W&F 1989/4

Über die politische Bedeutung privater Haltungen:

Garcia Marquez' Bestseller “Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ als Hoffnungszeichen

von Reiner Steinweg

So manches literarisches Werk aus der Zeit um die Jahrhundertwende und vor allem aus dem ersten Jahrzehnt danach enthält so deutliche Hinweise auf die Gefahr eines Weltkriegs, daß man sich nachträglich darüber wundert, warum die Zeitgenossen diesen impliziten Warnungen nicht Gehör geschenkt haben. Literatur kann, oft mehr und genauer als die Soziologie und die Politikwissenschaft, ein zeitkritischer Seismograph sein, der frühzeitig bevorstehende Beben und Erschütterungen oder sich entwickelnde politische Einstellungen, Strömungen und Tendenzen anzeigt, die dann zu politischen Umschwüngen, Krisen oder Kriegen führen.

Dies gilt in einem besonderen Sinne für literarische Bestseller, d.h. für Bücher, die in kürzester Zeit von hunderttausenden gelesen werden: Die Tatsache, daß soviele Menschen zu einem bestimmten Buch greifen, ist ein Indiz dafür, daß dieses Buch möglicherweise auch in seinen politischen Unter- und Zwischentönen einen »Nerv« trifft, Fragen stellt oder Antworten auf Probleme anbietet, die gerade viele Menschen bewegen. Daß der Roman von Gabriel Garcia Marquez, „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“, gleich mehrere Jahre ganz oben auf der Bestsellerliste stand, hat sicher in erster Linie etwas mit der literarischen Qualität dieses Werks und der Nobelpreis-Berühmtheit seines Autors zu tun. Aber das dürfte nicht der alleinige Grund des anhaltenden hohen Interesses sein. Im folgenden soll versucht werden, assoziativ die inhaltlichen Aspekte zu erfassen, die das Interesse heutiger Leser fesseln und von denen zugleich zu erwarten ist, daß sie über die Lektüre der Hunderttausende als politischer Impuls wirksam werden.

Story und politischer Kontext

Gabriel Garcia Marquez ist bekannt als engagierter linker kolumbianischer Schriftsteller und als Autor dschungelartig wuchernder Mythen („Hundert Jahre Einsamkeit“). Von beidem gibt es in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ auf den ersten Blick kaum eine Spur: ein scheinbar durch und durch unpolitischer und, von sporadischen Details (z.B. einer wachsenden Puppe) und Übertreibungen am Rande abgesehen, zugleich ein weitgehend »realistischer« Roman.

Das politische Desinteresse seines (Anti-?)Helden Florentino Ariza „grenzte ans Absolute“ (S. 391). Auch für die beiden anderen Zentralfiguren, das Ehepaar Dr. Juvenal Urbino de la Calle und Fermina Daza gilt ähnliches. Urbino gehört zwar zu den Honoratioren der Stadt, gilt als „Liberaler“ und ergreift zahlreiche „staatsbürgerliche“ und „soziale“ Initiativen (S. 19), aber die Politik ist allenfalls ein Seitenthema für ihn.

Auch dann, wen Garcia Marquez nicht durch die drei Zentralfiguren spricht, behandelt er die politische Sphäre nur am Rande und ironisch: „die langen schwarzen Limousinen der unsichtbaren Obrigkeit“ (S. 419); „es gab zwar (nach den offiziellen Verlautbarungen, R.S.) keine Kriege mehr und keine Pest, doch sah man noch immer die aufgedunsenen Leichen vorbeitreiben“ (S. 492).

Dabei spielt der Roman in einer kolumbianischen Epoche (etwa 1875 bis 1925), in der laut Garcia Marquez ein Bürgerkrieg auf den anderen folgte, also in einer politisch hochgradig zerklüfteten und zerrissenen Gesellschaft (Liberale vs. Konservative), in der zeitweise, während Florentinos Schulzeit, sogar die Kinder bewaffnet und mit Rangabzeichen zur Schule kamen. „Sie schossen sich bei jedem Streit und während der Pausen, bedrohten die Lehrer, wenn sie bei Prüfungen schlechte Noten bekamen (…)“ (S. 382).

Auch die Kriege berühren, anders als in Simmels Bestseller „Und mit den Clowns kamen die Tränen“, die Zentralfiguren und die Provinzhauptstadt an der Mündung des Rio Grande de la Magdalena wenig, obwohl sie immer wieder erwähnt werden. Nur Fermina DAZA trägt einmal die Spuren des Entsetzens im Gesicht, als sie von oben ein Leichenfeld gesehen hat, lauter Menschen mit Genickschüssen (S. 334). Einmal wird berichtet, daß die Stadt 63 Tage belagert wurde. Was diese Belagerung für die Bewohnerschaft insgesamt bedeutete, erfährt man nicht; für Florentino Ariza und noch mehr für die Witwe Nazareth bringt ein Bombardement, das die Stadt „in ihren Grundfesten erschütterte“, eher eine Befreiung: Als ihr Haus von Artillerie zerstört ist, flüchtet die Witwe zu Mutter und Sohn Ariza, und unter dem Geschützdonner trauen sie und Florentino sich in dieser Nacht erstmals, die gesellschaftlichen Konventionen hinter sich zu lassen und sich der freien Liebe hinzugeben (S. 221).

