W&F 2004/4

Trojanische Pferde des Westens?

Russlands »Denkfabriken« – Masse statt Klasse

von Peter Linke

In den letzten Jahren schossen sie wie Pilze aus dem Boden – politische »Denkfabriken« verschiedenster Coleur: politologische Forschungszentren, die den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten Russlands intellektuell Gestalt und Struktur verleihen möchten; Meinungsforschungsinstitute, die behaupten zu wissen, was Russlands »große« und »kleine« Leute wirklich denken; Consulting-Agenturen, die mit vermeintlichem Insider-Wissen das große Geld verdienen wollen.

Denkfabriken sind in, gelten als anstrebenswerte Karriere-Option: Allein in den letzten fünf Jahren hat sich der »Ausstoß« von Aspiranten und Doktoranten im Fachbereich Politologie verdreifacht; entsprechend zugenommen hat die Zahl erfolgreich verteidigter Dissertationen.1 Selbst für viele Politiker und Manager gehört es inzwischen zum guten Ton, ein »Doktor der Gesellschaftswissenschaften« zu sein.

Vor allem westliche Beobachter feiern Russlands neue »Denkfabriken« als Keimzellen wahrhaft pluralistisch-demokratischer Umgangsformen zwischen den Menschen nach Jahrzehnten totalitärer Gleichschaltung.2

Rückblick: Die sowjetischen Denkfabriken

»Denkfabriken« gab es freilich schon in der Sowjetunion. Und Außen- bzw. Wirtschaftspolitik war ihr bevorzugter Arbeitsgegenstand: Konfrontiert mit Nikita Chruschtschows Forderung nach Koexistenz und Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westen, kam die Partei- und Staatsführung nicht umhin, sich für die konkreten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs zu interessieren. Der wachsenden Nachfrage nach entsprechenden Analysen entsprach das Sekretariat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Frühjahr 1956 mit der Gründung eines »Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen« (IMEMO).

Die zunehmende Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik und daraus resultierende Konfrontation mit den USA veranlasste die Akademie der Wissenschaften in den späten fünfziger und sechziger Jahren, eine Reihe regionalspezifischer Forschungseinrichtungen ins Leben zu rufen, darunter 1959 ein Afrika-Institut (IA), 1961 ein Lateinamerika-Institut (ILA), 1961 ein Institut zur Erforschung der Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS) sowie 1966 ein Fernost-Institut (IDW). 1967 kam es zur Gründung eines speziellen Instituts für USA- und Kanada-Studien (ISKAN). Zunächst befasst mit komplexen Untersuchungen zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Nordamerikas, avancierte es später in enger Zusammenarbeit mit dem IMEMO zur zentralen sowjetischen »Denkfabrik« für strategische und konventionelle Rüstungsangelegenheiten, Umweltfragen sowie »Nord-Süd«-Beziehungen. Schließlich und endlich reagierte die Akademie auf die wachsende wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas mit der Schaffung eines so genannten Europa-Instituts (IEAN) im Jahre 1988.

Während sich all diese Institute ausschließlich Forschungsaufgaben widmeten, kümmerte sich das 1944 gegründete Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) um die Ausbildung des außenpolitischen Nachwuchses, versorgte aber auch seinen Arbeitgeber, das sowjetischen Außenministerium (MID), regelmäßig mit aktuellen Analyse-Papieren, die in einem so genannten Problem-Laboratorium erarbeitet wurden.

„Die Rolle der sowjetischen Denkfabriken bei der Formulierung innen- und außenpolitischer Leitlinien sollte weder über- noch unterschätzt werden“, resümiert Mitte der neunziger Jahre ein langjähriger Mitarbeiter des IDW. „Führende Forschungsinstitute nahmen sowohl im akademischen als auch politischen Leben eine prominente Stellung ein. Die Direktoren des IMEMO und ISKAN waren Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU und verbrachten viel Zeit damit, Veränderungen in der Politik und daraus resultierende »heiße« Forschungsthemen auszumachen. Sie gehörten hochrangigen offiziellen Delegationen an. Die meisten Direktoren von Forschungsinstituten unterhielten persönliche oder berufliche Beziehungen zu altgedienten ZK-Mitgliedern. Die staatliche Entscheidungsfindungsmaschine war jedoch so ungeheuer groß und rigide, dass es eher schwer fällt, von einer direkten Einflussnahme selbst führender »Denkfabriken« auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu sprechen.“3

Den Anfang vom Ende der Dominanz akademischer »Denkfabriken« bei der Erarbeitung außen- und wirtschaftspolitischer Konzepte läutete Michail Gorbatschows Perestrojka ein. Angesichts des ungeheuren Problemdrucks erschienen dem neuen Kreml-Herrn die überkommenen Forschungseinrichtungen als Dinosaurier: zu groß, zu langsam, zu wenig anpassungsfähig. Gefordert wurden schlanke und geschmeidige Strukturen, in denen nicht Hunderte, sondern einige wenige Analysten, nicht langfristig, sondern kurzfristig, nicht akademisch komplexe, sondern praktisch verwertbare Studien auf den Tisch packen.

