Unsere Welt ohne Atomwaffen
- Eine reale Utopie?
von Andreas Buro
Nach dem Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki durch US-Flugzeuge und dem Bekanntwerden der verheerenden Auswirkungen dieser damals völlig neuartigen Bomben wurden Nuklearwaffen im Bewusstsein vieler Menschen in vielen Gesellschaften zum Symbol der menschlichen Fähigkeit, die Welt zerstören zu können. Bald zog die Sowjetunion mit Atomwaffen nach. Es entstanden so nach der zunehmenden Verfeindung zwischen West und Ost die Voraussetzungen für das System der gegenseitigen Abschreckung. Es bekam die doppeldeutige Abkürzung MAD für »mutually assured destruction«. Es wurde immer weiter und weiter zu unvorstellbaren »overkill capacities« ausgebaut, nachdem Interkontinentalraketen entwickelt waren. Sie ermöglichten eine direkte Bedrohung von einem Lager zum jeweils anderen.
Bald wurde Theoretikern des Abschreckungssystems wie auch den militärischen Strategen klar, diese Abschreckung könne nur von einem ganz großen Angriff abhalten, weil ja stets die eigene Vernichtung beim Einsatz der Waffen einkalkuliert werden musste. Würde man denn wegen eines konventionellen Angriffs der Sowjetunion auf Berlin - um ein Beispiel zu nennen - die Existenz der USA und wahrscheinlich auch ganz Europas aufs Spiel setzen wollen? Sicher nicht. Man musste also zusätzliche Abschreckungspotenziale unterhalb von MAD bereitstellen, sich also unterhalb der nuklearen Abschreckung auf Konflikteskalationen einstellen und diese vorbereiten. Dabei ging es darum, mit entsprechenden Waffensystemen auf jeder Stufe der Eskalation eine Eskalationsdominanz zu schaffen. Dies gab den Anstoß zur Entwicklung immer neuer Waffentechnologien und -systeme, die alle nur denkbaren Eskalationssituationen abdecken sollten. Freilich konnten dadurch sogenannte Stellvertreterkriege wie etwa in Vietnam, Angola oder in Afghanistan nicht verhindert werden. Doch gelang es, ein Überspringen von den Stellvertreter-Kriegen auf die Vormächte im Ost-West-Konflikt zu verhindern.
Das Abschreckungssystem mit Nuklearwaffen führte sich selbst ad absurdum, als die Sowjetunion SS 20 Mittelstreckenraketen und die USA in Europa Marschflugkörper und Pershing Raketen stationierten. Zwischen Abschuss und Aufschlag dieser Waffen blieben nur wenige Minuten, so dass keine rationale Entscheidung über die Auslösung eines Krieges mehr getroffen werden konnte. Die Gesellschaften, insbesondere die Gesellschaft in Deutschland, fühlten sich so sehr bedroht und verunsichert, dass der Protest gegen diese Waffenstationierung einen großen, ja vielleicht sogar den größten Teil der Gesellschaft erreichte. Die ParlamentarierInnen fassten trotzdem den Beschluss zur Stationierung, wohl wissend, dass diese Situation labiler MAD auf Dauer nicht haltbar sein würde.
Bereits 1968 hatten sich die Staaten über einen Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen geeinigt, der 1970 in Kraft trat. Er wurde nicht von allen Staaten unterzeichnet. So nicht von Indien, Israel und Pakistan, die mittlerweile unter Duldung der »offiziellen Atommächte« mit Veto im UN-Sicherheitsrat (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) Atomwaffen besitzen. Nach dem Vertrag sollten diese „in redlicher Absicht Verhandlungen führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“. Während inzwischen chemische und biologische Waffen völkerrechtlich verboten wurden, gibt es gegenwärtig kein Indiz dafür, dass die »offiziellen Atommächte« gewillt sind, auf diese Waffen zu verzichten. Das bedeutet:
Atomwaffen können in künftigen Kriegen eingesetzt werden und sind in US-Strategien bereits auch dafür vorgesehen.