Mit dieser Episode beginnt Florentinos Casanova-Leben. Es gelingt ihm im Hinblick auf Fermina Daza, diese Seite seines Lebens vollständig geheim zu halten in einer Stadt, in der es keine Geheimnisse gibt bzw. „vieles sogar bekannt wurde, bevor es geschehen war“ (S. 343). Er nimmt dabei in Kauf, für homosexuell gehalten zu werden, was als schwerer Makel gilt. „Fünfzig Jahre später (…) hatte er etwa 25 Hefte mit 622 Eintragungen über dauerhafte Liebschaften gefüllt, die unzähligen flüchtigen Abenteuer ausgenommen, die ihm nicht einmal eine barmherzige Notiz wert waren.“ (S.224) Zuletzt, mit 75 Jahren, liebt er eine vierzehnjährige Verwandte: „Sie erblühte wie durch eine Explosion und schwebte in einer Vorhölle der Wonne.“ (S.399) Nicht aber diese Liebschaften, von denen etwa ein halbes Dutzend mit besonderer Bedeutung für Florentino geschildert wird, sind das Thema des Buches, sondern seine große Liebe zu Fermina Daza, von der sie ihn ablenken, die sie ersetzen sollen und niemals können.

Die Geschichte wird rückblickend vom Todestag des Dr. Urbino aus erzählt, der mit 81 Jahren einen eher lächerlichen Tod stirbt. Er stürzt bei dem Versuch, seinen landesweit berühmten vielsprachigen Papagei einzufangen, von der Leiter, nachdem zuvor die Feuerwehr vergeblich den Vogel einzufangen versucht und dabei die halbe Einrichtung des teuren Hauses zerstört hat. Fermina Daza hatte mit 16 Jahren dem Werben Florentinos stattgegeben und ihm versprochen, ihn nach einer zweijährigen Probezeit zu heiraten. Danach hatte sie jedoch erkannt, daß ihre Liebe (beide hatten mit Ausnahme weniger Sätze nur brieflich und telegraphisch miteinander verkehren können) eine Selbsttäuschung war. Nach einigem Widerstreben hatte sie der etwas später einsetzenden Werbung des begehrtesten Mannes der Stadt nachgegeben, der gerade von seinen medizinischen Studien in Paris zurückgekehrt war und erfolgreich eine Cholera-Epidemie eingedämmt hatte. Von der beendeten Verlobung mit Florentino sollte er nie etwas erfahren.

Fermina Daza kann die Erinnerung an ihre erste Liebe fast aus ihrem Gedächtnis verbannen. Das gelingt Florentino nicht. Er zählt die Tage bis zum Tod ihres Mannes („51 Jahre, 9 Monate und 4 Tage“, S. 422) und wiederholt ihr noch in der Nacht, als ihr Mann gestorben ist, mit 76 Jahren seinen Liebesschwur: „Auf diese Gelegenheit habe ich über ein halbes Jahrhundert gewartet (…)“. (S. 80)

Er wird natürlich hinausgeworfen. Aber nun beginnt eine atemberaubende erneute Werbung, die schließlich überzeugt. Nach einem Jahr vereinigen sich die beiden Greise (sie 73, er 77) glücklich in einer ruhigen Liebe auf einem Flußdampfer, der wegen der gesellschaftlichen Konventionen und der für Fermina Daza damit verbundenen Angst unter der vor Neugierigen schützenden gelben Pestflagge den Magdalena hinauf- und hinabfährt. Die – auch körperliche – Liebe zwischen den beiden alten Menschen am Ende des Romans wird mit einer solchen Zartheit und Genauigkeit geschildert, wobei die Leiden des Alters keineswesgs ausgespaart werden, daß diese hier unvermeidliche Inhaltsangabe fast den Rahmen einer Entstellung hat.

Eine Dreiecksgeschichte, die keine ist: ein Kampf zwischen zwei Männern, der keiner ist, nicht einmal in indirekter Form – der eine wartet schlicht, bis der andere stirbt, und empfindet keinen Haß auf ihn. Florentino erkannte, daß „er und jener Mann, in dem er immer seinen persönlichen Feind gesehen hatte, Opfer ein und desselben Schicksals waren und sich das Los einer gemeinsamen Leidenschaft teilten“ (S.280). Und doch ist es aus der Perspektive Florentinos ein zäher und beharrlicher Kampf: mit sich selbst, gegen das Alter, gegen die zahllosen Enttäuschungen, von denen er nicht verschont bleibt. Es geht aber auch – und das bemerkt man wegen der großen Behutsamkeit, mit der diese Ebenen behandelt wird, so recht erst bei der zweiten Lektüre – um den Aufstieg einer Gesellschaftsklasse gegen die andere. Beide werden jeweils von einer Person repräsentiert.

Oberschicht und aufsteigende Unterschicht. Ein Arzt verändert eine Stadt.

Der vielfach diplomierte Dr. Urbino de la Calle stammt aus einer der ältesten adeligen Familien der Stadt. Schon sein Vater war ein hochangesehener Arzt; er starb im Kampf gegen die Cholera. Was dem Vater nicht gelang, schafft der Sohn. Er rettet die Stadt vor einer zweiten Cholera-Epidemie, indem er die Änderung zahlreicher Sitten, Gewohnheiten und selbst der Flächennutzung durchsetzt. Später schreibt man ihm einen besonderen „klinischen Blick“ zu. „Auf alle Fälle war er immer ein teurer Arzt gewesen, und seine Klientel wohnte vorwiegend im herrschaftlichen Viertel der Vizekönige.“ (S. 219) Er besucht seine Patienten in einer vornehmen Kutsche, deren Kutscher auch in der größten Hitze Livree und Zylinder tragen muß, was durchaus nicht üblich ist. Dr. Urbino hält nicht nur bis ins hohe Alter gut besuchte medizinische Vorlesungen und wird auch als 80jähriger noch von seinen Schülern um Rat gefragt, sondern sammelt geradezu Ehrenämter, die er teilweise selbst schafft: Präsident auf Lebenszeit der von ihm gegründeten medizinischen Gesellschaft, Präsident der Akademie für Sprache sowie der Akademie für Geschichte, Mitglied im „Patriotischen Rat“ (einer Art Bürgerinitiative für Stadterneuerung), Organisator und Schirmherr eines Dichterwettbewerbs usf. (S. 70). Zugleich aber ist er ein „scharfer Kritiker jener Ärzte, die ihr berufliches Ansehen einsetzen, um politische Positionen zu erklimmen“ (S. 72).

