W&F 2002/3

Unordnung statt Unterordnung?

von Jürgen Nieth

Fast ein halbes Jahrhundert war die Weltordnung stabil. Nach den Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges hatten allen voran die Alliierten mit den Vereinten Nationen eine Instanz geschaffen, die den Frieden sichern sollte und den Krieg als Mittel der Politik verdammte. Die ökonomisch mächtigen und hochgerüsteten Länder führten keine Kriege mehr gegeneinander. Das lag sicher nicht nur an den Vereinbarungen, es war vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt der atomaren Hochrüstung die direkte militärische Konfrontation zwischen den Staaten der NATO und denen des Warschauer Paktes die Gefahr des eigenen Untergangs beinhaltete.

Trotzdem war diese Zeit nicht kriegsfrei. In der »eigenen« Hemisphäre operierte jede der beiden Supermächte fast nach Belieben: Kaum ein Land Lateinamerikas, das in den 50er und 60er Jahren von US-amerikanischen Militär- und Geheimdienstoperationen verschont blieb, die Sowjetunion zeigte in Ungarn, Polen und der CSSR, dass sie bereit war, alle Mittel zur Sicherung ihres Einflussgebietes einzusetzen. Im Rest der Welt gab es nur wenige bewaffnete Konflikte, bei denen die Exponenten der beiden Lager nicht ihre »Finger im Spiel« hatten. Die Weltordnung war aber nur gefährdet, wenn ein Konflikt die Machtbalance zu verschieben drohte, so während des Korea-Krieges, der Kuba-Krise, der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa.

Die Nachkriegsordnung, das war Stabilität auf einem Pulverfass! Keiner weiß, wie oft und nah wir an der Katastrophe vorbeigeschrammt sind. Mit dem Ende der »Nachkriegzeit« verbanden sich viele Hoffnungen auf Abrüstung, auf eine Friedensdividende, einsetzbar zur Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit, des Nord-Süd-Gefälles usw. Doch die Nach-Nachkriegsordnung sollte anders aussehen.

Bereits Anfang der 90er Jahre formulierten ostdeutsche »Wendeskeptiker«: „Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übriggeblieben.“ Sie hatten miterlebt, wie nach dem Abtritt des »Sozialistischen Weltsystems« die Chancen für eine neue zivile und auf soziale Gerechtigkeit und Ausgleich bedachte Ordnung vertan wurde: Kohl verwechselte die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs mit Wiedervereinigung, und auf der internationalen Bühne nutzten die USA die Gunst der Stunde und starteten zur Durchsetzung ihrer Interessen den Golfkrieg II.

Das Denken der Herrschenden blieb militärisch dominiert. So wundert es dann auch nicht, dass die NATO, deren Existenz fast 50 Jahre lang mit der Bedrohung aus dem Osten begründet wurde, auch nach Auflösung der Warschauer-Vertrags-Organisation bestehen blieb, dass nach dem Wegfall des Gegners nicht umfassend abgerüstet, sondern der Zweck der NATO umdefiniert, der Einsatzraum erweitert und nach neuen Gegnern gesucht wurde.

„Nach dem 11. September ist die Welt nicht mehr die, die sie einmal war.“ Das hört man immer wieder. Aber was hat sich verändert für die »Weltordnung«? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, dass die USA zum ersten Mal auf ihrem Territorium angegriffen wurde – nicht von einem Staat, sondern von Terroristen? Werfen wir jetzt unsere ganze Kraft in die Waagschale, um die existierenden Konflikte zu lösen, um politische, religiöse und soziale Diskriminierungen abzubauen, um die internationale Zusammenarbeit zu stärken? Verbessern wir die Vorrausetzungen, um mit zivilstaatlichen Methoden den Terrorismus zu bekämpfen? Es sieht nicht danach aus. Im Gegenteil: »Krieg gegen den Terror« – das ist Politik von vorgestern, die glaubt, dass politische Konflikte militärisch lösbar sind.

Bereits von der Clinton-Administration wurde 1997 im Rahmen der »Nationalen Sicherheitsstrategie« betont, dass „unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen… unauflösbar miteinander verknüpft“ sind. Schon vor dem 11.09. hatten die USA militärtechnisch einen uneinholbaren Vorsprung. Trotzdem kündigten sie im Sommer 2001 ein gigantisches Rüstungsprogramm an, das nach dem 11.09. noch erhöht wurde. Im letzten halben Jahr konnten die USA in Gebieten Militär stationieren, die ökonomisch sehr interessant sind und von denen sie früher nur geträumt haben. Offensichtlich ist die Bush-Regierung davon überzeugt, sich aus dieser »Position der Stärke« heraus allen unbequemen internationalen Vereinbarungen widersetzen zu können: Rüstungskontrollverträge werden gekündigt, Umweltschutzabkommen blockiert und dem Internationalen Strafgerichtshof wird sogar gedroht.

Die alte Politik der Stärke war mitverantwortlich für zahlreiche Konfliktherde und die Verelendung ganzer Regionen, sie hat beigetragen zu dem Hass, der den USA in weiten Teilen der Welt entgegenschlägt, sie hat den Boden bereitet, auf dem Terrororganisationen heute ihre Kämpfer rekrutieren.

Die gegenwärtige US-Offensive zur umfassenden Alleinherrschaft löst keine der für unsere Zukunftsgestaltung wichtigen Fragen und sicher auch nicht das Problem des Terrorismus. Sie vergrößert die Distanz zu den armen Ländern und zu den engsten Verbündeten. Um nicht zu Vasallen zu werden, müssen sie eine eigenständige Politik betreiben im Widerspruch zu der Bush-Administration. Notwendige Unordnung statt Unterordnung!

Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/3 Welt(un)ordnung, Seite