W&F 1989/3

UNSER GEMEINSAMES HAUS EUROPA

Zum Handlungspotential einer Metapher im öffentlichen Meinungsstreit

von Rolf Bachem & Kathleen Battke

Eine politische Metapher, die Rede vom gemeinsamen Haus Europa, macht die Runde und weckt Hoffnung auf Entspannung, Frieden und Überwindung der Grenzen der machtpolitischen Blöcke. In PolitikerInnengesprächen, Debatten zwischen FriedensforscherInnen und Militärs und in journalistischen Kommentaren wird sie bezeichnet als »vage Vorstellung«, »Parole«, »nur ein neues Etikett«, »Schlüsselbegriff«, »Idee«, »Konzeption« und immer wieder als »Schlagwort«.

Es scheint nicht angemessen, die viel beanspruchte Metapher vom europäischen Haus als bekanntes Instrument der Demagogie abzutun. Ihre funktionale Vielfalt in verschiedenen kommunikativen Kontexten spricht gegen eine zu einfache Einordnung.

Hausmetaphern gehören zum Grundbestand der Alltagskommunikation (Fundament oder Herr im Haus sein usw.) und der politischen Kommunikation (Hohes Haus, Dachverband usw.; vgl. auch Amerikas Hinterhof für Mittelamerika).

Die komplexe Vorstellung vom Haus, seinen funktionalen Teilen und den Verhältnissen des Wohnens darin ist ein unterschöpfliches Reservoir für Bedeutungsübertragungen, für Modelle und Konzepte, mit deren Hilfe man, vom Bekannten und Benannten ausgehend, versuchen kann, neu in Sicht Gekommenes zu verstehen, in Sprache zu überführen und sich verfügbar zu machen.

Der Topos vom gemeinsamen Haus wurde durch Michail Gorbatschow zu einem der erfolgreichsten sprachlichen Instrumente in der Bemühung um Abrüstung und Vertrauensbildung zwischen den Blöcken, bereitwillig aufgegriffen von Tourismus-Managern, Liedermachern und OrganisatorInnen von Ostermärschen. Gorbatschow gibt an, diese Metapher erfunden und sie in seiner Prager Rede vom 10.4.87 erstmals benutzt zu haben. Er widmet ihr in seinem Buch „Perestroika. Die zweite russische Revolution“ ein ganzes Kapitel und interpretiert sie als durch Einsicht in die Notwendigkeit der Vernunft begründeten, für alle Europäer geltenden politischen kategorischen Imperativ. Wenn seine westlichen Kritiker darauf verweisen, es handele sich um eine alte Formel Breschnews, dann sprechen sie ihr nicht nur die Eigenschaft der sprachlichen Innovation ab, sondern wecken auch Zweifel daran, daß dieser Topos ein Symbol für „neue Beziehungsmuster“ (Gorbatschow) sein kann.

Haus als Basismetapher

Haus ist in den untersuchten Texten die Basismetapher. Sie ist eingeführt als ethische Norm, als Fahnenwort der guten Gesinnung. Der Rückgriff auf diese Metapher erfolgt deshalb auch immer wieder als ein Rückgriff auf das konsensfähige, Konsens gewährende gemeinsame Wollen. Jeder Versuch, sich gegen die Haus-Metapher zu stellen, ist bedroht vom Vorwurf der fehlenden Kooperationsbereitschaft, des fehlenden guten Willens, des Rückfalls in den »kalten Krieg«.

In den Diskussionen zwischen westlichen und östlichen Repräsentanten wird diese Basismetapher, das komplexe Haus-Konzept, zerlegt in Teilkonzepte. Diese eröffnen immer wieder neue Begriffsbeziehungen, Vorstellungskomplexe und Erfahrungszusammenhänge, die als Schlußfolgerungsgrundlage bei der Bedeutungsübertragung genutzt werden können. Einige dieser Teilkonzepte gehören der Teil-Ganzes-Relation zu, bezeichnen also Teile des Gesamthauses: Wohnzimmer, Fenster und Türen, Erker, Penthouse usw. Oder sie stehen zu Haus in der Relation des erfahrungsgemäß Benachbarten: Bauplan, Hausordnung, Mieter usw., oder auch in einer typologischen Beziehung: Reihenhaus, Hochhaus, Kaserne usw.

Mit der Einführung der dem Haus-Begriff untergeordneten Teilkonzepte wird jedesmal aufs neue ein riskantes innovatives Sprachspiel gewagt: Die neu eingeführten Fenster-, Tür-, Mieter-Konzepte müssen ja stets von den HörerInnen in ihrer kontra-konventionellen Bedeutung erkannt und interpretiert werden. So müssen sie z.B. bei der Fenster-Metapher herausfinden, welches im wörtlichen Fenster-Begriff steckende oder dem Wort Fenster als freie Assoziation angelagerte periphere Bedeutungsmerkmal hier priorisiert, welche Implikation als verständnisleitend erkannt werden muß, um dann etwa zu „offener Zugang zu Informationen“, „freie Meinungsäußerung“ zu gelangen. Durch die Einführung der Teilkonzepte erst setzt eine teils kritische, teils strategische »kognitive Vernetzung« des neuen politischen Haus-Konzepts ein, die im Prozeß des Meinungsstreits entsteht und schließlich politische Welt sprachlich innovativ konstituiert.

Das diskursive Potential der Metapher

Das diskursive Potential der Haus-Metapher in Gesprächsabläufen läßt sich anhand von zwei Leitfragen veranschaulichen:

  • Was leistet sie für die je spezifische Art des Gesprächs und für die Gesprächsführung als Prozeß?
  • Was leistet sie für die GesprächspartnerInnen bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Ziele?

Wir können die analysierten Diskurse als goodwill-Gespräche charakterisieren. Die Rolle der Metapher ist in Bezug darauf eine doppelte: Einerseits dient sie als gemeinsame Ausdrucksform von ideologischen GegnerInnen und ist so Signal des Willens zur Verständigung. Als Beleg hierfür kann angeführt werden, daß vor einer eilfertigen Verständigung Warnende auch das Haus-Bild ablehnen:

„Die Bedingungen des 21.Jahrhunderts verlangen nicht nach Mauern und Grenzen (...), nicht nach Häusern der Geborgenheit, sondern nach Plätzen der Begegnung“ (C. Bertram in Moskau News 9/88).

Andererseits wird auch durch ihre Verwendung im Gesprächsverlauf diese Verständigungsbereitschaft immer wieder beschworen und reproduziert.

Das Assoziationspotential der Metapher regt die Phantasie der GesprächsteilnehmerInnen oftmals derart an, daß die Diskussionen streckenweise Spielcharakter bekommen – Elemente wie Spannung, Überraschung kennzeichnen die Atmosphäre mit, was sich z.B. in Lachen, gleichzeitigem Sprechen oder auch metakommunikativen Äußerungen wie Mir gefällt dieses Bild nach Einführung eines neuen Teilkonzepts ausdrückt.

Die Metapher mit ihrem Potential an positiven und alltäglichen Assoziationen bietet allen Beteiligten die Gelegenheit, eigene Standpunkte auszudrücken, was das Haus-Bild–immer vorausgesetzt, daß der Wille zur Annäherung bleibt–zu einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage machen kann: zum Aufhänger für den Beginn einer Diskussion, zum roten Faden, der das Gespräch strukturiert und zusammenhält. Sie funktioniert so im Hinblick auf das Gesamtgespräch als „Verbindendes bei Trennendem“, d.h. als gemeinsame Grundlage für weltanschaulich verschiedene Positionen.

Vorgefertigte Wohnblocks oder holländische Landhäuser?

Das folgende Textbeispiel kann einige dieser Beobachtungen bereits relativ kompakt verdeutlichen:

Br: Ja, meine Damen und Herren, vor 43 Jahren explodierte – nein Verzeihung, implodierte das Haus Europa, die zwei Supermächte zogen ein, teilten sich das Haus, eine Brandmauer wurde errichtet, und jetzt kommt ein Supermächtiger namens Michail Gorbatschow und spricht ein großes Wort gelassen aus, das gemeinsame Haus Europa. Botschafter Lomeiko, es ist IHR supermächtiger Chef, was soll das heißen?

Lo: Ich erinnere mich an ein Kloster, an der Wand wurde geschrieben von irgendeinem alten Mönch wahrscheinlich: „Der Mensch wird was er denkt“. Ich glaube, der Mann, der das geschrieben hat, hat über das politische Denken etwas gewußt. (...) Wenn wir über das gemeinsame Haus Europa denken werden, dann schaffen wir es. Wenn wir zweifeln werden oder eine Oppositionsstimmung der Idee gegenüber haben werden, ich glaube nicht, daß wir dieses Haus bauen werden. Also kurz gesagt, ich glaube daran, an diese Idee, auch persönlich, nicht nur als Vertreter der Sowjetunion, auch persönlich als Mensch.

Bi: Wenn er sich schon so bildhaft ausgedrückt hat, dann würde ich auch im Bildhaften bleiben. Was für ein gemeinsames Haus? Aus vorgefertigten Elementen zusammengebastelt, zwanzig Stockwerke hoch, uniformiert, oder ein holländisches Landhaus, bequem, weltoffen, mit großen Fenstern auf die Straße, ohne Vorhänge, mit einer bürgerlichen Kultur im besten progressiven Sinne des Wortes. Oder britische Reihenhäuser, angenehm – in ihrer Art kleinbürgerlich, aber immerhin doch demokratisch und menschennah, also was für ein Haus?

Mehrere: (Lachen), (Durcheinandersprechen)

(Br: Willem Brugsma, Niederlande; Lo: Wladimir Lomeiko, UdSSR; Bi: Kurt Biedenkopf, BRD)

Dies ist der Beginn einer politischen Diskussionsrunde. Die Metapher wird gleich in der Einleitung benutzt, um den Hintergrund, vor dem das Gespräch stattfindet (8. Mai als Jahrestag des Kriegsendes), zu markieren. In der Aufforderung an Lomeiko, die Benutzung der Metapher durch Gorbatschow zu erläutern, wird die Metapher zum Gesprächsthema erhoben und damit als Leitfaden etabliert. Lomeiko geht nicht direkt auf die Frage ein, sondern nimmt die Metapher auf, um sie gleich von Anfang an zum Maßstab des guten Willens der Beteiligten im folgenden Gespräch zu machen: Wer bereit ist, diese Idee zu verfolgen, sie zu übernehmen – und das heißt auch, sie als Metapher sprachlich zu formulieren–, wird indirekt als konstruktiv, wer dazu nicht bereit ist als destruktiv markiert. Durch das folgende ich glaube daran wird die Metapher in den Rang eines Bekenntnisses, einer ethischen Norm erhoben. Biedenkopf nimmt diesen Appell mit einer metakommunikativen Äußerung auf, signalisiert damit die eben eingeforderte Kooperationsbereitschaft. Dann entwickelt er, um einen Aspekt der Metapher zu klären, verschiedene Haustypen, die verschiedenen Staatsformen entsprechen sollen und die der Alltagserfahrung des Sprechers entnommen sind. Die Beschreibung der Haustypen deutet Vorbehalte an gegenüber der pauschalen Benutzung der Metapher durch den Vorredner. Biedenkopf möchte hier offensichtlich westliche Grundwerte als Grundlage des gemeinsamen Hauses (weltoffen, demokratisch, bürgerlich) festlegen. Die Reaktionen auf diesen Beitrag (Lachen, Durcheinandersprechen) illustrieren die Anerkennung für die plastische Einführung dieses Teilkonzepts.

Good-will-Gespräche oder Durchsetzung eigener Strategien?

Bei den betrachteten Gesprächen handelt es sich um eine Sonderform öffentlicher Kommunikation: zum einen konnten wir sie ihrer Anlage nach und vom konkreten politischen Kontext ausgehend als goodwill-Gespräche, also stark verständigungsorientiert charakterisieren; zum anderen ist davon auszugehen, daß die Diskussionen als Gespräche im Kontext Politik stark erfolgsorientiert sind, d.h.einen hohen Grad an strategischem Verhalten aufweisen.

An einigen Textbeispielen kann gezeigt werden, was die Metapher für die Formulierung solch unterschiedlicher Intentionen leistet.

a) Die Metapher bietet die Möglichkeit, Kritik oder Bedenken an der jeweils anderen Seite zu formulieren, ohne konfrontativ zu wirken. Hierzu sei noch einmal auf den obigen Testausschnitt verwiesen: Dort nimmt Biedenkopf die Metapher auf und akzeptiert damit die von Lomeiko zuvor gesetzte ethische Norm. Dann aber benutzt er die Metapher, um zum einen seinen Bedenken gegen den undifferenzierten Gebrauch des Haus-Bildes Ausdruck zu verleihen und zum anderen Kritik am östlichen Gesellschaftssystem zu üben, auf das sicherlich das aus vorgefertigten Elementen zusammengebastelt(e), zwanzig Stockwerke ho(he), uniformiert(e) Haus gemünzt ist.

b) Klarer noch wird der strategische Versuch, mittels der Metapher den eigenen Standpunkt durchzusetzen, wenn um die Wichtigkeit von Teilkonzepten gerungen wird:

Ko: Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei – das könnte die europäische Gemeinschaft verkraften. Aber die ganze Sowjetunion noch dazu (lachen)...

Lo: Was heißt...

Ko: ... ein zu großer Brocken.

Ep: Dann ist der Anbau größer als das Haus.

Ko: So isses, ja.

Ep: Das ist das Problem.

Ha: Ja aber, also ist das wirklich ein Problem der Größenordnung? Ich glaube der wichtigste Punkt ist doch die Hausordnung.

Br: Ja.

Ha: was von den einzelnen Einwohnern...

Br: Es ist nicht ein Problem der Größenordnung.

Ha: ...ins Haus gebracht wird.

(Ko: John Kornblum, USA; Ep: Erhard Eppler, BRD; Ha: Janosz Haidu, Ungarn)

Im ersten Teil dieses Ausschnitts wird die westliche Angst vor der Mächtigkeit der Sowjetunion in Europa formuliert. Sie gipfelt in dem Bild dann ist der Anbau größer als das Haus (vgl. auch das europäische Haus als verspielter Erker am asiatisch-pazifischen Mauerkoloß). Haidu stellt aber dann die Feststellung das ist das Problem ausdrücklich in Frage. Mit der Behauptung eines anderen Teilkonzeptes, der Hausordnung als der wichtigste Punkt, wird die Größenordnungsfrage in den Bereich der Randprobleme verwiesen. Mit diesem strategischen Zug hat der Sprecher hier Erfolg: Im weiteren Gespräch geht es um die Annäherung der politischen Systeme in Europa, um die Hausordnung.

c) Eine weitere Leistung der Metapher, die die bisher vorgestellten Beobachtungen ergänzt, ist die Eignung zur Eindämmung bzw. Beendigung von Konflikten:

Br: Gehören die Supermächte in dieses Haus? Kann die Sowjetunion im europäischen Haus wohnen?

Lo: Woher wollen Sie die Macht herholen, die Sowjetmenschen für obdachlos zu erklären? (Lachen) Das geht einfach nicht.

(...)

Br: Es geht nicht um die Obdachlosigkeit der Sowjetmenschen. Es könnte darum gehen um die Anwesenheit sowjetischer Truppen...

Lo: Ja gut (...unverständlich...)

Br: ...und um ...

X: Truppen sind in einem Haus sowieso nicht. Truppen sind in einem Haus sowieso nicht. Truppen sind in Kasernen, nicht?

Lo: Nein, aber...

X: In einem Haus sind ganz zivile private Menschen (Lachen)

Lo: (Lachen)

Bi: Tja, wenn wir bei der Planung sind (...)

(X: nicht zu identifizierender Gesprächsteilnehmer)

In diesem Gesprächsausschnitt wird von Brugsma eine thematisch neue Frage angeschnitten, in der Metapher formuliert. Lomeiko pariert auf der metaphorischen Ebene mit dem Obdachlosen-Konzept. Brugsma verstärkt die Bedenken, die in seiner Frage stecken, indem er die Metaphernebene verläßt und ein politisches Problem – die Anwesenheit sowjetischer Truppen – direkt anspricht. Hier wird auch eine Grenze der Metapher sichtbar: Harte politische Angriffe werden direkt geführt, spätestens dann, wenn die Metaphernbegrifflichkeit das Ankommen des verkleideten Vorwurfs verhindert, zu Mißverständnissen führt (hier: es geht nicht um die Obdachlosigkeit der Sowjetmenschen...es geht um die Anwesenheit sowjetischer Truppen). Nach einer tumultartigen Szene führt X das Gespräch auf die Metaphernebene zurück, indem er das angesprochene politische Problem (und damit den Konflikt) aus dem zu erörternden Themenkreis verweist: Die metaphorische Gegenprobe Kaserne soll die Unverträglichkeit des eingeführten Themas demonstrieren und zur Gesprächsarbeit an der positiven Zukunftsvision Haus zurückführen. Das wiederholte versöhnliche Formulieren dieses indirekten Themenbeendigungsvorschlags zeigt schließlich Wirkung: das Gespräch wendet sich einem anderen Aspekt zu.

d) Bietet die Metapher also vielfältige Möglichkeiten, konkurrierende Standpunkte innerhalb des konstruktiven Rahmens auszudrücken und zu ihm zurückzuführen, so wird zuweilen auch versucht, sie zur Ab- bzw. Ausgrenzung zu benutzen, wobei etwa folgendes Schema angelegt wird: Im gemeinsamen Haus wohnen=dazugehören=Einfluß nehmen/mitreden dürfen.

Fr: Hier ist ein Haus geplant, da wohnen sehr viele Europäer drin, unterschiedlicher Größenordnung. Und dann ist aber da mit einem Mal ein sehr sehr großer, ein Super-Europäer, der außerdem von sich sagt, er sei Europäer, es ist aber eine europäisch-asiatische Macht.

Bi: Eine Bemerkung zu den ganz Großen. Die unterscheiden sich ja in einem Punkt, nicht? Dieser ganz Große, der wohnt im europäischen Haus, aber wohl auch in einem anderen, nämlich in einem asiatischen (...) Die Amerikaner wohnen überhaupt nicht in diesem Haus, sondern sie haben auf unsere Bitte hin (...) eine Zweitwohnung bei uns im Haus. Aber wohnen tun sie da eigentlich nicht.

Ko: Man darf nicht vergessen, wir sind eine große Nation mit sehr vielen verschiedenen Völkern, aber im Endeffekt sind wir eine europäische Nation, eine Nation europäischer Abstammung.

Br: Die Leute, von denen wir sagen würden, die gehören eigentlich nicht zu unserm Europa, das heißt nicht, daß das notwendigerweise böse Leute sind. Das können sehr gute Freunde sein, ohne daß sie unsere Hausgenossen sind.

(Fr: Renata Fritsch-Bournazel, Frankreich)

Hier wird von verschiedenen Seiten versucht, die beiden Supermächte mittels der Metapher aus dem europäischen politischen Prozeß auszugrenzen. Die französische Teilnehmerin versucht im ersten Beitrag, der UdSSR wegen ihrer Größe und ihres asiatischen Teils das Wohnrecht im europäischen Haus abzusprechen. Mit der Formulierung der außerdem von sich sagt er sei Europäer wird der UdSSR sogar unterstellt, sich dieses Wohnrecht unter falschen Voraussetzungen erschleichen zu wollen. Biedenkopf mildert diesen harten Standpunkt und geht auch auf die USA ein. Obwohl ihnen eine Zweitwohnung zugestanden wird, verweist Biedenkopf sie zweimal ganz deutlich aus dem gemeinsamen Haus. Daß dieser Gebrauch der Metapher als klare politische Ausgrenzung verstanden wird, zeigt die Reaktion des USA-Vertreters, der die USA als im Endeffekt europäische Nation darstellt und damit deren Einfluß auf die politische Entwicklung in Europa zu verteidigen versucht. Das Haus-Bild entwickelt hier eine ganz eigenwillige Kraft: Das Im-Haus-Wohnen wird derart zwingend zur Bedingung für politisches Mitreden-Dürfen, daß – statt z.B. zu sagen:„Wir möchten gerne mitreden, auch wenn wir nicht unbedingt dazugehören“ – tatsächlich eine Zugehörigkeit konstruiert und verteidigt wird. Die Entgegnung Brugsmas das heißt nicht, daß das notwendigerweise böse Leute sind, das können sehr gute Freunde sein ist nur ein schwacher Trost und eher geeignet, die Bedenken der USA gegenüber einer eigenständigen europäischen Politik zu verstärken: Sehr gute Freunde sein ist eben nicht das gleiche wie mit im Haus wohnen=dazugehören. Die Metapher kann genau diesen Unterschied zwischen Freund und Hausgenosse deutlich machen.

Brüche und Ungereimtheiten

Natürlich gibt es auch bei dieser Metapher Brüche und Ungereimtheiten, wie sie folgende Textstelle illustrieren kann:

(...) die Grenzen so durchlässig werden, daß wir sie nicht mehr spüren, daß dann auch die Mauern fallen. Wir wollen keine Mauern zwischen den verschiedenen Zimmern im gemeinsamen Hause Europa.

Die Forderung nach Reisefreiheit und Abbau der Berliner Mauer in Ehren – doch will der Sprecher wirklich ein Ein-Zimmer-Haus für ganz Europa?

Solche und andere Überstrapazierungen sind Belege für die Prozeßhaftigkeit, mit der um die Auslegung des Haus-Konzepts in der politischen Diskussion gerungen wird, und sie sind auch ein Beleg gegen die Behauptung, die Metapher vom europäischen Haus werde „stereotyp verwendet“.

Vielleicht geht es künftig in öffentlichen Diskursen nicht mehr um Modelle des Zusammenlebens in Europa, sondern um Ideen und Modelle des Zusammenlebens der Menschheit und die Erhaltung der Natur auf dem Erdball. Vermutlich ist die von Gorbatschow ins Gespräch gebrachte Metapher Arche Noah für den im Weltraum kreisenden Planeten Erde (ebenso wie das Bild Raumschiff Erde) in dieser Hinsicht nicht so ergiebig wie der in einer langen Geschichte menschlicher Zivilisation gewachsene Haus-Begriff mit seiner Vielfalt an differenziertesten architektonischen, sozialen und kulturellen Funktionen und an lebensnahen, erlebnisgefüllten Assoziationen. Eher als von einer Arche Erde zu sprechen, wird es sich vermutlich aus diesem Grunde lohnen, Modelle und Metaphernvarianten von unserem gemeinsamen Haus Erde zu entwerfen und zu diskutieren.

Gesprächsausschnitte v.a. aus:

Unser europäisches Haus. West-östliches Kamingespräch auf Burg Rheineck (ARD, 30.5.88)

Literatur

Bachem, R.: Einführung in die Analyse politischer Texte. München 1985
Gorbatschow, M.: Perestroika. Die zweite russische Revolution. München 1987
Lakoff, G./M. Johnson: Metaphors we live by. Chicago/London 1980
Zifonun, G.: Politische Sprachkultur und Sprachkritik. In: Mitteilungen 10 des Instituts für deutsche Sprache. Mannheim 1984, S. 57-62

Gekürzte Fassung eines Aufsatzes für die Zeitschrift MUTTERSPRACHE, Heft 3/89, S. 110-126.

Dr. R. Bachem ist Studienprofessor am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Köln.
K. Battke ist wiss. Angestellte der IWIF Bonn und Lehrbeauftragte am IDSL der Universität Köln.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/3 1989-3, Seite