Manche Staaten, die sich bedroht fühlen, werden ein Interesse an eigenen Atomwaffen haben, weil sie glauben, sie könnten sich so vor Angriffen starker Staaten schützen.
Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein kompliziertes multilaterales System gegenseitiger nuklearer Abschreckung entwickelt. Um so mehr Akteure sich daran beteiligen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Krieges.
Eine Welt ohne Atomwaffen - eine Illusion?
Eine solche Utopie steht offensichtlich in direktem Gegensatz zu den Tendenzen der Gegenwart. Nur überflüssige Atomwaffen wurden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts abgerüstet.
Ansonsten wird modernisiert, diversifiziert und Zweitschlagfähigkeit aufgebaut.
Präemptive Strategien werden geplant.
Raketenabwehrsysteme sollen in der Zukunft weitgehend unverwundbarer machen und damit offensive Kriegführung ermöglichen.
Eine solche Utopie steht ferner im Gegensatz zu der allgemeinen historischen Erfahrung, dass Waffen fast niemals aus pazifistischen Gründen abgeschafft wurden. Sie wurden in der Regel abgeschafft, weil sie durch bessere und geeignetere Waffen ersetzt werden konnten. Vielleicht sind z.B. irgendwann Laserkanonen aus dem Weltall die geeigneteren Waffen für Kriegführung und man kann dann auf Atomwaffen verzichten. Doch ist es das, was die reale Utopie von einer atomwaffenfreien Welt sich erhofft?
Diese These muss eingeschränkt werden. Im »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen« aus den 70er Jahren, das mittlerweile von 182 Staaten ratifiziert wurde, wird ein großer Bereich von Waffen illegalisiert. Dies besagt noch nicht, dass nicht doch an ihrer Weiterentwicklung geforscht wird. Ferner wurde am 8.12. 1987 zwischen den USA und der UdSSR der INF-Vertrag zur Vernichtung aller Mittelstreckenraketen geschlossen, die in Europa eine so gefährliche Bedrohungslage geschaffen hatten. Zu beiden Verträgen ist allerdings zu sagen, dass beide verbotenen Waffengruppen, Kriegführung besonders schwer kalkulierbar machen, was sowohl für die politische Kontrolle wie auch für die militärische Verwendung nachteilig ist.
Und schließlich: Selbst wenn alle A-Waffen abgeschafft sein sollten, würde das Wissen über die Herstellung und Nutzung dieser Waffen einschließlich ihrer Transportmittel erhalten bleiben. Überall würde geargwöhnt, dass einer wieder mit dem Bau von Atomwaffen anfangen könne. Darauf müsse man vorbereitet sein, also selbst Atomwaffen trotz allem noch in der Hinterhand behalten. Dagegen mag man einwenden, diese Risiken könnten durch Verifikationsverträge ausgeschlossen werden. Angesichts der jüngsten Vertragsbrüche im Kosovo-Krieg und bei dem Angriff auf Irak dürfte dies die Befürchtungen nicht ausräumen.
Alle genannten Aspekte legen nahe mit einer Kampagne für eine solche reale Utopie dürfte auf keinen Fall die Erwartung verbunden werden, eine Welt ohne Atomwaffen wäre eine friedliche Welt. Die bei weitem meisten Kriegstoten sterben gegenwärtig durch Kleinwaffen und sind zu etwa 90% Zivilisten. Die »konventionellen« High-Tech-Waffen sind bereits auf höchste Effizienz und damit auf größtmöglichen Terror ausgelegt. Deshalb können die Atomwaffen nur als Synonym für den Wahnsinn der Rüstung und die politisch-militärische Bereitschaft, diese einzusetzen, dienen. Die wirkliche Aufgabe besteht jedoch in der Überwindung des militärischen Konfliktaustrags.
