Ungarn unter Orbán
Rechtsruck in Gesellschaft und Politik
von Christin Landgraf
Immer mehr Kritiker sehen Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Mihály Orbán in ein autoritäres System driften. Orbán legitimiert sein Handeln mit dem Wahlsieg seiner Partei 2010 und strebt den Aufbau eines neuen Systems an, indem er seine Partei als dominierende Kraft zu etablieren sucht. Die Opposition gegen die Regierung scheint bisher zu uneinig und schwach, um dem eine Alternative gegenüberstellen zu können.
Die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom April 2010 sind beispiellos in der neueren Geschichte Ungarns. Der rechtskonservative »Fidesz – Ungarischer Bürgerbund« konnte mit seinem Bündnispartner, der »Christdemokratischen Volkspartei« (KDNP), über 52% der Stimmen und eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament erreichen. Zugleich wurde die seit 2002 regierende »Ungarische Sozialistische Partei« für ihre Politik abgestraft.
Selbstverständnis und Regierungspolitik Orbáns
Schon mit Beginn des neuen Jahrtausends zeichnete sich zwischen diesen beiden politischen Lagern eine zunehmende Polarisierung ab, die das Land inzwischen tief spaltet. Beide Lager nehmen sich nicht als politisch legitime Kontrahenten wahr, sondern betrachten sich durchweg als Feinde. So hatte Orbán vor den Parlamentswahlen 2010 angekündigt, an die Stelle des dualen und polarisierten Systems eine einzige, dominante Kraft zu setzen: den Fidesz. Orbáns Ziel ist es, ein neues Ungarn aufzubauen, das auf einem christlich-konservativen und nationalen Wertesystem beruht und in dem die postkommunistische durch eine bürgerliche Elite ersetzt wird. Orbán versteht den Systemwechsel 1989/90 und die folgenden Jahre noch nicht als Zäsur und als Ausgangspunkt für den Aufbau eines neuen Systems, da sich seiner Ansicht nach kein umfangreicher Elitenwechsel vollzogen hat.1
So verkündete er kurz nach seinem Wahlsieg, das Parlament müsse anerkennen, dass die Wähler „in den Wahlen vom April über den Aufbau eines neuen Systems abgestimmt“ 2 hätten. In der im Juni 2010 verabschiedeten »Politischen Deklaration über die nationale Zusammenarbeit« heißt es dazu, dass „nach zwei verworrenen Jahrzehnten des Übergangs“ in den Wahlen 2010 „eine Revolution in den Wahlkabinen vollbracht“ worden und ein „neuer Gesellschaftsvertrag zustande gekommen“ sei, „mit dem die Ungarn die Gründung eines neuen Systems, des »Systems der Nationalen Zusammenarbeit«, beschlossen“ hätten. Grundpfeiler des durch den „demokratischen Volkswillen“ entstandenen neuen Systems seien „Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung“. Das neue System stehe „allen sowohl in Ungarn als auch außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn offen“.3 Diese Formulierungen zeigen, dass politisch Andersdenkende, die die von der Fidesz-Regierung vertretenen Werte nicht teilen, aus dem neuen System ausgeschlossen werden.