Trauzeuge kann für Juvenal Urbino kein geringerer sein als der Philosoph, Dichter und Verfasser der Nationalhymne, Dr. Raffael Nunez, dreimaliger Präsident der Republik, und drei Bischöfe zelebrieren die Traumesse. Als Urbino stirbt, läuten alle Glocken wie beim Tod eines kirchlichen Würdenträgers. Er ist ein strenggläubiger praktizierender Katholik, der nur dreimal in seinem Leben die Messe versäumt hat (das dritte Mal am Tag seines Todes). Er kennt und verfolgt bis zum Ende die neuesten Entwicklungen in den Künsten, der Musik und insbesondere der französischen Literatur. In seiner Bibliothek stehen 3.000 identisch eingebundene Bände mit seinem Monogramm in Gold auf dem Rücken. Er organisiert und stimuliert unentwegt das kulturelle Leben der Stadt, ihm gelingt mit einer „Massenmobilisierung“, „was ein Jahrhundert lang unmöglich schien: die Restaurierung des Teatro de la Comedia“ (S. 71). Aber er ist nicht nur ein Schirmherr der Kultur, sondern kann selber singen und verfügt über die bemerkenswerte Gabe, gleichzeitig ein ernsthaftes Gespräch zu fähren und ein Konzert aufmerksam zu verfolgen (S. 60).

So überspitzt einzelne dieser Züge in der hier gebotenen Komprimierung auch anmuten, so wenig wird Urbino als Abstraktion oder gar Karikatur des niedergehenden spanischen Kolonialadels dargestellt. Im Gegenteil: „Niemand war sich so wie er bewußt, der letzte Repräsentant eines aussterbenden Geschlechts zu sein.“ (S. 73) Während die alten Familien mit den langen, wohlklingenden Namen nur noch von den „Verdiensten ihrer Herkunft“ leben, denen „Politik und die Schrecken des Krieges nie etwas anhaben können“ (S. 59), und vom heimlich an Arizas Mutter verpfändeten Schmuck, ist Juvenal Urbino aktiv und fleißig, erwirbt sich sowohl Ansehen als auch Reichtum mit seiner eigenen Tätigkeit und mit seinem Weitblick, die er geschickt mit dem „Einfluß seines Namens“ (S. 13) kombiniert. Dabei scheut er sich nicht, „überall anzuecken“. Schon die hygienische Sanierung der Stadt war nur gegen starke Widerstände möglich. „Sein Erneuerungsdrang, sein staatsbürgerlicher Übereifer, sein bedächtiger Sinn für Humor in einem Land unausrottbarer Witzbolde, all das, was ihn in Wahrheit so schätzenswert machte, trug ihm das Mißtrauen seiner älteren Kollegen und den verdeckten Spott der Jungen ein.“ (S. 162) Er liebt, anders als seine Freunde und Kollegen, „die Stadt hinreichend, um sie mit den Augen der Wahrheit zu sehen“ (S. 165). „Er selbst verstand sich als geborener Pazifist und sprach sich für eine endgültige Versöhnung zwischen Liberalen und Konservativen zum Wohle des Vaterlandes aus. Dennoch war sein Auftreten in der Öffentlichkeit so eigenwillig, daß ihn niemand ganz für sich beanspruchen mochte: Die Liberalen hielten ihn für einen vorsintflutlichen Reaktionär, die Konservativen sagten, es fehle nur noch, daß er Freimaurer sei, und die Freimaurer lehnten ihn als verkappten Kleriker ab, der im Dienst des heiligen Stuhls stehe“ (S. 72 ff.). Er, „der gepflegteste Mann der Stadt“ (ebd.), besitzt den Mut, eine „Dorfschönheit ohne Namen und Vermögen zu heiraten“ (S. 73), deren Vater als Viehdieb gilt und ein einziger „Tribut an die Vulgarität“ ist (S. 123). Kein Zweifel: Urbino wird, wenn auch mit leichtem Spott, positiv und liebevoll gezeichnet.

Erst diese liebevolle Zuwendung ermöglicht einen denunziationsfreien, klaren Blick auf das, was sich hinter dieser glänzenden Fassade verbirgt: „Ihm war wohl bequßt, daß er sie (Fermina Daza, R.S.) nicht liebte. Er hatte sie geheiratet, weil ihm ihr stolzes Wesen gefiel, ihre Ernsthaftigkeit, ihre Kraft, und eine Prise Eitelkeit war auch bei ihm im Spiel gewesen (…)“ (S. 235). „Es war zumindest merkwürdig, daß ein praktizierender Katholik wie er ihr nur irdische Güter anbot: Sicherheit, Ordnung, Glück – Posten, die zusammengezählt, als Summe vielleicht der Liebe ähnelten: fast der Liebe.“ (S.323). „Sie wußte, daß er sie über alles liebte, mehr als sonst jemanden in der Welt, er liebte sie aber nur für sich“ (S. 324).

