W&F 2019/4

Türkei bombt IS zurück

von Jürgen Nieth

Am 9. Oktober überschritt die türkische Armee zum dritten Mal seit 2016 die Grenze zu Syrien. „Ermöglicht hat dieses blutige Spektakel Donald Trump.“ Indem er seine Soldaten aus der Region abzog, ermutigte er „Erdogan zum Völkerrechtsbruch. Amerika schaut nun dabei zu, wie sich zwei seiner Bündnispartner bekriegen. Noch vor einem Jahr hatte Trump geschwärmt: »Die Kurden sind ein großartiges Volk. Sie kämpften und starben mit uns. Wir haben Zehntausende von ihnen im Kampf gegen ISIS verloren. Ich kann Ihnen sagen, dass ich das nicht vergesse«.“ (Livia Gerster in FAS 13.10.19, S. 8) An anderer Stelle heißt es bei Gerster: „Die syrischen Kurden hatten alles unternommen, um Erdogan keinen Anlass zur Intervention zu geben. Sie haben militärische Anlagen abgebaut, Bunker gesprengt und alle Bedingungen der Amerikaner erfüllt, um eine türkische Offensive abzuwenden.“ Verteidigungsanlagen, die sie jetzt bitter vermissen.

Schon nach fünf Tagen Krieg schätzt das UN-Nothilfeprogramm Ocha, dass 130.000 Menschen […] seit Beginn der Kämpfe vertrieben wurden“ (FR 14.10.19, S. 5). Andere sprechen von über 200.000. Hunderte wurden bereits getötet, darunter viele Zivilist*innen. Und mit der direkten Konfrontation zwischen der türkischen und der syrischen Armee, die nach einer Vereinbarung zwischen den Kurden und der Regierung von Assad in das bisherige kurdische Autonomiegebiet einrückt, droht eine neue Eskalationsstufe.

Erdogans Ziele

„Erdogan will […] auf syrischem Gebiet eine etwa 400 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone schaffen. Damit verfolgt er zwei Ziele: Erstens will er dort bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die sich jetzt noch in der Türkei aufhalten. Zweitens sollen die Milizen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG […] von dort vertrieben werden […] Bei Licht besehen handelt es sich dabei um eine militärische Besatzungszone auf dem Staatsgebiet Syriens. Dass die Türkei durch die Vertreibung der Kurden und die Ansiedlung ethnischer Araber die demografischen Strukturen dauerhaft zu verändern versucht, macht die Sache noch problematischer.“ (Gerd Höhler in BZ, 10.10.19, S. 4)

Mehrere Zeitungen weisen darauf hin, dass die militärische Intervention Erdogans auch innenpolitisch begründet ist. Angeschlagen nach den Wahlniederlagen in Ankara und Istanbul, gelang es ihm mit dem Militäreinsatz, die Opposition zu spalten.

Kanonenfutter

„Die türkische Armee wird unterstützt von syrischen islamistischen Kämpfern, die auch schon bei den beiden vorangegangenen Großoffensiven der Türkei auf syrischem Territorium dabei waren. Sie bilden mit 18.000 Mann die Speerspitze am Boden, das Kanonenfutter sozusagen.“ (Jürgen Gottschlich in taz, 11.10.19, S. 10) Für Alfred Hackenberger (Welt, 10.10.19, S. 6) sind „Erdogans Handlanger“ mehrheitlich „radikale Islamisten. Sie stehen schon seit Jahren auf der Soldliste der Türkei, lassen sich aber von ihr selten kontrollieren […] Sie haben [in der Region Afrin] geplündert, Menschen gefoltert und ermordet sowie Kultstätten religiöser Minderheiten zerstört […] Im Internet tauchten immer wieder Videos auf, in denen Gefangene brutal hingerichtet werden.“

Wiederkehr des IS

Nach Schätzungen des Pentagon operieren immer noch 18.000 IS-Fanatiker in Syrien und im Irak, darunter 3.000 Ausländer.“ (FR 11.10.19, S. 6) Da die Kurden derzeit alle verfügbaren Kräfte an die Front mit der Türkei verlagern „wächst die Gefahr, dass die 10.000 gefangenen Gotteskrieger und ihre 70.000 Familienangehörigen die Kriegswirren zur Massenflucht nutzen und ihr Kalifat neu errichten oder sich nach Europa durchschlagen […] Sollten […] kurdische IS-Haftanstalten in nächster Zeit unter Ankaras Kontrolle fallen, könnte der türkische Geheimdienst viele der Dschihadisten, mit denen er jahrelang ein stillschweigendes Einvernehmen pflegte, freilassen und für den Krieg gegen deren Todfeinde, die syrischen Kurden rekrutieren.“ (Martin Gehlen in FR 11.10.19, S. 6) Am 13. Oktober meldet die kurdische Autonomieverwaltung, dass „rund 800 IS-Unterstützer, darunter viele Angehörige islamistischer Kämpfer, nach Beschuss durch mit der türkischen Armee verbundene Milizen aus dem Lager Ain Issa ausgebrochen“ sind (nd 14.10.19, S. 1). In derselben Ausgabe (S. 5) schreibt Anita Starosta von medico international: „Die Türkei bombt gerade den militanten Islamismus zurück.“

EU – halbherzig und inkonsequent

„In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat die Türkei Kriegswaffen für 184,1 Millionen Euro aus Deutschland erhalten […] 2018 war die Türkei nach Russland das Land, für das der höchste Betrag aus der Staatskasse für Hermes-Bürgschaften bereitgestellt wurde. 1,78 Milliarden Euro. In den ersten acht Monaten dieses Jahres waren es bereits 789 Millionen Euro.“ (FR 14.10.19, S. 5) „Die EU-Außenminister verständigten sich am Montag [14.10.] auf einen Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei. In einer gemeinsamen Erklärung äußerten die EU-Partner, das militärische Vorgehen Ankaras in Nordsyrien bedrohe nicht nur Sicherheit und Stabilität der Region, sondern könne auch der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) Auftrieb geben.“ (FAZ 15.10. 19, S. 1) Die Nato verhält sich noch zurückhaltender: „Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismäßig und maßvoll sei.“ (BZ, 10.10.19, S. 4) Das kann man auch als Zustimmung zum türkischen Militäreinsatz werten.

Angesichts der Katastrophe bräuchte es, so Sebastian Bähr (nd 14.10.19, S. 1) „stärkere politische Mittel, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu stoppen. Ein kompletter Rüstungsstopp, Wirtschaftssanktionen, die Einstellung von Finanzhilfen und Hermes-Bürgschaften, eine international bewachte Flugverbotszone in Nordsyrien. Allen voran muss jedoch der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei aufgekündigt werden.“

Redaktionsschluss dieser Seite 15. Oktober 2019.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, nd – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Welt – Die Welt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 4