Die Erarbeitung einer Verfassung als Grundlage des neuen Systems begann kurz nach dem Wahlsieg Orbáns und sollte die im Zuge des Systemwechsels umfassend modifizierte Verfassung von 1949 ersetzen. Nur ein Jahr nach Orbáns Regierungsantritt wurde am 18. April 2011 die neue Verfassung als »Grundgesetz Ungarns« verabschiedet. Öffentliche Auseinandersetzungen oder Diskussionen mit anderen politischen Kräften fanden im Verfassungsgebungsprozess nicht statt. Durch die starke Ideologisierung der Verfassung, die die Nation zum höchsten Wert erklärt, werden Vorstellungen und Werte anderer politischer Akteure grundlegend ausgeblendet.4 Statt zu integrieren, so der Vorwurf, polarisiere die Verfassung und schreibe das alte Denken in Freund-Feind-Schemata fort.5
Neben der neuen Verfassung ist die Regierungszeit Orbáns durch die Verabschiedung zahlreicher Gesetze geprägt, die den Umbau des Systems schnell voranbringen sollen. Dazu gehören tiefgreifende Änderungen im Verwaltungs-, Bildungs- und Hochschulsystem sowie das auf heftigen Widerstand stoßende Mediengesetz, das von Kritikern aufgrund der Einschränkung der Pressefreiheit abgelehnt wird. Das Mediengesetz leitete eine umfassende Neustrukturierung der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn ein und stattet den neu geschaffenen Medienrat und die Nationale Medien- und Kommunikationsbehörde mit weitreichenden Kompetenzen zur Kontrolle der Medien aus. Die im Frühjahr 2013 vollzogenen Verfassungsänderungen führten zudem zu einer weiteren Kompetenzbeschneidung des Verfassungsgerichts.6
Die Zentralisierung der bestehenden Strukturen, die Besetzung öffentlicher Ämter mit eigenen Anhängern sowie die Einschränkung von möglichen Gegenspielern sind kennzeichnend für die Umgestaltung des Systems. In vielen Fällen wurden Gesetze schnell und ohne nennenswerte parlamentarische Debatte oder Konsultation mit Vertretern der Zivilgesellschaft erlassen. Das zeigt sich beispielhaft in dem von Orbán forcierten Umbau der Industriellen Beziehungen, der u.a. den Einfluss der ohnehin schwachen Gewerkschaften weiter zu schmälern sucht. So wurde der trilaterale soziale Dialog durch ein neues Konsultationsforum für die Wettbewerbssphäre ersetzt, in dem nur ein Teil der bestehenden Gewerkschaftskonföderationen vertreten ist. Umfassende Änderungen des Arbeitsrechts schränken die Verhandlungspositionen von Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene sowie das Streikrecht erheblich ein. Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Bereich des Ordnungsschutzes und der öffentlichen Verwaltung wurde reorganisiert. Neu geschaffene Kammern, in denen eine Pflichtmitgliedschaft besteht, üben vielfach Aufgaben aus, die traditionell von Gewerkschaften wahrgenommen wurden.7
Neben dem Aufbau eines neuen Systems ist die Regierungszeit Orbáns durch einen zunehmenden Rechtsruck in Gesellschaft und Politik gekennzeichnet. Laut einer Online-Umfrage unter jüdischen Bürgern durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ist eine Mehrheit der ungarischen Befragten der Ansicht, dass in Ungarn in den letzten fünf Jahren der Antisemitismus deutlich zugenommen habe.8 Überdies hat laut einer Umfrage der Institute Tárki und Political Capital mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Ungarn Vorurteile gegenüber Roma.9 Auch die rechtsextreme »Bewegung für ein besseres Ungarn« (Jobbik), die 2010 erstmalig und gleich als drittstärkste politische Kraft ins ungarische Parlament einzog, konnte sich weiter etablieren. Die Partei zeichnet sich durch eine unverhohlen nationalistische, antisemitische und romafeindliche Rhetorik aus, vertritt ausgeprägt europaskeptische Standpunkte und fordert eine Revision der Verträge von Trianon.10 Sie findet insbesondere unter jungen, gebildeten Wählern Zuspruch. Dennoch übernimmt der Fidesz politische Ideen der Jobbik, in der Hoffnung, damit Wähler zu gewinnen und Jobbik als Kontrahenten zurückzudrängen.11
Opposition gegen die Regierung Orbán
Die Politik Orbáns trifft bei den demokratischen und liberalen Oppositionsparteien und in Reihen der Zivilgesellschaft auf große Kritik. Gemein ist diesen Akteuren, dass ihre Haltung über eine bloße Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik hinaus geht. Vielmehr verletzt die Fidesz-Regierung von den Akteuren als zentral wahrgenommene rechtstaatliche und demokratische Werte. Die Entwicklungen im oppositionellen Spektrum sind sehr dynamisch und geprägt von neuen Kräften. Diese lehnen jedoch zum Teil die Zusammenarbeit mit den alten, vor 2010 agierenden Akteuren ab, da sie bei jenen eine Mitverantwortung für die gegenwärtigen politischen Entwicklungen sehen. Das erschwert ein geschlossenes Auftreten. So scheint trotz erster Zusammenschlüsse die Opposition uneinig und noch zu schwach, um bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 eine wirkliche Alternative bieten zu können.
Stärkste oppositionelle Kraft im ungarischen Parlament ist die »Ungarische Sozialistische Partei« (MSZP) unter dem jungen Parteichef Attila Mesterházy. Als Folge interner Machtkämpfe spaltete sich ein Teil der MSZP ab und gründete im Herbst 2011 unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány die »Demokratische Koalition« (DK), die bisher politisch wenig bedeutend ist.12 Drittstärkste oppositionelle Kraft im ungarischen Parlament ist die junge öko-liberale Partei »Politik kann anders sein« (LMP). Die Partei gründete sich 2009 als Reaktion auf die zahlreichen Korruptionsaffären und die Polarisierung in der ungarischen Politik. Im Frühjahr 2013 spaltete sich ein Teil der Abgeordneten der LMP ab und gründete die Partei »Dialog für Ungarn« (PM). Grund der Spaltung waren parteiinterne Auseinandersetzungen über eine politische Zusammenarbeit mit der oppositionellen Bewegung »Együtt 2014« (Gemeinsam 2014).13
Diese wird von Gordon Bajnai geführt, der 2009 bis 2010 den parteilosen Ministerpräsidenten Ungarns stellte und Ferenc Gyurcsány ablöste, der 2009 abtreten musste. »Együtt 2014« gehören zudem die 2011 gegründeten zivilgesellschaftlichen Bewegungen »Eine Million für die Pressefreiheit« (Milla) und die »Ungarische Solidaritätsbewegung« (Szolidaritás) an. Infolge seiner Rede zum Nationalfeiertag am 23. Oktober 2012 in Budapest wurde Bajnai schnell zu einem Hoffnungsträger der Opposition.14 In dieser verurteilte er die Regierung, die „systematisch Wirbel für Wirbel das Rückgrat der ungarischen Demokratie gebrochen“ habe und zog den Schluss: „Diese Regierung muss gehen.“ 15 Eine Abwahl der Fidesz-Regierung sei jedoch nicht ausreichend, sondern „dieses Regime, das in den vergangenen zwei Jahren errichtet wurde, muss auch wieder abgerissen werden“. Dazu sei, so betonte er, ein Zusammenschluss aller demokratisch-oppositionellen Kräfte notwendig. Im August 2013 beschlossen Együtt 2014-PM und die MSZP, in den Parlamentswahlen 2014 als Wahlbündnis miteinander zu kooperieren, ohne sich jedoch auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten einigen zu können.16
Auch in der ungarischen Gewerkschaftslandschaft nimmt der Widerstand gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Regierung zu. Anfang 2013 hatten die größten Gewerkschaftskonföderationen MSZOSZ, SZEF und ASZSZ eine Fusionserklärung verfasst mit dem Ziel, die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber der Regierungspolitik besser vertreten zu können. In dieser heißt es: „Regierungen in Zusammenarbeit mit Eigentümern und Unternehmen haben gelegentlich eine spaltende und einseitige Politik gegenüber Gewerkschaften geführt. Im Besonderen ist es seit 2010 charakteristisch, dass einigen ein Vorrang gewährt wird und andere ignoriert werden. Hier ist unsere Antwort: Vereinigung.“ 17 Anfang Dezember 2013 wollte die neue Konföderation ihre Arbeit aufnehmen.18
Ausblick
Laut einer aktuellen Medián-Umfrage liegt der Fidesz weiterhin vorne, während der Parlamentseinzug der kleinen oppositionellen Parteien, so der DK, LMP und Együtt 2014-PM, ungewiss bleibt. Gleichzeitig ist die Zahl der unentschlossenen Wähler sehr hoch.19Um diese zu gewinnen, wird ein geschlossenes Auftreten der demokratischen und liberalen Opposition immer dringlicher, auch um einem Erstarken von Jobbik entgegenzuwirken. Ein erneuter Einzug dieser Partei ins Parlament könnte die bestehenden innen- und außenpolitischen Konflikte und Spannungen in der Region zusätzlich verstärken. Die Europäische Union täte somit gut daran, sich nachdrücklicher mit den Entwicklungen in Ungarn auseinanderzusetzen.
Anmerkungen
1) Bos, Ellen (2011): Ungarn unter Spannung. Zur Tektonik des politischen Systems. Osteuropa, Jg. 61., Nr. 12, S.39-63, hier S.47-52.
2) Fidesz: A nemzeti együttmûködés rendszere. fidesz.hu, 15.5.2010.
3) »Legyen béke, szabadság és egyetértés«. Az Országgyûlés1/2010. (VI. 16.) OGY Politikai Nyilatkozata a Nemzeti Együttmûködésrõl, 14. Juni 2010; deutsche Übersetzung in: Osteuropa, Jg. 61, Nr. 12, Einschub III, S.7. Siehe dazu auch: Bos: Ungarn unter Spannung, a.a.O., S.52.
4) Küpper, Herbert (2011): Mit Mängeln. Ungarns neues Grundgesetz. Osteuropa, Jg. 61, Nr. 12, S.135-144, hier S.135-138.
5) Tóth, Gábor Attila (2013): Macht statt Recht. Deformation des Verfassungssystems in Ungarn. Osteuropa, Jg. 63, Nr. 4, S.21-28, hier S.23f.
6) Sólyom, László (2013): Ende der Gewaltenteilung. Zur Änderung des Grundgesetzes in Ungarn. Osteuropa, Jg. 63, Nr. 4, S.5-11.
7) Tóth, András (2013): The Collapse of the post-Socialist Industrial Relations System in Hungary. SEER, Jg. 16, Nr. 1, S.5-19, hier S.12-14.
8) Es handelt sich um eine nicht-repräsentative Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: FRA – European Union Agency for Fundamental Rights (2013): Discrimination and hate crime against Jews in EU Member States: experiences and perceptions of antisemitism. Luxembourg: Publications Office of the European Union.
9) Bognar, Peter: Die Ungarn und die »bösen anderen«. Die Presse, 1. April 2013.
10) Der Friedensvertrag von Trianon, geschlossen 1920, ist einer der Verträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten. Der Vertrag bestätigte die 1918/19 erfolgten Sezessionen aus dem Königreich Ungarn und somit den Verlust von einem Großteil des ungarischen Territoriums an Nachbar- und Nachfolgestaaten.
11) Nagy, András/Boros, Tamás/Varga, Áron (2012): Right-wing Extremism in Hungary. Friedrich Ebert Stiftung -International Policy Analysis.
12) Huthmacher, Heinz Albert (2013): Die demokratische Opposition in Ungarn im Aufwind? Friedrich Ebert Stiftung – Perspektive.
13) Most már hivatalos: szakad az LMP-frakció. Népszabadság, 11. Februar 2013.
14) Huthmacher, a.a.O.
15) Bajnai Gordon beszéde a Millán – Dokumentum. Népszabadság, 23. Oktober 2012. Siehe dazu auch: Huthmacher, a.a.O.
16) Ma megszületett az ellenzéki szövetség. Együtt 2014, 29. August 2013.
17) ASZSZ, MSZOSZ, SZEF: Unification Statement: On the establishment of a united trade union confederation, to serve the development of the interest defence of Hungarian workers. 1. Mai 2013.
18) Az egyesülõ konföderációk közleménye. MSZOSZ.hu, 31. Oktober 2013.
19) Medián: Irányváltó hangulat? Pártok és politikusok népszerûsége 2013 novemberében. 20. November 2013.
Christin Landgraf, MA ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Europäisierungsforschung und der Forschung zu Interessengruppen in EU Governance. Zudem beschäftigt sie sich mit Fragen zur Politik und Wirtschaft Ungarns.
So nicht anders angegeben, wurden die Zitate von der Autorin übersetzt.