Dem entsprechen seine „Männerlaunen“ (S. 439): „Er war kein perfekter Ehemann: Nie hob er etwas vom Boden auf, er löschte kein Licht, schloß keine Tür (…) Tag für Tag stieß er beim ersten Schluck Kaffee und beim ersten Löffel dampfender Suppe einen herzzerreißenden Schrei aus, der schon niemanden mehr erschreckte, und machte dann sofort seinem Ärger Luft. »Wenn ich eines Tages abhaue, dann wißt ihr warum. Ich habe es satt, immer mit verbrannter Zunge rumzulaufen.«“ (S. 325) „Es fiel ihm leichter, die fremden Schmerzen zu ertragen als die eigenen“ (S. 19). Deshalb nimmt er heimlich eine Vielzahl von Medikamenten, die er anderen mit guten Gründen verweigert, und lebt in ständiger Angst vor den möglichen Folgen. Seine „allzu offen zur Schau gestellte Gelehrsamkeit und die alles andere als unschuldige Art, mit der er den Einfluß seines Namens geltend machte“, bringen ihm „weniger Zuneigung ein, als er verdient hätte“ (S. 13). Fermina Daza hat den Verdacht, „daß sich hinter der beruflichen Autorität und der weltmännischen Ausstrahlung des Mannes, den sie geheiratet hatte, ein unrettbarer Schwächling verbarg: Ein armer Teufel, den nur das gesellschaftliche Gewicht seines Namens mutig machte.“ (S. 303) Als dieser gefährdet erscheint, weil die kriminellen Aktivitäten von Ferminas Vater aktenkundig werden, ist Urbino „klar, daß es allein seinen Ruf zu schützen galt, denn der allein bedeutete doch etwas“ (S. 308). In Fermina suchte er „die Sicherheit (…), die sein öffentliches Auftreten bestimmte und die er in Wirklichkeit nie gehabt hatte.“ (S. 439)

Nirgends wird seine Schwäche und innere Leere so deutlich wie bei seiner einzigen außerehelichen Beziehung in 50 Jahren: „In Schweiß gebadet, folgte er ihr, hechelnd, stürmte ins Schlafzimmer und warf alles von sich, den Spazierstock, den Arztkoffer, den Panamahut, er liebte sie in Panik, die Hosen um die Knöchel gerollt, die Jacke zugeknöpft …“. Anschließend ist er jedesmal „erschöpft, als habe er auf der Trennlinie zwischen Leben und Tod den absoluten Liebesakt vollbracht, während er in Wirklichkeit gerade all das geschafft hatte, was der Liebesakt mit einer Turnübung gemeinsam hat. Doch er hatte sich an seine Ordnung gehalten: Die genaue Zeit, um bei einer Routinebehandlung eine intravenöse Spritze zu geben“ (S. 360 ff.).

Eine ihm fernstehende scharfsichtige Mulattin, eine Freundin Florentinos charakterisiert Urbino so: „Ein Mann, der viel bewegt, vielleicht zuviel, aber ich glaube, keiner weiß so recht, was er denkt (…) Vielleicht unternimmt er so viel, um nicht denken zu müssen“ (S. 281).

Ein Schatten verändert die »Welt«.

Florentino Ariza dagegen ist „ein Sohn der Straße“ (S. 249), mit „Indiohaar, steif und fest wie Roßhaar“ (S. 382), unehelicher Sohn eines unehelichen Vaters (S. 83), den er als Kind einmal in der Woche in einer demütigenden Situation (um Geld zu bekommen) kurz sieht und vor dem er entsetzliche Angst hat (S. 249). Seine Mutter führt ein Kurzwarengeschäft, zupft nebenher Watte aus Lumpen und betreibt unter der Hand mit viel Geschick ein Pfandgeschäft. Ihren (einzigen) Sohn schickt sie mit umgearbeiteten scharzen Gehröcken seines Vaters, „die am Boden schleiften“, und mit „ehrwürdigen Hüten, die ihm über die Ohren rutschten“, zur Schule (S. 381). Diese „von der Not erzwungene Aufmachung“ behält Florentino fast bis zu seinem Lebensende bei, d.h. bis zur Vereinigung mit Fermina Daza. Für sie, auf dem Flußdampfer, zieht er sich, mit 77 Jahren, erstmals „bequeme weiße Schuhe, eine Leinenhose und ein kurzärmeliges Leinenhemd“ an (S. 483). Auch als Erwachsener wirkt er stets älter als er ist (S. 383): „ausgezehrt“, „schüchtern“ (S. 84), „wie ein geprügelter Hund“, ein „in Ungnade gefallener Rabbiner“ mit „steifen Manieren“ (S. 191), chronischer Verstopfung und einem Sehfehler, ein „Zukurzgekommener“ (S. 224) mit einer „Aura der Verlassenheit“ (S. 89). Fermina Daza charakterisiert ihn einmal so: „Es ist, als sei er keine Person, sondern ein Schatten“ (S. 298).

Aber Florentino lernt in wenigen Stunden gut Geige spielen, beherrscht die Modetänze wie kein zweiter und ist unter den Mädchen seiner Kreise (wie später bei den Frauen und besonders den Witwen) gerade wegen seines „hilflosen Auftretens“ und seiner offensichtlichen Liebesbedürftigkeit begehrt. Ein erster, nicht abgeschickter „fiebriger“ Liebesbrief an Fermina ist 60 Seiten lang. Später schreibt er einen „Sekretär der Liebenden“ mit 1.000 Musterbriefen für alle Situationen, „um sich die vielen Worte der Liebe von der Seele zu schreiben“ (S. 245), die er Fermina nicht mehr schreiben darf, und verhilft mit seinen Künsten so manchem Paar zum Glück. Liebesgedichte weiß er nach der zweiten Lektüre auswendig. Er liest alles, was ihm unter die Finger kommt, Groschenhefte wie klassische Literatur, und kann im Gegensatz zu Urbino gute und schlechte Literatur, sentimentale und gute Musik nicht unterscheiden. Aber er lebt emotional geradezu vom Lesen, was für den gebildeten Urbino nur bedingt zutrifft.

Für Fermina Daza bringt er sogar einen – gesellschaftlich Aufsehen erregenden – Aufstieg zustande, der ihm aber als solcher gar nichts bedeutet: Er arbeitet sich zäh und mit einer für seine Gegner „verheerenden Zielstrebigkeit“ (S. 245) an die Spitze der Karibischen Flußschiffahrts-Kompanie hoch, hauptsächlich, um auf einem Schiff eine für seine „Hochzeitsreise“ mit Fermina geeignete Luxuskabine einrichten zu können (S. 477). Dieser Aufstieg gelingt ihm, obwohl er nicht in der Lage ist, einen einzigen ordentlichen Geschäftsbrief zu schreiben, der frei von Lyrismen wäre; „seine Frachtbriefe reimten sich, so sehr er sich auch bemühte, das zu verhindern“ (S. 244). In diesem Punkt hat Florentino Glück: An der Spitze des Unternehmens steht ein wohlwollender Bruder seines Vaters, eine machtliebende Verehrerin erledigt, ohne daß er es recht bemerkt, die „Schmutzarbeit“ für ihn, bahnt ihm den Weg (S. 275), und Florentinos Aufstieg vollzieht sich in einer Zeit, in der die Flußschiffahrt Konjunktur hat und eine der wesentlichen Quellen für einen gewissen Aufschwung der Stadt mit ihrem „stinkenden Ruhm“ ist (S. 506). Für eine solche Periode mag der Ausspruch von Florentinos Vater zutreffen – er hatte das Unternehmen mitbegründet und war ebenfalls ein leidenschaftlicher Liebhaber sowie Verfasser von Liebesgedichten –, daß es keine „luzideren und gefährlicheren Geschäftsführer gebe als die Dichter und niemand einen größeren Realitätssinn habe als sie“ (S. 246).

Bemerkenswerter als dieser äußere Erfolg aber ist Florentinos Sieg über sich selbst. Als Fermina ihn z.B. in der Todesnacht ihres Mannes mit dem freundlichen Wunsch: „Hau ab und laß dich nie wieder blicken, solange du lebts. Und ich hoffe, das dauert nicht lang“ hinausgeworfen hat, als sie ihm dann drei Wochen später wutentbrannt einen Brief voller Beleidigungen geschickt hat, wertet er beides als Zeichen von Interesse: „Also war das Leben jetzt bis zu der Grenze gelangt, wo er es haben wollte. Alles übrige hing von ihm ab, er war zwar davon überzeugt, daß seine ein halbes Jahrhundert alte persönliche Hölle noch viele lebensgefährliche Prüfungen bereit hielt, doch wollte er diese mit noch größerer Glut, mit noch größerem Schmerz und größerer Liebe auf sich nehmen, da sie die letzten sein würden“ (S. 426). Er antwortet mit einer Serie von 140 Briefen in einem gegenüber seinen früheren Liebesbriefen völlig geänderten Stil: mit „ausführliche(n) Betrachtungen über das Leben“ im „patriarchalischen Stil von Alterserinnerungen, damit ihnen nicht allzusehr anzumerken wäre, daß sie in Wirklichkeit ein Zeugnis der Liebe waren (…) Er wußte, daß jede Unbedachtheit in der Form und die kleinste nostalgische Leichtfertigkeit den Groll der Vergangenheit in ihrem Herzen aufwühlen konnte (…) Also bedachte er auch noch das kleinste Detail (…)“ (S. 429).

Fermina Daza war, seitdem sie ihn in ihrer Jugend abrupt und ohne jede Erklärung abgewiesen hatte, „immer überzeugt gewesen, ein Samenkorn des Hasses in ihn gesenkt zu haben“, und als Florentino ihr am Sarg ihres Gatten „erneut seine Liebe beteuerte (…), konnte sie sich nicht vorstellen, daß jene Unverschämtheit etwas anderes war als der erste Schritt eines wer weiß was für finsteren Racheplanes“ (S. 412 ff). Auf ihren Schmähbrief erwartete sie „eine verdiente Antwort (…), doch schon der vornehme Briefkopf und die Einleitung des ersten Absatzes ließen sie erkennen, daß sich in der Welt etwas verändert hatte“ (S. 437; Hervorhebung R.S.).

Hoffnung aus den Widerständen: Alltagsbewußtsein und Alltagsrealität

Wodurch wird diese unglaubliche Geschichte so glaubwürdig, wodurch vermittelt dieser Roman im Gegensatz zu Simmels Buch eine so aufbauende Kraft der Hoffnung? Und welche Hoffnung, für wen?

Die Antwort auf die erste Frage könnte schlicht lauten: durch Wahrhaftigkeit. In diesem Buch wird nicht gemogelt. Florentino Ariza wird, anders als die friedenspolitisch idealisierten Figuren Simmels, niemals als „guter Mensch“ geschildert und möchte selbst „auf keinen Fall“ dafür gehalten werden. (S. 455)

Garcia Marquez schreibt ihm „Kleinlichkeit“, „manische Ordnungsliebe“, ja „Zwanghaftigkeit“ zu (S. 420). Es gibt Momente, in denen er nur knapp der Selbstzerstörung, d.h. dem Aufgeben seines Lebensplanes entkommt – die Verführung durch die junge America Vicuna (S. 433) –, und er hat nicht die Kraft, seine Schuld an diesem Mädchen abzuarbeiten: „Unbewußt begann er die Probleme von sich zu schieben, in der Hoffnung, daß der Tod sie lösen werde“ (S. 463), was der dann auch erledigt. Das Mädchen begeht Selbstmord. Auch kennt er Augenblicke des Verzagens: „Florentino ARIZA verspürte weder Eifersucht noch Zorn, sondern eine tiefe Selbstverachtung: Er fühlte sich arm, häßlich, minderwertig und nicht nur ihrer (Ferminas, R.S.), sondern jeder Frau auf Erden unwürdig“ (S. 226). Er durchlebt die Angst vorm Alter wie andere auch: „Die Jahre des reglosen Wartens und der glückversprechenden Hoffnungen hatte er hinter sich gelassen, am Horizont vor ihm zeichnete sich jedoch nichts anderes ab als das Meer der eingebildeten Krankheiten, des tröpfelnden Harns in schlaflosen Morgenstunden und des täglichen Todes in der Abenddämmerung“ (S. 380).

Selbst die letzte, schließlich erfolgreiche Werbung um Fermina Daza und die Greisenliebe auf dem Schiff verläuft alles andere als glatt. Fermina ist verbittert wegen der Enthüllungen über ihren Mann und ihren Vater. Sie sehnt sich nur noch nach dem Tod. Später, auf dem Schiff, leidet sie zeitweise unter heftigen Schmerzen. Florentino muß seinen ersten mutigen, weil unangekündigten Besuch bei Fermina etwa ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes abbrechen, weil sich „plötzlich in seinen Gedärmen eine Explosion schmerzhaften Schaums ausbreitet“ (S. 445). Er verzichtet brieflich in einem Anfall von Resignaion darauf, je wiederzukommen (S. 450). Auch später siegt gelegentlich die „Schwere des Alters über ihn“: „Er fühlte sich alt, traurig und unnütz“ (S. 452). Die sich erstmals begegnenden Hände sind knöchern. Sein Ziel endlich nach fünf Jahrzehnten erreichend, empfindet er ein so intensives Glück, „daß es ihm Angst macht“ (S. 491). Als ihm beim ersten Versuch der Vereinigung mit Fermina die Erektion nicht gelingt, sucht er „sehnlichst nach einem Grund, um ihr die Schuld an seinem Scheitern zuschieben zu können“ (S. 497).

Das Alltagsbewußtsein sucht die Widersprüche des wirklichen Lebens zu glätten. Es sucht nach Entlastungen, die diese Widersprüche zwar nicht real, aber dem Anschein nach beseitigen, und es benutzt oder produziert dazu vielfache Schematismen (»die Guten und die Bösen« usw.; der Roman von Simmel ist geradezu eine Mustersammlung solcher projektiver Mechanismen des Alltagsbewußtseins; daß sie mit einer ausgesprochen positiven Bewertung der Friedensbewegung gekoppelt werden, könnte für diese, wenn sie die Falle nicht erkennt, fatale Folgen haben.) Dabei paaren sich nicht selten positive Illusionen über die eigene Person, die eigenen Fähigkeiten und Chancen („mich wird es schon nicht erwischen“ oder „ich habe damit nichts zu tun“) mit einem verabsolutierenden Pessimismus, was die allgemeine Situation betrifft, etwa so, wie Simmel ihn präsentiert („man kann – und muß also – sowieso nichts ändern “ ). Die Realität wird folglich in doppelter Weise verbogen. Garcia Marquez dagegen verhilft der Realität, ihren Sprüngen und Rissen zur Geltung (ebenfalls in doppelter Weise, wie wir sehen werden), ohne dabei nur Trostlosigkeiten zu produzieren.

Im Gegenteil: selbst die Ehe Juvenal Urbinos mit Fermina Daza, in der diese letztlich nur eine „Luxusdienerin“ ist und ein vom Ehemann „geliehenes“ Leben führt (S. 323), wird keineswegs nur negativ gezeichnet. Es ist eine durchaus glückliche Ehe und zwar nicht nur dem äußeren Anschein nach. Gerade die genaue, nicht etwa karikierende Schilderung des alltäglichen Ehe-Kleinkriegs und seiner Auflösungen, die den tatsächlichen Alltag so häufig belasten, wirken erheiternd, damit befreiend („Laß mich hier. Es war Seife da.“ – (S. 50)).

Weder Florentino Ariza wird idealisiert noch Fermina Daza, eine im Gegensatz zur Norma Desmond in Simmels Roman aktive und energische Frau, obwohl sie aus dem Schatten des traditionellen Frauenbildes ihrer Umgebung kaum heraustritt. „Die Eitelkeit ihres Geltungsdranges war ihr, lange bevor sie alt zu werden begann, bewußt geworden“ (S. 440). Florentino wird anfangs von ihr für krankhaft gehalten, und in der Tat würden manche seiner Züge hierzulande Therapiebedürftigkeit nahelegen.

Gerade deshalb, weil die Widerstände und oft furchtbaren Widersprüche des realen Lebens – die äußeren wie die inneren – so genau und glaubwürdig geschildert werden, daß man sich in ihnen wiederfinden kann, erscheint es glaubhaft, daß ein Mann mit so schlechten Voraussetzungen am Ende die Zuneigungen einer so starken, eigenwillen und lebendigen Frau gewinnen kann. Die Beschreibung der Schwierigkeiten macht ihre Überwindung vorstellbar. Dadurch vermittelt der Roman den Geist der Hoffnung und des Muts, nicht aufzugeben. Solchen Mut aber brauchen wir heute angesichts der täglichen, vor allem ökologischen Hiobsbotschaften, die Simmel wiedergibt, mehr als je zuvor.

Umschlag ins Politische: Schwäche in Stärke verwandeln durch Zeit

Viel schwerer als bei Simmel läßt sich ausmachen, welche Leser diesem Buch zu seinem Erfolg verholfen haben, der den von Simmels „Clowns“ noch übertrifft: 350.000 abgesetzte Exemplare in 18 Monaten, bis November 1989. Neben den eingangs erwähnten literarischen Interessen wird auch das durch die Vorgänge in Chile, Argentinien, Brasilien und nicht zuletzt El Salvador und Nicaragua seit Jahren wachsende politische Interesse an Lateinamerika dazu beigetragen haben. Aber noch etwas anderes kommt hinzu.

Ein zentrales Thema, welches das Buch von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht, ist das Altern und was aus unserem Leben, unserer Liebe, unter dem Einfluß des Alters und seiner Beschwerden wird. Es liegt nahe anzunehmen, daß ein solches Buch vor allem diejenigen anspricht, die entweder selbst schon alt sind oder sich an der Schwelle befinden, an der man sich erstmals eingesteht, daß man sich dem Alter nähert. Das sind die heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen. Kombiniert man diese Lesergruppe mit dem o.a. politischen Interesse an Widerstand in Lateinamerika, so ergibt sich als besonderer, wenn auch nicht ausschließlicher Adressat die Gruppe der Menschen, die Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre jung waren und sich damals auf den Weg gemacht haben, Leben und Gesellschaft zu verändern.

Manch einer von denen, die sich damals mit diesen Aktivitäten als gesellschaftliche Außenseiter darstellten, mag inzwischen seine Ziele aufgegeben haben. Für viele aber sind diese Ziele die gleichen geblieben, auch wenn sich die gewählten Mittel und Wege oft als unzureichend oder falsch erwiesen haben: soziale Gerechtigkeit, nicht nur im eigenen Land oder im eigenen politischen System, sondern auch im Nord-Süd-Verhältnis; Demokratie als wirkliche und nicht nur nominelle, von wenigen manipulierte Volksherrschaft; tatsächliche und nicht nur formelle Selbstbestimmung der Völker, Freiheit von Ausbeutung, ökonomischer Abhängigkeit und militärischer Unterdrückung, Frieden. Wie Florentino Ariza hat diese Generation über Jahrzehnte kaum Fortschritte in dieser Richtung gesehen und hat beim Eintauchen in die verschiedensten, jeweils aktuellen sozialen und politischen Bewegungen vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, Ent-Täuschungen, Rückschläge und Niederlagen erlebt, und vor allem: An keiner Stelle ist ein »durchschlagender« Erfolg gesichert. (Das gilt auch für die Zukunft des Wettrüstens.) Was also, so vermutlich die drängende Frage, die diese Lesergruppe sich im Angesicht des heraufziehenden Alters stellt, wird aus diesen Zielen? Sind sie nur noch Ikonen in Gestalt vergilbter Bücher in den Regalen?

Auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, daß Liebe in den Zeiten der Cholera“ deswegen so viel gelesen wird, weil sie – entlastend für ehemals wie potentiell politisch Engagierte – ein letztlich unpolitisches Lateinamerika zeigt (zu zeigen scheint), Menschen mit vorwiegend »privaten« Sorgen und Problemen: „Ermattet von so vielen (privaten, R.S.) Schrecken, hatte Fermina Daza den des Krieges vergessen.“ (S. 128): zweifellos einer der wesentlichen Gründe dafür, warum auch in Europa die Mehrheiten immer wieder von der sehr wohl bewußten Kriegsgefahr absehen, bzw. (wie seit 1984) zur Tagesordnung der Alltagsgeschäfte zurückkehren (Volmerg / Volmerg / Leithäuser 1983). Ist also die positive Aufnahme auch dieses Romans ein Zeichen für den resignierenden Rückzug aufs private Glück?

Der lange und schwierige Weg des Florentino Ariza, den Garcia Marquez zeichnet, ist in der Tat der Weg einer »privaten« Beharrlichkeit. Jemand bleibt sich in Verfolgung seines Ziels bis ins hohe Alter treu, und das Ziel wird keine Ikone, sondern mit allen Mitteln bis zuletzt real verfolgt, etwa, indem Florentino seinen Körper im Hinblick auf die erwartete spätere Vereinigung mit Fermina „mit einer Gewissenhaftigkeit“ pflegt, „die andere Männer seiner Zeit nicht für besonders männlich hielten“ (S. 406). Aber gerade weil diese Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit so konsequent von Anfang an als »private« dargestellt wird (kein Rückzug ins Private eben), kann paradoxerweise in der Assoziationstätigkeit des Leser ein Umschlag stattfinden. Das Leben des anfangs so gänzlich chancen- und hilflosen gesellschaftlichen Außenseiters Ariza wird zum Bild für einen möglichen Erfolg politischer Beharrlichkeit, die Zielstrebigkeit mit Flexibilität vereint, in sehr großen Zeiträumen zu denken gelernt hat und dadurch Schwächen in Stärke verwandeln kann. (Florentino erträgt seine Alterbeschwerden „besser als seine Generationsgefährten, weil er sie von Jugend an kannte“, S. 407).

Daß ein solcher Umschlag möglich ist, zumindest für den oben eingegrenzten Teil der Leserschaft, hat erstens damit zu tun, daß die von dieser Gruppe erfahrenen politischen Niederlagen und Enttäuschungen keineswegs nur in der äußeren (»politischen«) Welt ihre Ursachen hatten, sondern mindestens im gleichen Maße mit den eigenen inneren (»persönlichen«, »privaten«) Problemen und Widerständen – oder, je nach dem Grad entwickelter Selbstreflexion, in denen der Kampfgenossen, Weggefährten und Verbündeten gesehen werden. »Persönliche« und »politische » Ausdauer und Durchsetzungskraft sind real nicht zu trennen. Daher kann auch die eine im Bild der anderen erscheinen. Zweitens wird dieser Umschlag vom Privaten ins Politische angeregt dadurch, daß Garcia Marquez eben nicht einen Kampf zwischen zwei beliebigen Männern um eine Frau schildert, sondern den »Sieg« dessen, der gesellschaftlich und politisch »unten« ist und diesen Kampf nur dank der eigenen Zähigkeit und Authentizität (die in dieser Form »oben« nicht möglich ist) durchstehen kann. Dabei spielt die Entschiedenheit, mit der Florentino Zweck und Mittel kühl kalkuliert, als ob es nicht um Liebe, sondern um Politik ginge, eine wesentliche Rolle. Nur dadurch gewinnt er. Drittens aber versperrt Garcia Marquez selbst höchst eindringlich den Weg, Leben und Erfolg des Florentino Ariza als Bestätigung für einen eigenen Rückzug inst Private zu nehmen.

Hoffnung auf zerstörtem Fluß

Auf seiner ersten Flußreise auf dem Rio Grande de la Magdalena, bei der der junge Florentino Ariza der Erinnerung an Fermina Daza vergeblich zu entkommen sucht, fährt er durch „einen verschlungenen Wald riesiger Bäume, und nur ab und zu war neben den Brennholzstößen für den Schiffskessel eine Strohhütte zu sehen. Auf den Sandbänken sonnten sich Kaimane. Man hörte das Kreischen der Papageien und den Aufruhr der unsichtbaren Affen in der Mittagshitze“ (S. 207 ff.). Etwas über 50 Jahre später muß Florentino einsehen, „daß der Magdalena, einer der größten Ströme der Welt, nur noch ein Trugbild der Erinnerung war. (…) Die Schiffskessel hatten dieses Urwalddickicht aus kolossalen Bäumen verschlungen (…), die Jäger der Gerbereien von New Orleans hatten die Kaimane ausgerottet, (…) die plappernden Papageien und die langschwänzigen Affen mit ihrem Gekecker waren, als die Laubkronen dahinschwanden, allmählich ausgestorben, und den Seekühen (…) hatten die Mantelgeschosse der Sonntagsjäger ein Ende bereitet“ (S. 484 ff.).

An diesem Niedergang, ein »Realsymbol« für die rapide fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen (der Leser des Romans weiß ja, was die Zerstörung der tropischen Regenwälder für die Erde insgesamt bedeutet) ist Florentino nicht unschuldig: „Schon lange (…) hatte Florentino Ariza beunruhigende Berichte über den Zustand des Flusses bekommen, diese aber allenfalls überflogen. (…) Benebelt von der Leidenschaft für Fermina Daza, hatte er sich nie die Mühe gemacht, ernsthaft darüber nachzudenken, und als er die Wahrheit zur Kenntnis nehmen mußte, war schon nichts mehr zu machen (…)“ (S. 493).

Das so beglückende und ermutigende Bild eines sich noch im hohen Alter erfüllenden Lebens erhält dadurch, daß diese Erfüllung sich auf dem sterbenden Fluß realisiert, einen bösen Riß. Unter dem Glück wird die immer bedrohlicher und immer realer werdende Möglichkeit sichtbar, daß „alles ein Ende hat“ (S. 493). In dieses Bild gehen mit den vielen aufgedunsenen Leichen, die den Fluß herunterschwimmen, zwei weitere Hauptbedrohungen für große Teile der Menschheit ein: Krankheit und der bis dahin im Roman scheinbar verleugnete Krieg.

Es ist ein Paradox des Buches, daß der innerlich leere und schwache Juvena Urbino immerhin die Cholera eindämmt. Der innerlich reiche und starke Florentino Ariza dagegen, dem es gelingt, den jahrtausendealten Zirkel von Haß und Rache zu durchbrechen, von dem ein großer Teil des Unheils ausgeht, das die Menschheit bedroht; Ariza, der insofern, im Keime, die Welt verändert; dieser Ariza tut für die Gemeinschaft nicht nur nichts, sondern beschleunigt mit seiner Konzentration aufs Private und mit seiner ökologischen Naivität („wenn das Holz einmal zu Ende ist, gibt es längst Schiffe, die mit Erdöl fahren“, S. 493) noch die kollektive Selbstzerstörung der Menschheit. Obwohl nicht aus ökonomischen Motiven handelnd, verhält er sich in diesem Punkt wie bisher die meisten sozialen Aufsteiger und aufsteigenden Klassen: blind.

Man könnte das Bild der Greisenliebe auf dem zerstörten Fluß auch so lesen: Persönlich erfülltes Leben und ein damit (nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit: Büttner u.a. 1984) eng verbundenes langfristiges Arbeiten an der Auflösung des Haß- und Rachezirkels einerseits und andererseits das Engagement für das Überleben der Erde hier und jetzt sind alternativ geworden. Da aber niemand ungestraft auf das Streben nach persönlichem Glück verzichten kann (das hat die Psychoanalyse hinreichend herausgearbeitet), wäre dann die Botschaft die gleiche wie die von Simmels „Clowns“: „Wir verrecken in Kürze von selber“ (Simmel 1987, S. 336), sozusagen dasselbe in besserer Verpackung.

Der starke, aber nicht idealisierende und glättende Optimismus, den das Buch vermittelt, die liebevolle Sorgfalt, mit der die Stationen bis zu dieser Flußreise und die Liebe auf dem Dampfer selbst beschrieben werden, lassen jedoch auch eine andere Botschaft, eine andere Entschlüsselung der Botschaft entgegen dem derzeit vorherrschenden, weit verbreiteten Kultur- und Lebenspessimismus zu: Das »Ende« des Lebens auf der Erde ist zu vermeiden, wenn die Energie der persönlichen Liebe, mit der Florentino Ariza alle inneren und äußeren Widerstände überwindet, zugleich auf die Welt, das Leben auf der Erde, gerichtet wird. Daß die »unten«, die gesellschaftlichen und politischen Außenseiter, den Mut und den langen Atem gewinnen, dessen subjektive Möglichkeit Florentino symbolisiert, ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Eine andere ist das Bewußtsein, daß die »Cholera« (als Bild für die gegenwärtige Bedrohtheit des Lebens überhaupt) vielleicht sogar eine so intensive Zuwendung zur Welt erst ermöglicht: Im Roman kann jene Liebe jedenfalls nur unter der Pestflagge realisiert werden.

Der Text ist Teil des Aufsatzes: Reiner Steinweg, Kollektive Selbstzerstörung, unaufhaltsam? Literarische Bestseller 1987: Angst – nochmal davongekommen – Hoffnung auf zerstörtem Fluß. Zu Simmel – Süßkind – Garcia Marquez, in: Helmut Moser (Hg.) L'Eclat – c'est moi. Zur Faszination unsrer Skandale, Weinheit 1989, S. 159-183. Der Text wurde für die vorliegende Publikation bearbeitet. Die Untersuchung versteht sich nicht als literaturwissenschaftliche, sondern als politpsychologische; siehe dazu im einzelnen die Vorbemerkung zu der oben angeführten Arbeit, S. 159-160

Dr. Reiner Steinweg ist am Österreichischen Institut für Friedensforschung und Friedenserziehung (ÖIF) / Stadtschlaining tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite