UN-Reform für das 21. Jahrhundert
von Christian Scherrer
In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen wies Generalsekretär Kofi Annan im September 2003 warnend darauf hin, dass die UN an einem Scheidepunkt angelangt seien. Damit berührte er das Thema, das in den letzten Jahren am meisten zur Spaltung der internationalen Gemeinschaft beigetragen hatte: der unprovozierte Überfall der anglo-amerikanischen Mächte, unter verlogenen Begründungen, auf den entwaffneten Irak, dessen Bevölkerung dezimiert, unterernährt und geschwächt war, und zwar auf Grund von UN-Sanktionen, für deren Manipulation und brutale prohibitive Anwendung während 13 Jahren die Aggressoren selbst gesorgt hatten. An einem Scheidepunkt müssen wir uns entscheiden, welchem Pfad wir folgen wollen. In diesem Fall führt ein Pfad zur vollständigen internationalen Anarchie, zur Verarmung ganzer Weltregionen, zu neuer imperialistischer Aggression, Instabilität, ökologischem Faschismus und zur Gefahr der Vernichtung durch Atomwaffen. Der andere Pfad würde das Völkerrecht gegen das Recht des Dschungels stärken, Verelendung verhindern, Armut reduzieren, begrenzt vorhandene Ressourcen gerecht verteilen, die Entwicklungsziele des UN-Milleniumgipfels erfüllen, dem Treibhauseffekt und der Umweltverschmutzung entgegenarbeiten, eine stabile Weltfriedensordnung aufbauen und Aggressionskriege, Völkermorde und illegales einseitiges Vorgehen der Großmächte ächten.
VN-Generalsekretär Annan richtete die Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel ein und beauftragte sie damit, Vorschläge zu entwickeln und zu evaluieren, welche Politiken und Institutionen die Vereinten Nationen benötigen, um die aktuelle Krise zu überwinden und die Weltfriedensordnung wirksam zu bewahren. Die Gruppe lieferte Ihren Bericht »Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« im Herbst 2004 ab. Die Kapitel mit Empfehlungen für eine effektivere UN stießen eine umfangreiche Diskussion an.
Die Aushöhlung des internationalen Rechts
Im September 2004 erklärte Annan ausdrücklich aber viel zu spät, dass der von den USA angeführte Krieg gegen Irak illegal sei. Gesetzeswidrige Handlungen sollten verfolgt werden, und dazu wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag eingerichtet. Die Hälfte aller Staaten sind dem Römischen Statut inzwischen beigetreten, darunter fast alle demokratischen Staaten. Die japanische Diplomatin Naoko Saiki stellte fest, der IStGH solle „sicherstellen, dass es keinen Platz auf der Erde gibt, wohin Gesetzesbrecher fliehen können.“ Allerdings ist Washington D.C. offensichtlich ein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher.
Der Weltstaatsanwalt Motreno Ocampo hat es allerdings nicht gewagt, eine Untersuchung des Überfalls auf und der Besetzung des Irak einzuleiten, ganz im Gegensatz zu den hehren Zielen des Weltstrafgerichts, wonach niemand (auch keine Großmacht) über dem Gesetz stehen kann. Wie man weiß, hat die US-Regierung die Unterschrift unter das Römische Statut, die Clinton kurz vor Ablauf seiner Amtszeit leistete, wieder zurückgezogen. Dieser völkerrechtlich einmalige Vorgang wurde »unsigning« genannt. Seither beschäftigt sich ein Großteil der US-Diplomaten damit, Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts mittels »bullying and bribing« (Bedrohen und Bestechen) zu nötigen, dass sie US-Bürgern Straffreiheit vor dem IStGH zusichern. Derartige Unterwerfungsverträge unter den Willen des Amerikanischen Imperiums wurden bisher mit über neunzig Staaten geschlossen, darunter einem erheblichen Teil der IStGH-Mitgliedstaaten. Die Sabotage dieser wichtigen neuen internationalen Institution, die als Zeitenwende im internationalen Recht gelobt wurde, könnte infamer nicht sein.
Die Untätigkeit des Weltstrafgerichtes
Ob das Weltstrafgericht bereits irreparablen Schaden genommen hat, ist vielleicht noch zu früh zu entscheiden. Einen erheblichen Legitimationsverlust hat der IStGH jedoch bereits erlitten. Der IStGH versäumte es sträflich, Untersuchungen gegen schlimmste Kriegsgräuel einzuleiten, wie die terroristischen US-amerikanischen »shock-and-awe«-Bombardierungen von zivilen Zielen im Irak; dem Einsatz von radioaktiv strahlenden und hochtoxischen Massenvernichtungswaffen gegen irakische Städte, die das so genannte »depleted u« (DU, abgereichertes Uran) enthalten, und zwar in der Größenordnung von geschätzten 2.000 Tonnen; die systematische Folterung und Erniedrigung von Kriegsgefangenen in Abu Ghraib (dem Foltergefängnis Saddam Husseins), in Guantanamo und auf Kriegsschiffen auf hoher See; die Verweigerung des Wiederaufbaus, insbesondere der 1991 systematisch zerbombten zivilen Infrastruktur; der Raub des Erdöls; die Installierung eines Regimes von Kollaborateuren; die andauernde illegale Besetzung und der brutale Krieg gegen die Widerstandskämpfer und die Zivilbevölkerung vor allem im Norden und Westen des Landes.
Die größten Verbrechen des Westens seit den Angriffskriegen in Indochina und Korea werden vom IStGH ignoriert, nicht jedoch von der internationalen Zivilgesellschaft. In Dutzenden von Tribunalen gegen Bush, Blair und andere Kriegsverbrecher, die in den USA, Europa, im Arabischen Raum und in Ostasien stattfanden, untersuchten Volksgerichte, was der IStGH versäumte, v.a. die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, Folter, Gängelung der Medien, Ressourcenraub und den Massenmord an den Schwachen und Ärmsten der Armen, der von höchsten UN-Beamten als Genozid eingestuft wurde. Seit 1991 ist und blieb ein Großteil der irakischen Wasserversorgung und der Abwasserreinigung zerstört, was unter den Bedingungen des brutalsten Embargos, das je verhängt wurde, zum Massensterben von Millionen Kindern, Frauen und Alten führte – bis heute. Stattdessen verfolgt der IStGH ausschließlich afrikanische Massenmörder in Kongo, Uganda und Sudan mit Strafverfahren. Diese Prozesse im Stil des Russell-Tribunals gegen die Verbrechen der US-britischen Allianz in Vietnam werden auch nach dem eigentlich als Abschluss gedachten World Tribunal on Irak (WTI), das im Juni 2005 in Istanbul stattfand, fortgesetzt. Weitere Hearings sind in Europa, West- und Ostasien geplant.
Trotz höchster Brisanz und schwerwiegenden Anklagen gelang es bisher nur punktuell an die globale öffentliche Meinung zu appellieren. Der Grund ist der Informationsboykott der internationalen und von den USA und Großbritannien kontrollierten Massenmedien. Die so genannte vierte Gewalt im demokratischen Rechtsstaat fällt fast völlig aus, besonders dann, wenn es um das politisch »Eingemachte« geht. Orwell lässt grüßen. Der Zustand der Nordatlantischen Allianz, der von der konservativen Journaille so beklagt wird, scheint angesichts der Gleichförmigkeit und Kritiklosigkeit der Massenmedien gegenüber dem amerikanischen Imperium tatsächlich bedenklich. Globalisierung und Profitorientierung haben längst zu medialem Einheitsbrei und (Selbst-) Zensur geführt. Von der neuen Weltkommunikationsordnung, einst von der UNESCO (damals dem Think Tank der Vereinten Nationen) als eine der wichtigsten Reformen des internationalen Systems gefordert, wird heute im Westen kaum mehr gesprochen.
Veränderungen, aber kein schlüssiges Konzept
Im März 2005 griff Annan die Überlegungen der Hochrangigen Gruppe auf und sprach in seinem Bericht »In größerer Freiheit: Auf dem Wege zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« davon, dass sich 2005 „eine historische Chance“ für einen Reformprozess biete, der die Organisation für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit macht. Auf dem Regierungsgipfel, zu dem die Staats- und Regierungschefs der Welt im September anlässlich des 60. Geburtstages der UN in New York zusammenkommen, sollen grundlegende Änderungen vereinbart werden. Die Hauptforderungen von Annan – versehen jeweils mit einer Anmerkung von mir – lauten:
- Erweiterung des Sicherheitsrates [wobei der strittigste Punkt überhaupt nicht erwähnt wird: das Vetorecht, das abgeschafft werden sollte];
- Klare Regeln für legitime Militärinterventionen [unter fast vollständiger Auslassung der Frage, wie die Verhinderung von Gewalt – insbesondere von Völkermord – operationalisiert oder das Konfliktmanagement als wichtigste Voraussetzung für künftige globale Regierungsführung ausgebaut werden kann];
- Stärkung der Menschenrechte [aber kein Wort über die äußerst komplizierten Minoritätenrechte, welche bedrohte Minderheiten vor despotischen Staaten schützen sollten, eine Hauptursache gegenwärtiger Gewaltkonflikte];
- Gerechte Entwicklung und Handelsbeziehungen und Erreichen der Milleniums-Entwicklungsziele bis 2015 [ohne verbindliche Regeln für die Finanzierung eines solchen Programms vorzusehen];
- Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens und vollständiger Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt [eher ein Appell als eine verbindliche Verpflichtung];
- Größere Kohärenz und grundlegender Umbau der UN-Bürokratie [ohne auf die Frage einzugehen, wie der zunehmend globale Prozess der Regierungsführung finanziert und gefördert werden kann].
Schlussfolgerung: Obwohl Annan die umfassendste Reform in der Geschichte der Vereinten Nationen vorschlägt, bleibt die anvisierte Reformagenda zu bescheiden.
Aufrechterhaltung der Weltfriedensordnung
Konfliktlösung hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Sie ist auf die konkrete Situation abgestimmt; sie wurde von allen Konfliktparteien einvernehmlich ausgearbeitet; und sie wird von abgestuften Erzwingungsmaßnahmen flankiert, die von vorbeugender Diplomatie über mehrgleisigen friedlichen Ausgleich bis hin zu gezielten politischen und wirtschaftlichen Sanktionen (die sich gegen unkooperative Regierungen und nicht gegen das Volk richten) oder im Notfall sogar zu friedenserzwingenden Maßnahmen unter Kapitel VII der UN-Charta reichen.
Völkermord darf nicht als »innere Angelegenheit« abgehandelt werden, sondern macht Intervention zur moralischen Pflicht. Die Ausarbeitung von strukturellen Maßnahmen zur Verhinderung von Völkermord hat höchste Priorität. Obwohl die Dringlichkeit erkannt wurde und die Afrikanische Union (AU) das Recht zur Intervention gegen Schurkenstaaten hat, wurde der Genozid in Darfur bislang nur verlangsamt aber nicht gestoppt. Der Westen, ausgerechnet die USA, beklagte den Völkermord, brachte eine UN-Resolution nach der anderen gegen das sudanesische Regime ein, weigerte sich aber, den einzigen glaubwürdigen Akteur (die AU) logistisch und finanziell bei der Befriedung und Kontrolle in Darfur zu unterstützen.
Renuklearisierung und Vertragsbruch
Der Nuclear Posture Review (Überprüfung der Nuklearpolitik und des Waffenarsenals) der US-amerikanischen Regierung von 2001 weckte Befürchtungen, dass die Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen sinken könnte. Das Ergebnis der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) vom Mai 2005 in New York machte nur allzu klar, dass das Nichtverbreitungsregime nutzlos wird und zusammenbrechen kann, wenn die Nuklearwaffenstaaten sich weiterhin einer umfassenden Abrüstung verweigern, aber andererseits Mittelmächten gar die zivile Nutzung der Atomenergie untersagen.
Seit George Bush und seine neokonservativen Freunde die Wahlen gegen Ende 2000 stahlen, wurde die überwunden geglaubte nukleare Konfrontation durch die USA mutwillig neu entfacht. Ein Vertragswerk nach dem anderen wurde vom Bush-Regime zerstört. Die schockierende neue beispiellose Aggressivität zeigte sich in der glatten Weigerung der USA, den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Nichtnuklearstaaten auszuschließen. Bereits seit 1991 werden von den USA radioaktive, hochgiftige Urangeschosse verwendet, also schon von Vater Bush im Südirak — nach 46 Jahren der Scham, die auf den nuklearen Holocaust in Hiroshima und Nagasaki vom August 1945 folgten. Der Einsatz von durch die UN 1996 verbotenen Uranwaffen wurde auch von Demokraten fortgeführt, einschließlich der Lügen über deren reale Auswirkungen. Clinton setzte Uranwaffen in Bosnien 1995 und Serbien 1999 ein, allerdings in weit geringerem Umfang als G. und G.W. Bush im Irak seit 1991 und in Afghanistan, letzteres Ziel ab November 2001, fast unbemerkt und im Windschatten des 11.9.
Der bedenkliche Geisteszustand der politischen Elite des Imperiums zeigte sich in der Zustimmung des Kongresses, sog. einsetzbare Atomstrengköpfe zu entwickeln, die »mini nukes«. Die erneute nukleare Bedrohung und die Frage, wie die Militärausgaben und imperialistische Aggressionsakte eingedämmt und kontrolliert werden können, sind neben der ungehemmten Umweltzerstörung und der andauernden Weigerung der USA und Japans, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen, die größten Herausforderungen, vor denen die Vereinten Nationen stehen.
Neue Agenda für Frieden und Veränderung
Die internationale Gemeinschaft muss sich den folgenden Hauptproblemen stellen:
- der Notwendigkeit, innerstaatliche Konflikte friedlich zu lösen, wobei das Völkerrecht dazu momentan nur eingeschränkt taugt (Festklammern am überholten Prinzip der Nichteinmischung) und Durchsetzung des Verbots von Aufhetzung, rassischer und ethnischer Diskriminierung;
- dem unabsehbaren Risiko einer irreparablen Destabilisierung der Weltwirtschaft, wenn die Armut im Süden weiter zunimmt;
- der Ächtung von Massenvernichtungswaffen, insbesondere der Eliminierung aller Nuklearwaffen (einschließlich DU) und heimtückischer langlebiger Waffen (Minen, Streubomben, chemischer und biologischer Waffen);
- der internationalen Ächtung von Völkermord, Aggressionshandlungen und Krieg, kombiniert mit weltweiter Reduktion und Kontrolle von Waffenproduktion und Waffenhandel;
- der dringlichen Umsetzung von Maßnahmen, um eine globale Klimakatastrophe abzuwenden.
In allen fünf Bereichen laufen wir Gefahr, dass effektive Antworten blockiert werden oder letztlich zu spät kommen.
Die aktuelle Struktur der globalen Institutionen privilegiert die Großmächte, die politisch kurzsichtig handeln und aus Eigennutz ernsthafte Reformen verhindern. Aber ohne radikale Veränderungen wird es nicht zu einer globalen Regierungsführung durch eine gestärkte UN kommen. Wachsende geopolitische Multipolarität und die Erstarkung des Ostens (China, Indien, Tigerstaaten) werden die Blockade über kurz oder lang durchbrechen und die momentan herrschende eurozentristische Machtstruktur kippen. Eine Vergrößerung des Sicherheitsrates ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings mit Einschränkungen.
Die wesentlichen Hindernisse für die unentbehrlichen Reformen sind leicht auszumachen: Im UN-Sicherheitsrat halten immer noch die alten fünf Nuklearwaffenmächte das Vetorecht, nicht aber Länder wie Indien, Japan, Deutschland, Indonesien, Brasilien und Nigeria. Einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat müssten neu supranationale Organisationen wie Europäische Union, Afrikanischen Union, Shanghai Cooperative Organization (SCO), blockfreie Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), Assoziation südostasiatischer Staaten (ASEAN), Organisation amerikanischer Staaten (OAS), Arabische Liga und andere Regionalorganisationen einnehmen; deren Stimmkraft sollte jene der Staaten übertreffen.
Der Ruf nach Reformen kommt vor allem aus dem Lager der blockfreien Länder, die eine weitere Instrumentalisierung der Vereinten Nationen durch die Großmächte verhindern wollen. Die herrschende Dominanz der nördlichen Minorität über die südliche Mehrheit muss gebrochen werden – wobei China und den ostasiatischen Tigerstaaten zunehmend eine Vermittlerrolle zukommt.
Das Scheitern der Reformen Annans
Mit seiner jüngsten Aussage, dass die Vereinten Nationen keine Weltregierung sein können, obwohl doch nur eine Entwicklung von Instrumenten der global governance (der globalen Regierungsfähigkeit) den Weltfrieden sichern und die Millenium-Ziele in der Weltentwicklung ermöglichen können, gestand Annan bereits das Scheitern seiner UN-Reformen ein. Ist dies Feigheit oder Realismus?
Die Weltgemeinschaft kann nicht zum stummen Zeugen der permanenten Sabotagepolitik des US-Imperiums gemacht werden. Die stärkste Militärmacht der Welt gibt zwar nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI so viel für ihre einseitige Hochrüstung aus wie der Rest der Welt zusammen genommen. Dies zeigt jedoch wenig bzw. keine Auswirkung, dort wo das Imperium militärische Stärke demonstrieren wollte.
Wie im Vietnam- und Koreakrieg scheint die US-Militärmacht im Irak geschwächt und demotiviert, trotz gewaltiger Feuerkraft, die immer wieder frontal gegen zivile Ziele gerichtet wird. Nach Angaben des medizinischen Fachjournals The Lancet vom 27. Oktober 2004 hat eine empirische, von US-Ärzten gemeinsam mit irakischen Experten durchgeführte Studie ergeben, dass seit März 2003 über 100.000 Iraker, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, von den Invasoren getötet wurden. Die Abschlachtung der Zivilbevölkerung entfachte einen stetig zunehmenden Widerstandswillen, der zur völligen Destabilisierung des Irak geführt hat und inzwischen über 2.000 US-Soldaten das Leben und 200.000 die Gesundheit gekostet hat. Nach Angaben der Harvard-Ökonomin Linda Bilmes kostete der Irakkrieg den US-Steuerzahler bereits die gigantische Summe von US$ 1.300 Milliarden oder US$ 11.300 pro Haushalt (Herald Tribune vom 22 August 2005, S. 6). Die sich abzeichnende politische und militärische Niederlage der USA wird das Pendel zu den Demokraten zurückschlagen lassen, die UN-Reform kann aber darauf nicht warten.
Nach einer Meinungsumfrage mit über 11.000 Befragten aus 23 Ländern, durchgeführt von November 2004 bis Januar 2005, sprachen sich fast zwei Drittel (64%) aller Befragten dafür aus, dass die Vereinten Nationen eine „signifikant machtvollere Rolle in den Weltangelegenheiten“ spielen sollten. Deutschland lag mit 87% Zustimmung an der Spitze (nur 7% dagegen), gefolgt von Großbritannien mit 75%, China mit 69% und den USA mit 59% (BBC online 13. Juli 2005). Noch höher war die Zustimmung zur Vergrößerung des Sicherheitsrates weltweit, die von über zwei Dritteln (69%) der Befragten befürwortete wurde, angeführt von 87% der Inder und sogar satten 70% der US-Amerikaner. Eine gute Mehrheit von 58% gegen 24% unterstützten die Abschaffung des Einzelvetos, mit dem die USA seit Jahrzehnten den UN-Sicherheitsrat lahm legt.
Die Sabotagepolitik der USA wird von einer qualifizierten Mehrheit der Weltbürger verurteilt, welche die von Annan geforderte UN-Reform befürworten. Gäbe es heute schon ein vom Volk gewähltes Weltparlament, dann wären die Reformen Kofi Annans per Akklamation angenommen. Selbst 57% der US-Amerikaner (gegen 34% Bush-Bolton Anhänger) forderten dies. Die Haltung der US-Regierung in der Frage der Sicherheitsratsreform wird nur von einem Drittel der US-Bürger geteilt und von fast zwei Dritteln der Weltbürger abgelehnt. Deutlicher hätte die Umfrage kaum ausfallen können.
Bedarf an radikaleren Reformen
Radikale Reformvorschläge fordern die Modernisierung und Demokratisierung der UN-Strukturen und mehr Effizienz. Die Vereinten Nationen müssen nicht »neu erfunden« sondern an die heutigen Anforderungen angepasst werden. Dabei fehlt es an praktischen Modalitäten, um die Hindernisse bei der Reform zu überwinden. Vor diesem Hintergrund würden sich meine Reformvorschläge auf das gesamte UN-System auswirken:
- Abschaffung des Vetorechts im Sicherheitsrat und Ernennung neuer ständiger Mitglieder, und zwar aus allen großen Weltregionen und aus Regionalkörperschaften wie der Europäischen und Afrikanischen Union;
- Schaffung einer Weltsozialbehörde; Festlegung globaler Mindeststandards für das menschliche Dasein; eine einheitliche Weltwährung;
- Einrichtung einer Weltzentralbank zur Eindämmung der Währungsspekulation auf den Finanzmärkten;
- Auflösung des Internationalen Währungsfonds (IMF) und der Weltbank; Übernahme ihrer Aufgaben durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss der UN (ECOSOC);
- Aufwertung der Generalversammlung;
- Verbesserung der demokratischen Legitimität des UN-Systems durch Einrichtung eines Weltparlaments mit gewählten Vertretern, das dem Jahresbudget zustimmen muss und bei Bedarf das Sekretariat entlassen kann;
- Aufbau eines unabhängigen Fonds durch globale Steuern auf Finanztransaktionen (z.B. mit 0,1%) und Umweltemissionen; mit »Steuern statt Beiträgen« würden die UN-Finanzprobleme behoben;
- Erweiterung der Mitgliedschaft und Aktivitäten des IStGH; Stärkung des Internationalen Gerichtshofs (IGH);
- Förderung von Maßnahmen zur Konfliktvermeidung als Kernelement der globalen Regierungsführung;
- Gestaltung einer Kultur des Friedens anstelle der bisherigen repressiven Maßnahmen und Militäraktionen;
- Globale Abschaffung von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen;
- Verbot jeglicher Waffenexporte;
- Förderung und Einbindung regionaler Strukturen, die integraler Bestandteil des UN-Systems werden sollten; Einbindung regionaler Sicherheitsräte und Konfliktregulierungsmechanismen; regionale Friedenstruppen (womit auch die Afrikanische Union ihre Probleme lösen könnte, vor die sie die destabilisierenden innerstaatlichen Konflikte stellen);
- Einrichtung eines Weltökologie- und -umweltrates mit der Befugnis, Wirtschaftssanktionen zu verhängen;
- Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in alle globalen Gremien; hohe Budgets und ausreichender Personalbestand machten internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) in den 1990ern zu globalen Akteuren; NGOs werden im 21. Jahrhundert zunehmend mehr an Einfluss gewinnen.
Christian Scherrer ist Professor für Friedens- und Gewaltforschung am Hiroshima Peace Institute (HPI) der Hiroshima City University. Gründer und Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR) seit 1987 und internationaler Experte für Wiederaufbau nach Kriegen und Massengewalt. Er war für zahlreiche UN-Organisationen, für Befreiungsbewegungen und Organisationen indigener Völker als Experte und Berater tätig. Der Artikel wurde am 1. September, also vor dem UN-Gipfel, abgeschlossen.