1990: Tendenz zu nichtakademischen Denkfabriken

Zu den ersten »Denkfabriken«, die versuchten, politische Analyse-Arbeit jenseits der etablierten akademischen Strukturen zu organisieren, gehörten das 1990 von Ex-Premier Jegor Gajdar gegründete Institut für wirtschaftliche Probleme der Übergangsperiode (IEPPP), das im gleichen Jahr von JABLOKO-Chef, Grigorij Jawlinskij, initiierte Zentrum für wirtschaftliche und Politische Studien (EPIzentr) sowie die 1991 von Ex-Außenminister Eduard Schewardnadse ins Leben gerufene Außenpolitische Assoziation (WA), unter dessen Dach eine Reihe lose miteinander verbundene Analysten-Gruppen zu sicherheitsstrategischen, ethnopolitischen und ökologischen Problemen zu arbeiten begannen.

Diese und weitere, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion entstandene nicht-akademische »Denkfabriken« – allen voran das 1992 von Präsident Boris Jelzin per Dekret gegründete Russische Institut für Strategische Studien (RISI)– sollten den traditionellen Forschungsinstituten das Leben merklich erschweren.

Unterfinanzierung der Akademien

Hinzu kamen erhebliche finanzielle Probleme: Waren bis Ende der achtziger Jahre 97 Prozent aller Forschungsmittel aus dem Staatshaushalt gekommen, sollten es 1999 nur noch 49 Prozent sein.4 Im Jahre 2000 standen der Russischen Akademie der Wissenschaften knapp 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung, was rund 18 Prozent der Budgetmittel der Akademie der Wissenschaften der UdSSR entsprach. Von diesen 300 Millionen kamen 29 Prozent aus nicht-staatlichen Quellen, 6,7 Prozent aus Mieteinnahmen und 12,1 Prozent aus diversen Ministerien.5 Mit anderen Worten: dem Russischen Staat war seine Akademie der Wissenschaften nicht mehr als 150 Millionen US-Dollar wert.

Die chronische Unterfinanzierung der Akademie der Wissenschaften bewirkte in den letzten Jahren eine nachhaltige Fragmentierung großer Forschungsinstitute in diverse Forschungszentren, deren Handvoll Mitarbeiter eher »Projekt-Manager« denn Forscher sind.

Wachsende Auslandsabhängigkeit

Beschleunigt wird diese Entwicklung durch diverse ausländische Geldgeber, die es in der Regel vorziehen, mit kleinen, überschaubaren Analyse-Strukturen zusammenzuarbeiten. Einige Studien beziffern den Anteil ausländischer Investitionen in russische Forschungsprojekte für das Jahr 1999 mit 16,9 Prozent.6 Andere unterstreichen das besondere Engagement US-amerikanischer Finanziers, die seit Mitte der neunziger Jahre Russlands Wissenschaftler mit jährlich 350 Millionen US-Dollar unterstützt haben sollen.7

Auf alle Fälle unbestritten ist die hohe Abhängigkeit vieler, insbesondere in den neunziger Jahren entstandener politologischer Forschungszentren von ausländischen Geldgebern.8 Nur wenige, wirklich etablierte »Denkfabriken« wie das RISI werden großzügig aus dem Staatshaushalt finanziert oder aus den Töpfen der russischen Privatwirtschaft, wie das Anfang 2002 von Michail Chodorkowskij aus der Taufe gehobene Institut für Angewandte Internationale Studien (IPMI).

Präsident Wladimir Putin hat wiederholt klargestellt, dass Russlands Reformbemühungen ohne Spitzenleistungen auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zum Scheitern verurteilt sind. Mit der unlängst erfolgten Gründung eines Ministeriums für Wissenschaft und Bildung sollen die personellen Voraussetzungen für derartige Spitzenleistungen geschaffen werden. Allerdings: Über den Zusammenhang zwischen erfolgreicher Reformpolitik und humanwissenschaftlicher Forschung hat Russlands Staatsoberhaupt bisher kaum ein Wort verloren.

Die offensichtliche präsidiale Geringschätzung humanwissenschaftlicher Forschung manifestiert sich nicht zuletzt in der Tätigkeit russischer politischer »Denkfabriken«.

Natürlich gibt es einige, die meinungsbildend bis in »höchste Kreise« wirken und deshalb zu recht als sichere »Karriere-Bank« gelten, etwa das bereits erwähnte RISI, aber auch die Ende 1999 von Handels- und Wirtschaftsminister German Gref gegründete Stiftung »Zentrum für strategische Studien« (F-ZSR).

Auch scheinen einige der neu gegründeten quasi-akademischen »Forschungszentren« den Sprung ins pralle Leben geschafft zu haben, wie das 1992 aus dem IMEMO hervorgegangene Zentrum für geopolitische und militärische Prognosen (ZGWP) oder das unter dem Dach des Afrika-Instituts operierende Zentrum für Strategische und Globale Studien (ZSGI).

Selbst das MGIMO hat dank geschickter Kommerzialisierung seiner Lehrangebote seine Stellung als führende außenpolitische Kaderschmiede gegen eine Reihe neu gegründeter IP-Lehrstühle, insbesondere an den Universitäten Moskau, Sankt Petersburg und Nishnij Now-gorod, behaupten können.

Gleichzeitig bleibt die Abhängigkeit dieser und vieler anderer »Denkfabriken« von westlichen, vor allem US-amerikanischen Geldgebern enorm, was sich alles andere als positiv auf die intellektuelle Qualität ihrer »Produkte« auswirkt: „Russlands Wissenschaftler“, grollt der bekannte Politologe Alexej Bogaturow, „ beschränken sich darauf, unsere lokalen Realitäten in eine für westliche Sponsoren und ausländische Leser verständliche Sprache zu übersetzen.“9 Die „westliche Politikwissenschaft“ sei gut für den Westen; das „russische Material“ ließe sich damit nur bedingt bearbeiten. Nötig wäre eine „russische Theorie“, von deren Erarbeitung Russlands Wissenschaftler allerdings nichts wissen wollten. Bogaturow: „Zehn Jahre lang haben wir ausländische Konzepte übernommen. Nun wissen wir, dass westliche Theorien wenig dazu taugen, die in Russland laufenden Prozesse zu erklären. Die westlichen Theorien erwuchsen einem anderem Material, erklärten erfolgreich Realitäten, die für andere politische und geographische Areale charakteristisch waren. Im russischen Kontext konnten sie nur als Ausgangspunkt für eigene Ausarbeitungen dienen. In diesen Ausarbeitungen hätten die Ideen westlicher Kollegen kritisch verarbeitet, der Anwendungsbereich ihrer theoretischen Konstrukte erkundet und revidiert werden müssen, um neues theoretisches Wissen zu generieren. Die Pflicht der russischen Intellektuellen bestand nicht darin, westliches Wissen zu übernehmen und zu propagieren, sondern dem Westen zurückzugeben, was sie ihm intellektuell schuldig waren. Durch Einspeisen originärer (wenngleich, erkenntnistheoretisch betrachtet, durchaus westlicher) Ausarbeitungen in den westlichen Diskurs hätten wir uns nicht nur Klarheit darüber verschafft, inwieweit sich die russische Erfahrung mit den intuitiven Erwartungen des politischen Denkens verträgt, sondern auch Erklärungsvarianten für das geliefert, was in Russland bzw. zwischen Russland und der Welt an realer Entwicklung passiert. An dieser Aufgabe ist unsere Wissenschaft gescheitert. Und sie wird an ihr solange scheitern, bis sie aufhört zu glauben, nur fremde Erfahrungen aufnehmen zu können, Erfahrungen, deren Studium zum Selbstzweck politologischen Eiferns geworden ist. In Wissenschafts- und Bildungszentren der Hauptstadt und der Provinz erweist es sich als prestigeträchtiger, leichter und materiell vorteilhafter, westliche Bücher nachzuerzählen und Studenten zu zwingen, diese auswendig zu lernen, anstatt sich am lebendigen Material der russischen Wirklichkeit die Zähne auszubeißen.“10

Einige gehen noch weiter: Aufgabe russischer Wissenschaftler sei nicht, »westliche Theorie« mit »russischer Theorie« zu verfeinern, sondern zur Herausbildung einer wirklichen »Weltwissenschaft« beizutragen. Bogaturow gehe es lediglich um das lockere Miteinander zweier partikularer, lokaler Varianten wissenschaftlichen Bewusstseins. Nach Meinung des renommierten Historikers und Politikwissenschaftlers Marat Tscheschkow sei dies ebenso kurzsichtig wie gefährlich: Bogaturow reduziere die „westliche Wissenschaft“ auf eine „lokale Erfahrung“, während er die „russische Wissenschaft“ auf die Analyse des „Eigenen“ als das „Besondere“ festnagele. „Im »Eigenen« müssen sich jedoch nicht nur besondere, sondern auch allgemeine Eigenschaften widerspiegeln. Nur so wird das russische wissenschaftliche Bewusstsein die Welt als Ganzes verstehen – oder anders ausgedrückt – die Welt an sich, und nicht nur sich in der Welt verstehen.“11 Bogaturows intellektueller Provinzialismus, sein Insistieren auf die Etablierung einer »russischen Wissenschaft« parallel zur »Wissenschaft des Westens« offenbare einen Autarkismus- und Selbstgenügsamkeitskomplex, an dem das russische wissenschaftliche Denken lange genug gelitten habe.

Während die Gelehrten streiten, machen westliche Sponsoren Nägel mit Köpfen, etwa in Form eines Programms für »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Studien«.12 Von russischen Beobachtern als Versuch gefeiert, in Russland eine „aktive, schöpferische und nicht rein »vermittelnde« Wissenschaft“ zu entwickeln,13 ist dieses im April 2000 von der Washingtoner Carnegie-Stiftung initiierte und inzwischen neun »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Institute« oder »Centers for Advanced Studies and Education« (MION) umfassende Programm nicht mehr und nicht weniger als der arrogante Versuch einer nachhaltigen Westernisierung der in Russland laufenden gesellschaftswissenschaftlichen Debatte.

Dass sie auch künftig nicht davon abrücken werden, die Güte russischer Gesellschaftsanalysen am Grad ihrer Westernisierung festzumachen, daran lassen insbesondere US-amerikanische Geber-Institute keinen Zweifel. Wie formulierte es doch unlängst die Präsidentin der Carnegie-Stiftung, Jessica Tuchman Mathews: „Ganz allgemein verbessert sich die Qualität russischer Politik-Analysen, da sich die Forscher zunehmend westlicher/internationaler Forschungs- und Politik-Analyse-Mittel bedienen …“14

Anmerkungen

1) Siehe Andrej Jurewitsch: Retransljator sapadnych konzepzij. In: Nesawisimaja Gaseta, Moskwa, 09.06.2004.

2) Siehe z.B. Jessica Tuchman Mathews: Russian Think Tanks. In: Vedomosti, February 16, 2004 (http:// www.ceip.org/files/publications/2004-02-16-mathews-vedemosti.asp).

3) Vladimir Yakubovsky: A Short History of Russian Think Tanks. In: NIRA Review, Tokyo, Winter 1995 (http:// www. nira.go.jp/publ/review/95winter/yakubo.html).

4) Katri Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks in 2002. UPI Working Papers 38, Helsinki 2003, p. 2.

5) Irina Sandul: A time of self-discovery for the Academy. In: The Russian Journal, June 14-20, 2002, p. 9 – zitiert nach ebenda.

6) Siehe z.B. Irina Dezhina, Loren Graham: Russian Basic Science After Ten Years of Transition and Foreign Support. Carnegie Endowment Working Papers, Number 24, Washington DC, February 2004, p. 29.

7) Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks…, p. 4.

8) Ebenda.

9) Alexej Bogaturow: Desjat let paradigmy oswoenija. In: Pro et Contra, Moskwa, Bd. 5, No. 1, Winter 2000, S. 198.

10) Ebenda, S. 200.

11) Marat Tscheschkow: Bolesn serjosneje, tschem kashetsja. In: Ebenda, Bd. 5, No. 3, Sommer 2000, S. 199.

12) Siehe Andrej Kortunow, Irina Laktionowa: Gumanitarii objedinjajutsja po setewomu prinzipu. In: Nesawisimaja Gaseta, 14.04.2004.

13) Jurewitsch: s.o.

14) Tuchman Mathews: s.o.

Peter Linke arbeitet als freier Journalist in Berlin

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2004/4 Think Tanks, Seite