Einige Argumente gegen eine Welt ohne Atomwaffen, die zu beantworten sind
Eine Kampagne für eine atomwaffenfreie Welt muss sich ernsthaft mit den Argumenten für und wider auseinandersetzen. Sie verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Argumente der Befürworter nur als militaristisch oder reaktionär diffamiert. Einige dieser Argumente seien hier aufgeführt, um zur Auseinandersetzung mit ihnen aufzufordern. Offensichtlich ist es gar nicht einfach, ihnen überzeugend zu begegnen:
Das Abschreckungssystem hat doch im Ost-West-Konflikt im Gegensatz zu allen Unkenrufen gut funktioniert. Trotz einiger kritischen Situationen, wie z.B. bei der Kuba-Krise, hat es einen direkten Krieg zwischen West und Ost verhindert.
Die große Überlegenheit der USA sichert, dass keine Atomwaffen angewendet werden, denn jeder Staat, der solche Waffen einsetzen würde, müsste selbst mit schwersten Verlusten, wenn nicht gar mit seiner vollständigen Zerstörung rechnen.
Außerdem können wir uns durch Raketenabwehrsysteme vor Angriffen mit Atomwaffen schützen. Darum ist es notwendig, solche Abwehrsysteme, die heute noch keineswegs perfekt sind, mit allen Mitteln zu entwickeln und möglichst bald zu stationieren.
Da das Wissen über Atomwaffen nicht aus der Welt geschafft werden kann, dürfen wir um unserer Sicherheit willen nicht auf Atomwaffen und Abwehrsysteme verzichten.
Der Westen muss angesichts des Terrorismus und der zunehmenden Knappheit von Ressourcen die Eskalationsdominanz für sich stets aufrecht erhalten. Er muss sich deshalb seine Fähigkeit zu vorbeugenden Schlägen (preemptive strike capability) und seine Zweitschlagsfähigkeit (second strike capability) erhalten und weiter absichern.
Der Besitz von Atomwaffen schützt Staaten vor nuklearen Angriffen durch andere Staaten und sichert damit den Frieden. Er ist außerdem ein wichtiges Statussymbol.
Argumente für eine Welt ohne Atomwaffen
Eine Kampagne für eine Welt ohne Atomwaffen muss selbstverständlich auch ihre eigenen Argumente einleuchtend vortragen können. Wieder einige Beispiele:
Die drohende Gefahr für eine Vernichtung großer Teile der Menschheit und der Verstrahlung ganzer Landstriche oder so gar Länder würde entfallen, wie auch die Gefahr einer »nuklearen Winters«, der bereits bei einem begrenzten Atomkrieg die Folge für große Teile der Welt sein würde.
Schon die Produktion und die Vorhaltung nuklearer Waffensysteme birgt große Gesundheits- und Umweltgefahren in sich. Man denke nur an die Unglücke mit Atom-U-Booten. Dazu kommt die Gefahr der Entwendung von nuklearem Material.
Der Antrieb für eine Weiterverbreitung von Atomwaffen würde vermindert. Man brauchte diese Waffen nicht mehr, um einen Angriff anderer Staaten abschrecken zu wollen.
Der Prozess der Denuklearisierung könnte auch die Bereitschaft zu einer grundsätzlichen Überprüfung von Konfliktlösungsstrategien fördern. Gibt es Hinweise darauf, dass dadurch kooperative, zivile Konfliktlösungsstrategien stärker favorisiert werden würden? Wie müsste die Kampagne geführt werden, um eine solche Entwicklung zu begünstigen?
Freisetzung großer finanzieller Mittel für die Lösung wichtiger Aufgaben, die ungelöst zu gewalttätigen Konflikten führen können.
Übersicht über (mögliche) Strategien für eine Welt ohne Atomwaffen
1. Die bislang wichtigste Strategie, die Atomwaffen los zu werden, ist der Atomwaffensperrvertrag oder richtiger gesagt der »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen - NVV« (Non-Proliferation Treaty NPT). Durch ihn ist die Verbreitung von Atomwaffen eingeschränkt worden, z. B. in Lateinamerika und in Südafrika. In der IAEO (International Atom Energy Organisation) ist eine kompetente Kontrolleinrichtung entstanden. Der NVV ist bisher jedoch weitgehend gescheitert in Hinblick auf die Verpflichtung der offiziellen Atommächte nach Artikel VI des NVV. In ihm heißt es: „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“ Solange die »offiziellen« wie auch die inzwischen hinzugekommenen inoffiziellen Atommächte Israel, Indien und Pakistan nicht bereit sind, auf ihre Atomwaffen zu verzichten, ist die Wirkung des NVV so weit beschränkt, dass er keine Perspektive für eine atomwaffenfreie Welt eröffnet. Gegenwärtig dient er den »offiziellen Atommächten« vor allem dazu, neue Atomwaffenstaaten zu verhindern, soweit es in ihrem Interesse und in ihren Möglichkeiten liegt. Das ist eine wichtige Funktion, die jedoch wie im Fall Iran auch für andere Zwecke missbraucht werden kann. Da jedoch die Bedrohung durch Atomwaffen eher von den heutigen Atommächten ausgeht, ist diese Funktion nützlich, aber keineswegs ausreichend.
2. Ansätze für internationale Regelungen jenseits der NVV werden bereits seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erörtert (Scheffran, Jürgen: Vom Nichtverbeitungs-Regime zur Nuklearkonvention, Beilage in Wissenschaft und Frieden 2/2004, Dossier 46, Atomwaffenfrei bis 2020, S.11 ff.). Dabei sollen die positiven Aspekte des NVV beibehalten werden, und die schrittweise Abrüstung nuklearer Waffensysteme über Allgemeine Verpflichtungen, Verifikationsmechanismen, Internationale Kontrollagenturen, schrittweise Implementierung, Inkrafttreten der getroffenen Vereinbarungen, Vertragseinhaltung und Durchsetzung, Kontrolle und schließlich Beseitigung von Kernmaterialien erreicht werden. Freilich wird auch hier, wie beim NVV, das grundsätzliche Problem darin bestehen, ob die bereits real existierenden Kernwaffenmächte bereit sind, solche Schritte mit zutragen und zu vollziehen.
3. Angesichts des Arguments, das Wissen um den Bau von Atomwaffen würde erhalten bleiben, selbst wenn alle Waffen verschrottet wären, könnte man - zumindest als eine Zwischenstufe - die Schaffung eines Atomwaffenmonopols bei den UN in Betracht ziehen. In der gegenwärtigen Situation ist dies allerdings weitgehend unrealistisch, da die bisherigen Atomwaffenstaaten nicht bereit sind, auf die nationale Verfügung ihrer Nuklearwaffen zu verzichten. Diese Unwilligkeit basiert nicht zuletzt darauf, dass einige Staaten in ihren Militärdoktrinen den Atomwaffen eine wichtige Rolle zuweisen. Erst wenn diese Nationalstaaten und die NATO bereit wären, auf Atomwaffen zu verzichten, könnte ein beschränktes Arsenal solcher Waffen bei den UN angesammelt werden, um Befürchtungen vor einer nuklearen Wiederaufrüstung einzelner Staaten zu begegnen.
4. Die Schaffung und ständige Erweiterung atomwaffenfreier Zonen und Regionen. Hierbei ist mit einer Bewusstseinsänderung der Gesellschaften in dem Sinne zu rechnen, dass Verständigung und Kooperation wichtiger sind als Abschreckung und Aufrüstung. Dies würde möglicherweise auch die Bereitschaft in den Gesellschaften verstärken, illegale militärische Verhaltensweisen öffentlich zu machen. Bei atomwaffenfreien Zonen besteht allerdings das grundlegende Problem, dass atomare Angriffe auch in atomwaffenfreie Zonen hinein geführt werden können. Es wird deshalb wichtig sein, im Zusammenhang mit der Bildung solcher Zonen und Regionen, internationales Recht auszubauen und mit starken Garantien zu versehen, so dass nukleare Angriffe auf sie international verboten und geächtet sind.
5. Angesichts der bitteren Erfahrung, wie wenig internationales Recht etwa beim Angriff auf Rest-Jugoslawien (Serbien und Montenegro) im Kosovo-Krieg 1999 oder beim US-GB-Angriff auf den Irak 2003 respektiert werden, ist es unabdingbar, sich auch um die gesellschaftliche Ächtung von Atomwaffen zu bemühen. Das wird am ehesten in atomwaffenfreien Staaten und Zonen erfolgreich sein. Wichtig ist jedoch diese Ablehnung auch in den Ländern zu erreichen, die selbst über Atomwaffen verfügen und potenzielle Angreifer sein können. Die wichtigsten Argumente hierfür dürften die gesteigerte Unsicherheit durch die Vermehrung der Atomwaffenstaaten und die internationales Recht missachtende Machtpolitik der USA sein.
6. Eine weitere, allerdings zu der »realen Utopie« nur indirekt wirkende Strategie liegt in dem Bemühen militärgestützte Politik durch Ausweitung ziviler Konfliktbearbeitung immer stärker zu begrenzen und in Frage zu stellen. Gelänge dies, so würde auch das Vertrauen auf nicht-militärische, also zivile Konfliktbearbeitung gestärkt werden. Freilich ist dafür auch eine neuartige Medienstrategie erforderlich, die es versteht, die dramatischen Prozesse ziviler Konfliktbearbeitung an eine breite Öffentlichkeit zu vermitteln.
7. Bei der Weiterentwicklung von Kernwaffen und ihrer Trägersysteme sowie der entsprechenden Produktionen ist eine große Zahl von hoch qualifizierten und gut bezahlten Spezialisten tätig. Sie werden ihre Arbeitsplätze und ihre Bemühungen zu deren Sicherung nur aufgeben, wenn sie entsprechende andere Arbeitsplätze für sich finden können. Hier liegt die Bedeutung von Konversionsforschung, die sich auch der Perspektive dieser Personengruppe annehmen muss.
Strategien und an ihnen ausgerichtete Kampagnen gegen Atomwaffen wenden sich zwar gegen eine im Bewusstsein der meisten Menschen besonders bedrohliche und grausame Waffe, lassen aber allzu leicht vergessen, dass die heutigen Waffensysteme unterhalb der nuklearen Systeme auch von unerhörter Zerstörungskraft und Grausamkeit sind. Atomwaffen sind seit ihrem Abwurf 1945 über Hiroshima und Nagasaki nicht mehr eingesetzt worden, wohl aber die zynischer Weise als konventionell bezeichneten modernen Waffensysteme. Würden diese nun in einer Kampagne gegen eine Welt ohne Atomwaffen aus dem Blickfeld geraten, so geriete die Friedensbewegung in eine Sackgasse.
Meine Schlussfolgerung daraus lautet. Es darf keine Kampagne unter dem Motto »Unsere Welt ohne Atomwaffen« geben. Vielmehr muss der Kampf gegen Atomwaffen unbedingt verbunden werden mit der Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung und der Ablehnung militärgestützter Politik. Er würde so weit über die »reale Utopie« der atomwaffenfreien Welt hinaus gehen.
In einer so orientierten Kampagne wären Atomwaffen das krönende Symbol für das Inhumane des heutigen gewaltsamen Konfliktaustrages, der insgesamt überwunden werden muss. Unter dieser Zielsetzung mit einer weiten, ganzheitlichen Perspektive können dann alle oben genannten Strategie-Ansätze zusammengeführt werden. Selbstverständlich sind die Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages, auch des Artikel VI, der eine generelle Abrüstung fordert, einzuklagen und eine Nuklearwaffenkonvention anzustreben. Selbstverständlich kann man über eine UN-Zwischenlösung für eine Monopolisierung von Atomwaffen nachdenken. Selbstverständlich ist es gut für atomwaffenfreie Regionen einzutreten, die Atombombe als inhuman zu verurteilen, und unabdingbar ist es, für die Ausweitung ziviler Konfliktbearbeitung zu arbeiten.
Wie in Deutschland und Europa beginnen?
Fünf NATO-Staaten in Europa weisen eine Besonderheit auf. In ihnen sind 140 taktische US-Atomwaffen, die der NATO zugeordnet sind, stationiert. Diese Länder sind Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei (alle Angaben, auch die folgenden nach Johnson, Rebecca: Europa - Atomwaffenfrei!, Wissenschaft und Frieden 4/2007, S.17-20). Darüber hinaus lagern die USA noch weitere 210 dieser Waffen in Europa.
Die der NATO zugeordneten Atomwaffen sollen im Kriegsfall nicht von den USA ins Ziel gebracht werden, sondern über die sogenannte »nukleare Teilhabe« der fünf Länder. Diese halten für diesen Zweck Flugzeuge vor, die für den Transport von Atomwaffen ausgerüstet sind und deren Piloten Einsätze mit Atomwaffen trainieren. Im Falle eines Krieges würden diese Staaten de facto Atommächte, die allerdings nicht uneingeschränkt, sondern nur im Rahmen der NATO diese Waffen einsetzen sollen. 20 Atomwaffen lagern in Kleine Brogel, Belgien, 20 in Volkel/Niederlande, 20 in Büchel/Deutschland, 40 in Ghedi Torre/Italien und 40 in Incirlik/Türkei. Unter eigener Kontrolle lagern die USA noch 110 Atomwaffen in Großbritannien, 50 in Italien und 50 in der Türkei.
Die Nukleare Teilhabe verstößt nicht nur gegen den NVV-Vertrag, den alle fünf Staaten unterzeichnet haben. Sie verhindert auch die Diskussion zwischen den USA und Russland über die Reduzierung taktischer Atomwaffen, von denen Russland noch etwa 2.300 Stück besitzen soll. Sie ist ferner für die Stationierungsländer gefährlich, da im Falle eines Konfliktes nukleare Stationierungsorte als erstes angegriffen werden würden. Begründet wird der Besitz bzw. die Teilhabe von der NATO in ihrem »Strategischen Konzept« von 1999 damit, dass Atomwaffen die „oberste Garantie“ für die Sicherheit des Bündnisses böten. Offensichtlich hält die NATO an einer unzeitgemäßen Nukleardoktrin fest.
Es scheint nun ausgesprochen sinnvoll, mit einer Kampagne gegen Atomwaffen und für zivile Konfliktbearbeitung an dem Punkt der nuklearen Teilhabe anzusetzen. Arbeiten in diesem Sinne sind schon seit vielen Jahren im Gange. Wäre es da nicht auch ausgesprochen sinnvoll, diesen Ansatz mit der Forderung nach einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa zu verbinden? Dadurch könnten viele Kontakte zu anderen europäischen Friedensbewegungen hergestellt bzw. reaktiviert und auch Nicht-NATO-Staaten einbezogen werden. Eine weitere Verknüpfung könnte sein, dass diese Gesellschaften sich ganz besonders um die Entfaltung ziviler Konfliktbearbeitung innerhalb und außerhalb ihres Gebietes gemeinsam einsetzen und auch hierzu gesellschaftliche Institutionen aufbauen und Programme entwickeln.
Meine Schlussfolgerung: Die Arbeit für eine Welt ohne Atomwaffen muss auf eine Welt zusteuern, in der die Konflikte zivil bearbeitet werden.
Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Ratschläge danke ich Regina Hagen.
Dr. habil. Andreas Buro, Mitbegründer der deutschen Ostermarschbewegung/Kampagne für Demokratie und Abrüstung, heute Koordinator des Dialog-Kreises »Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden« und Koordinator des »Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention«