrem Zeichenblatt prangte! Und das, obwohl ich in der Übungsanleitung auch angeboten hatte, die Pflanze könne vielleicht Ableger haben bzw. von anderen Pflanzen umgeben sein. Zwar traute ich mich – es war erst der zweite Seminartag – noch nicht, dies so offen auszusprechen, weil ich nicht wusste, inwieweit die Frauen hier ein gesellschaftliches Tabu ihrer Kultur über Bord geworfen hatten, aber auf jeden Fall wurde anhand der Bilder deutlich, dass die Frauen sich zumindest unbewusst als starke Einzelindividuen wahrnehmen konnten.

Und so haben mich die Kosovarinnen in vielfacher Hinsicht positiv überrascht: Sie sogen auch die Theorie auf wie ein Schwamm Wasser und gaben zu erkennen, dass sie sie anwenden würden und damit umgehen können. Von Tag zu Tag trauten sie sich mehr, in der nachmittäglichen Supervisionseinheit aus ihrem schwierigen Berufsalltag zu berichten. Wir konnten sogar beginnen, über ihre eigenen PTSD-Symptome zu sprechen und auch über die Schuldgefühle, die sie hatten, wenn sie mitten in der Hölle aus Flammen und Folter, Bomben und Gewaltorgien zu gelähmt gewesen waren, um der Soldateska rechtzeitig zu entfliehen und sich schämten, weil sie ihre Kinder angeblich nicht genug geschützt hatten. Dabei stellte sich heraus, dass viele von ihnen sich geradezu heldinnenhaft benommen hatten, indem sie Angehörige, Freunde und Patienten vor oder aus dem Inferno gerettet hatten. Nie hat eine das selbst erzählt – die anderen haben es mir »gesteckt«.

Schuldgefühle hatten viele auch nach dem Krieg, z.B. weil sie ihr Haus schon wieder aufgebaut hatten, während das Nachbarhaus noch eine ausgebrannte Trümmerlandschaft war und die Nachbarin noch bei Verwandten in beengten Verhältnissen hausen musste. Sie hatten Schuldgefühle, wenn ihr Mann lebend aus den Wäldern heimgekommen war, die Schwägerin aber ihren Mann noch vermisste. Überhaupt, die vermissten Männer: Wie immer, wie nach jedem Krieg mussten die Frauen die Last der Familien über viele Monate allein tragen. In der Region um Gjakova, der Stadt, in der das Medica-Kosova-Team seinen Sitz hat, sind 2.000 Männer im Krieg verschwunden. Mehrere Hundert wurden in Massengräbern gefunden und so manche Frau hat der Anblick ihres zerschundenen und erschlagenen Lebensgefährten in den Wahnsinn getrieben oder in endlos wiederkehrende Flashbacks und/oder dauerhafte Apathie. Etwa 1.500 Männer saßen noch anderthalb Jahre später in serbischen Gefängnissen, niemand wusste, wann sie heimkommen (erst zwei Jahre nach dem Krieg kamen achthundert von ihnen, bis aufs Skelett abgemagert und von Folter fürs Leben gezeichnet, nach Hause). Vielleicht können Sie erahnen, was da noch in den nächsten Monaten und Jahren auf die Frauen und Kinder, auf die Familien und das gesamte soziale Gefüge in Kosova zukommen wird – allein aus dieser Tatsache, ungeachtet all der anderen grausamen Erfahrungen, welche die Bevölkerung verkraften muss.

Ich könnte Ihnen viele grausame Schicksale schildern, viele grässliche Einzelheiten, doch zurück zur »Arbeit«: Ich habe den kosovarischen Mitarbeiterinnen von Medica bereits am vierten Tag Reorientierungstechniken beigebracht, also wie sie sich und ggf. auch ihre Patientinnen aus dem Versinken in Traumaerinnerungen herausholen können. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie die Bilder, die viele nicht aus dem Kopf kriegen konnten, über eine »Bildschirmtechnik« auf eine Leinwand projizieren und von dort aus auf einen »Film« distanzieren und »wegpacken« können. Einige Frauen berichteten bereits jeweils am nächsten oder übernächsten Tag, sie hätten das Gelernte schon angewandt. Eine Hebamme zum Beispiel berichtete von einer Patientin, die sie sehr mochte, sie nannte sie »die Intellektuelle«. Sie sei mit ihr schon völlig verzweifelt, da die Patientin bei jedem Kontakt sofort wie manisch darauf zu sprechen kam, wie ihr Mann vor ihren Augen erschossen wurde. Die Hebamme sagte: „Ich wusste, ich konnte das einfach nicht länger ertragen. Ich wusste, ich würde sie bald im Stich lassen, weil ich es einfach nicht mehr hören konnte. Ja, und dann habe ich die Bildschirmtechnik mit ihr gemacht, gleich gestern noch. Und dann haben wir den Film weggepackt. Das hat funktioniert. Und zum ersten Mal wirkte die Frau wie aufgehellt, als sei sie dabei aus einem lebenden Alptraum zu erwachen.“ Können Sie sich vorstellen, dass ich mich trotz der harten Arbeit reich beschenkt fühlte?

Natürlich gibt es noch unendlich viel zu tun. Fortbildungen allein reichen nicht, um Traumaarbeit effektiv zu machen. Die KosovarInnen müssen auch alle kulturellen Möglichkeiten – Geschichtenerzählen, Tanzen, Singen, Trauerrituale etc. – benutzen, bis die »international« entwickelten Möglichkeiten zu ihrem eigenen Handwerkszeug sicher hinzugefügt werden können. Und es gibt Weiteres zu tun.

Hilfe zur Selbsthilfe ist weiter notwendig

Medica Kosova und andere Hilfsorganisationen brauchen nach wie vor Unterstützung um die Projekte, die Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten, weiterzuführen. Hier konkret: Traumaaufarbeitung von Kosovarinnen für KosovarInnen vorzubereiten, supervisorisch zu begleiten und umzusetzen. Erst im zweiten Schritt wird es, im Kosovo wie in anderen Kriegs- und Krisengebieten, darum gehen, Psychotherapien im Sinne von Traumatherapien durchzuführen. Denn die Zahl der traumatisierten Frauen, Kinder und alten Menschen ist Legion.

Die Männer für Behandlungen zu gewinnen, ist aufgrund der archaisch-patriarchalen Grundeinstellung im Kosovo besonders schwierig. Des weiteren müsste dringend für Kinder – nicht nur, aber besonders natürlich für die Kriegswaisen – Betreuung und Traumabehandlung angeboten werden. Damit die Traumata nicht, wie es in Bosnien geschah (siehe Süddeutsche Zeitung, 23. 2. 2002), „von einer Generation an die andere weitergegeben“ werden. Auch hierfür braucht man in Kosova ausgebildete Kinder-TraumatherapeutInnen, die bereit wären ein entsprechendes Projekt aufzubauen, das mit den bestehenden Hilfsorganisationen kooperieren könnte.

Wie die Gründerin von Medica berichtete, gab und gibt es in Bezug auf Kosova eine paradoxe Situation: Oft gebe es bei Krisen oder Kriegen viele Hilfswillige, aber wenig Geld, sie zu entlohnen; dieses Mal seien die Gelder da gewesen, aber kaum eine/r wollte dort hin. Inzwischen winken alle ab: Neue Schauplätze des Grauens – wie Afghanistan – locken neue Spendengelder an. Der Balkan? Vergessen!

So haben sich – und damit bin ich wieder beim Anfang – die Bilder des Krieges doch in den Köpfen festgefressen. Kosova, Afghanistan, Tschetschenien, Osttimor und viele andere Orte der Welt wirken auf satte Bürger der »ersten Welt« so, als handle es sich um Abbilder eines Danteschen Infernos, nachdem jemand das Feuer ausgemacht hat.

Theoretisch und auch vom Grad der Zerstörung aus betrachtet ist das gar nicht so verkehrt. Aber wer nur das sieht, übersieht, dass die schwierigen Phasen noch kommen.

Die schwierigen Phasen kommen noch

Wenn die starken Frauen erst einmal zusammenbrechen dürfen; wenn, wie erst vor wenigen Monaten geschehen, die Männer nach Folter und Gefangenschaft heimkommen; wenn immer mehr Kinder verhaltensauffällig werden; wenn junge Männer den nächsten Krieg planen; wenn »der Serbe in der Seele« entdeckt wird – also die Täterintrojekte, die jetzt noch absolut tabuisiert sind –, dann beginnen die nächsten schwierigen Phasen.

Bislang sind wir erst in

  • Phase I nach dem Krieg: Die Menschen sind froh überlebt zu haben und bauen ihr Land auf. Die traumatisierten Menschen sind bislang immer noch weit gehend die anderen.
  • Phase II deutet sich an: sich selbst als Gewaltopfer wahr- und ernst zu nehmen. Doch erst danach kann etwas geschehen, was die internationale zivilisierte Gemeinschaft auch von den KosovarInnen erwarten muss, nämlich
  • Phase III: die Widerspiegelung der Gewalt in der eigenen Psyche unter Kontrolle bringen, um nicht die eigenen Kinder oder den unschuldigen serbischen oder Roma-Nachbarn weiterzuquälen und den Zirkel der Gewalt fortzusetzen.

Ich bin überzeugt, die KosovarInnen sind bereit, sie wollen das lernen, wollen die Bewältigung. Helfen wir ihnen dabei; vielleicht hilft das uns, unser eigenes Entsetzen über diesen Krieg, an dem Deutschland nicht ganz unschuldig ist, zu bewältigen. Mir jedenfalls hat der eigene Einsatz, die praktische und solidarische Unterstützung – wie ich glaube an der richtigen Stelle – geholfen, das eigene Gefühl der Wut und Hilflosigkeit zu überwinden.

Michaela Huber ist Psychotherapeutin in Kassel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite