„Unser Seelenleben im Kriege“. Zur militärischen Anwendung der Psychologie
von Winfried Mohr
Die Beschäftigung mit den psychologischen Aspekten von Krieg ist nicht neu. Bereits 1916 erschien etwa „Unser Seelenleben im Kriege. Psychologische Betrachtungen eines Nervenarztes“ (Preis: 2 Mark) von einem Dr. Wilhelm Stekel, allerdings nur eine aus einer ganzen Reihe ähnlicher Schriften, gedacht zur moralischen Aufrüstung der Heimatfront. „Der Wille zur Macht und der Wille zur Unterwerfung“, „Krieg und Kunst“ und, „Todesahnungen und Prophezeihungen“ sind einige der darin behandelten Themen. Die individuellen Bedingungen der Kriegssituation und die Bereitschaft des Einzelnen, sich am Krieg zu beteiligen, stehen im Vordergrund der Betrachtungen. Auch heute noch wird die Psychologie vorrangig mit diesen Fragen in Verbindung gebracht, wird ihr auch in der Friedensbewegung die Untersuchung der individuellen Bereitschaft zum Töten, von aggressivem Verhalten als Aufgabe zugewiesen (z. B. Richter, 1982).
Angesichts der Komplexität militärischer und politischer Organisationen sind allerdings erhebliche Zweifel angebracht, ob die Rolle des Individuums im Krieg über die Untersuchung individueller Motive angemessen zu beschreiben ist. Rüstung heute (und in weniger augenfälligem Ausmaß seit der Existenz von Armeen) zielt auf hoch „arbeits“teilige Formen der Massenvernichtung ab. Nur ein sehr geringer Teil der Militärorganisation ist mit der Aufgabe des Tötens Auge in Auge mit dem Feind befaßt. Die Probleme sind andere, sie ergeben sich aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Teilsystemen und Einheiten der Organisation. So ist der effektive Einsatz einer Rakete ohne die optimale Koordination von Aufklärung, Zielortung und Zielbestimmung, technischer Handhabung der Abschußvorrichtung und Erfolgskontrolle kaum möglich. Die Techniker, die letztlich den vielzitierten roten Knopf bedienen, erfahren kaum etwas über die Verwüstungen, die Opfer und deren Leiden, die Folgen ihres Handelns. Die Aufgabenteilung bringt es mit sich, daß der individuelle Anteil am Töten immer weniger erkennbar wird. Die Entfremdung (!) vom Ergebnis seines Handelns, seine Rolle als Systemkomponente mit begrenztem Aufgabenbereich lassen den Soldaten immer mehr als Teil eines industriellen Großbetriebes erscheinen (Motto der Bundeswehr vor einiger Zeit: „Wir produzieren Sicherheit!“). Entsprechend der industriellen Organisation stellt sich „der Mensch“ als ein Faktor, eine Systemkomponente dar, die wenn nicht durch Technik ersetzbar, in ihrer Funktion zu optimieren ist, berechenbar und möglichst zuverlässig in ihrem Verhalten.
Die militärische Anwendung der Psychologie entspricht unter diesen Bedingungen ihrer Anwendung in großen industriellen Organisationen mit hohem Grad an Arbeitsteilung - in keiner Weise spektakulär, ohne auf unbewußte, triebhafte unkontrollierbare Wesensregungen „des Menschen“ zurückgreifen zu müssen. Bereits im Ersten Weltkrieg findet man einen solchen Einsatz der Psychologie: z. B. zur Auslese von Kraftfahrern und zur Verbesserung der Leistungen von Richtschützen (Mitze, 1971).
Die Geschichte der Psychologie war auch in den folgenden Jahren stark von ihrer militärischen Anwendung geprägt, ja, die Psychologie verdankt dieser zumindest teilweise ihre Professionalisierung (vgl. Geuter, 1984; Geuter & Kroner, 1983; Graumann, 1985): Bereits im Faschismus war der Psychologische Dienst der Wehrmacht mit etwa 150 Mitgliedern die größte fachpsychologische Organisation der Welt, und den akademischen Grad des Diplompsychologen gibt es seit dem Erlaß einer entsprechenden Prüfungsordnung im Jahr 1941.
Auch die ersten Nachkriegsjahre waren von wehrpsychologisch erfahrenen Psychologen geprägt: Nahezu alle Ordinarien in der Psychologie der Bundesrepublik waren ehemalige Wehrmachtpsychologen (Mitze, 1971). Obwohl sich diese Tradition personell nicht fortgesetzt hat und die Inhalte der Psychologie von angloamerikanischen Ausrichtungen dominiert werden, ist der militärische Hintergrund nach wie vor von Bedeutung. Klassische Ansätze der Testtheorie etwa bauen im wesentlichen auf den Methoden der Eignungsdiagnostik und Personalauslese der US-Armee im Zweiten Weltkrieg auf. Inwieweit diese Tradition das Menschenbild der Psychologie beeinflußt hat, wäre eine untersuchenswerte Frage. Hier soll aber im folgenden überblickshaft und notwendigerweise unvollständig die heutige militärische Anwendung der Psychologie in der Bundesrepublik behandelt werden, ohne ausführlicher deren Rückwirkungen auf die inhaltliche Orientierung zu diskutieren. Wichtig erscheint mir dies auch, um Anhaltspunkte für mögliche Militarisierungstendenzen in der Psychologie zu erhalten, wie sie sich in anderen Fächern bereits zeigen.
Die systematische militärische Anwendung der Psychologie in der BRD ist organisatorisch vor allem an den Psychologischen Dienst der Bundeswehr gebunden.
Laut Steege (1977) sind dort etwa 130 Psychologen beschäftigt, zum Teil in der Bundeswehrverwaltung, vor allem im Wehrersatzwesen und der Beschaffung, zum Teil bei den Streitkräften. Alle haben dort zivilen Status. Darüberhinaus gibt es die Bundeswehrhochschulen, bei denen ebenfalls Psychologen tätig sind.
Psychologische Verteidigung
Für die psychologische Kriegsführung - die in der Bundeswehr psychologische Verteidigung (PSV) genannt wird - sind zwei Spezialbataillone in Andernach und Clausthal-Zellerfeld zuständig (Lossmann, 1983). Watson (1982) nennt die Zahl von 3000 damit befaßten Personen, doch sind darunter nach Aussagen eines bei einem Wehrersatzamt beschäftigten Psychologen „höchstens eine Handvoll Psychologen“. Genaueres über die Tätigkeit seiner dort beschäftigten Kollegen wußte er jedoch nicht zu berichten. Die Aufgaben des PSV bestehen (lt. Bundesministerium der Verteidigung, zitiert nach Lossmann, 1983, S. 81) in der „lagebezogene(n) Einflußnahme auf Einstellung und Verhalten bestimmter Zielgruppen außerhalb der Bundeswehr; um die Durchführung des Auftrags der Streitkräfte zu unterstützen. Zielgruppen können eigene Bevölkerungsteile und in Krise und Krieg zusätzlich Feindkräfte sein.“ Dazu gehört Öffentlichkeitsarbeit, etwa in der Zeitschrift „Beiträge zur Konfliktforschung“, die nach Aussagen von A. Mechtersheimer vom PSV gegründet wurde. Über weitere Betätigungen können nur Spekulationen angestellt werden. Denkbar wären etwa die Erstellung psychologischer Eigenschaftsprofile bestimmter Zielgruppen, die Analyse von Stimmungen und Einstellungen in der Bevölkerung zu politischen und militärischen Fragen u. ä.
Personalauslese
Die Eignungsdiagnostik und Personalauslese ist mit einem Anteil von 60 % der Psychologenstellen der weitaus bedeutendste Bereich militärischer Anwendung der Psychologie. Es gibt keinen anderen Bereich der Eignungsdiagnostik in der BRD, der einen vergleichbaren Umfang aufweist: Allein die Eignungs- und Verwendungsprüfung (EVP), die laut § 20 a Wehrpflichtgesetz alle dienstfähigen Wehrpflichtigen zu durchlaufen haben, wird in jeder der 32 Prüfgruppen in den Ersatzämtern der BRD täglich durchschnittlich 50 bis 55 mal durchgeführt (Steege, 1977). Von jedem dienstfähigen Wehrpflichtigen werden Eignungsmerkmale und Verwendungsvorschläge erhoben und festgehalten (vgl. Fritscher, 1981; Steege, 1977; Mitze, 1971). Freiwillige, Offiziersanwärter und Bewerber für Spezialaufgaben (z. B. Kampfschwimmer, Piloten) werden zusätzlichen Tests unterzogen, an denen Psychologen maßgeblich beteiligt sind. Die verwendeten Verfahren werden unter Verschluß gehalten. Bekannt ist jedoch, daß sie sich vor allem auf „allgemeines Intelligenz- und Bildungsniveau, technisches Verständnis und Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit (Steege, 1977, S. 52) beziehen - durchaus keine militärspezifischen Eigenschaften, sondern solche, die man etwa von einem guten Ingenieur erwarten würde. Die Qualität der Personalauslese hängt wesentlich von der Güte der Testverfahren ab. Die Optimierung dieser Verfahren ist daher auch ein militärisch wichtiges Forschungsgebiet (z. B. Schulz, 1983; Wottawa, 1983).
Sozialpsychologie
Die Sozialpsychologie in der Bundeswehr befaßt sich nach Puzicha (1977) und Mitze (1971) mit folgenden Problemen:
- den Ursachen der Lockerung oder des Zerfalls der inneren Festigkeit von Gruppen,
- dem Verhalten in Extremsituationen (Flucht, Panik, Meuterei),
- den Führungsstilen
- Problemen der Identifikation (mit Führung, Gruppe, Ideologie) u. ä.
Die Aufgabe der Psychologen ist in erster Linie die Beratung verantwortlicher Stellen auf der Grundlage empirischer Erhebungen z. B. zur Arbeitszufriedenheit von Soldaten, zu den Folgen von Versetzungen auf die Moral und Zufriedenheit der Betroffenen (Neuberger u. a., 1982), zur Einstellung gegenüber dem Wehrdienst (Puzicha & Meißner, 1981) und zu „Symptomen nicht gelungener Sozialisation in der Bundeswehr“ wie Fahnenflucht, Kriegsdienstverweigerung bei Soldaten, Drogenkonsum, Selbstmorde u. ä. (z. B. Renn & Feser, 1983). Man stelle sich vor, die Sozialisation von Arbeitslosen würde mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht(...)
Klinische Psychologie
Zu den Aufgaben der Klinischen Psychologie in der Bundeswehr gehört auch die individuelle Therapie, doch ist über die verwendeten Methoden in der Literatur kaum etwas zu finden. Es ist anzunehmen, daß ein wesentlicher Teil der Funktionen entsprechend einem traditionellen Verständnis von Heiltätigkeit von Psychiatern (also Medizinern) wahrgenommen wird. Genannt werden z B. therapeutische Maßnahmen bei unfallbedingter Flugangst von Flugzeugführern (Gerbert, 1981).
Flieger und Flugpsychologie
Einen besonderen Stellenwert nimmt in der Bundeswehr die Flieger- und Flugpsychologie ein, entstehen hier doch besonders hohe Kosten, falls der Faktor Mensch versagen sollte: In 80 bis 90 % aller Flugunfälle wird „menschliches Versagen“ als Hauptursache diagnostiziert (Gerbert, 1981). Die zunehmende Komplexitt des Gesamtsystems hat trotz höherer Zuverlässigkeit der Technik zu vermehrten psychischen Belastungen gebührt. Personalauslese, Ausbildung und ergonomische Gestaltung der Systeme spielen daher eine bedeutende Rolle und stellen ein wichtiges Einsatzfeld für Psychologen dar.
An diesem Beispiel wird allerdings ach deutlich daß sich die militärische Anwendung der Psychologie keineswegs nur auf die Übertragung allgemeiner arbeitspsychologischer Prinzipien auf die Bedingungen der Organisation Bundeswehr beschränkt. Deren Besonderheit wirkt auch auf die Auswahl der in der Psychologie untersuchten psychischen Phänomene zurück. Dies gilt z. B. für die psychische Belastung und Beanspruchung von Piloten, für die es – außer vielleicht in der Weltraumfahrt – keine Entsprechung im nichtmilitärischen Bereich gibt. Ein Teil der Streitforschung etwa ist daher eindeutig als militärische Forschung zu kennzeichnen (vgl. Wehrpsychologische Untersuchungen, Heft 3/1982).
Der hier gegebene Überblick ist notwendigerweise unvollständig und skizzenhaft. 1 Es sollte aber ein Aspekt der Rolle der Psychologie in der Rüstungsfrage aufgezeigt werden, der in der bisherigen Diskussion in der Friedensbewegung weitgehend ausgespart blieb, aber insbesondere die in Forschung und Lehre tätigen Psychologen in erheblichem Maße betrifft. Wenn die Inhalte ihrer Wissenschaft in breitem Umfang militärische Anwendung finden und gleichzeitig von dieser militärischen Anwendung teilweise bestimmt werden, dann gilt für die Psychologen gleichermaßen, was häufig als spezifische Forderung an Natur- und Ingenieurwissenschaftler formuliert wird, sich ihrer besonderen Verantwortung als Wissenschaftler für die Verhinderung von Krieg bewußt und entsprechend aktiv zu werden. Eine Position, die den „Beitrag der Psychologie zum Friedenskampf auf die Frage „Ist der Mensch zum Frieden fähig?“ zuspitzt 2, klammert den eigenen Beitrag zur Verwissenschaftlichung des Krieges (und zur Militarisierung von Wissenschaft) aus.
Zudem scheint die Frage falsch gestellt zu sein: Die Art und Weise, wie die Psychologie militärisch angewandt wird, legt eher die Frage nahe, wie der Mensch zum Krieg zu befähigen sei…
Literaturverzeichnis:
Benne, K., Krämer, C., Syrer, Y. (Hg.), Beiträge zum Friedenskampf – Ist der Mensch zum Frieden fähig? FU Berlin, 1982.
Fritscher, W., Die psychologische Eignungsfeststellung bei ungedienten Wehrpflichtigen. In H. Hasse & W. Molt (Hg.), Handbuch der angewandten Psychologie, Band 3. Landsberg: Verlag Moderne Industrie, 1981.
Gerbert, K., Flugpsychologie. In Hasse/ Molt (Hg.), a.a O.
Geuter, U., Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
Geuter, U. & Kroner, B., Militärpsychologie. In DGVT (Hg.), Psychologische Mobilmachung. Tübingen, 1983.
Graumann, C. F. (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin: Springer 1985.
Losemann, M., Die Strategie dir flexiblen Irreführung – Was die Bundeswehr unter „Psychologischer Verteidigung“ versteht. In DGVT (Hg.), a.a.O.
Mitze, W., Psychologen in der Bundeswehr. In H. Benesch, F. Dorsch (Hg.), Berufsaufgaben und Praxis des Psychologen. München: Reinhardt, 1971.
Neuberger, O. u. a., Mobilität in der Bundeswehr. Versetzungen und ihre Auswirkungen auf den Soldaten und seine Familie. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1982, Heft 5.
Puzicha, K., Sozialpsychologie in der Bundeswehr. Psychologie und Praxis, 1977, 21, 57-66.
Puzicha, K. & Meißner, A., Sozialpsychologische Forschung in der Bundeswehr: Die Motivation junger Männer gegenüber Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung. In Hasse/Molt (Hg.), a.a.O.
Renn, H. & Feger, H., Probleme des Alkoholmißbrauchs junger Soldaten im Vergleich zu gleichaltrigen Zivilpersonen. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 6.
Richter, H. E., Zur Psychologie des Friedens. Reinbek: Rowohlt, 1982.
Schulz, U., Modelle und Methoden der Validierung und Nutzenbestimmung personalpsychologischer Klassifikationen. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 5.
Steege, F. W., Personalpsychologie in der Bundeswehr. Psychologie und Praxis, 1977, 21, 49-57.
Steege, F. W., Psychologische Beiträge zur Personalgewinnung und Personalentwicklung in der Bundeswehr. In Hasse/ Molt (Hg.), a.a.O.
Watson, P., Psycho- Krieg. Möglichkeiten Macht und Mißbrauch der Militärpsychologie. Düsseldorf: Econ, 1982.
Wehrpsychologische Untersuchungen, Heft 3/1982, zum Thema Flugpsychologie.
Wottewa, H., Neuere Methoden der Analyse und Bewertung der diagnostischen Urteilsfindung auf Ausleseverfahren der Bundeswehr. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 3.
Anmerkungen
1 Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrages findet sich in der Reihe „THD-Initiative für Abrüstung: Analysen, Nr. 3 Oktober 1984, W. Mohr: Die Aufrüstung des Faktors Mensch. Militärische Forschung und Anwendung der Psychologie.“Zurück
2 Dieser Vorwurf ist allerdings nicht auf die Autoren der gleichnamigen, sehr lesenswerten Broschüre (siehe Literaturverzeichnis) gemünzt.Zurück
Winfried Mohr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der TH Darmstadt