US-Raketenabwehr
Ein Danaer-Geschenk für Europa und die Welt?
von Götz Neuneck und Jürgen Altmann
Die US-Administration unter Präsident George W. Bush hält unverändert an ihrer Vision einer umfassenden, mehrschichtigen und integrierten Raketenabwehr fest. Dieses Projekt, dass bereits unter Präsident Clinton unter dem Stichwort »National Missile Defense« begonnen wurde, soll auch auf Europa ausgedehnt werden, obwohl die operative Einsatzreife der in der Testphase befindlichen Technologie weder bewiesen noch gesichert ist.
Mit dem neuen »National Intelligence Estimate«, der feststellt, dass der Iran 2003 sein militärisches Nuklearprogramm beendet hat, ist eine weitere wichtige Legitimation für das europäische Projekt entfallen. Zudem besteht die Gefahr, dass das Projekt in Europa Russland soweit provoziert, dass ein tiefgreifender Politikwechsel der russischen Regierung die Folge ist. Die russische Bomberflotte wurde von Präsident Putin angewiesen, die nuklearbestückten Patrouillenflüge wieder aufzunehmen und die Nuklearstreitkräfte wurden in höhere Alarmbereitschaft versetzt. Nach der Kündigung des ABM-Vertrages im Jahr 2002 tritt jetzt das ein, vor dem viele gewarnt haben: eine Renaissance nuklearer Arsenale und ein Ende der Abrüstung. Ein Hauch von Kaltem Krieg liegt in der Luft.
Aus russischer Sicht ist die europäische Komponente der Schlussstein einer amerikanischer Ausweitungsstrategie, die eine echte Zusammenarbeit mit Russland unmöglich macht. Die Stationierung US-amerikanischer Truppen in Bulgarien und Rumänien, der Kosovo-Konflikt und die amerikanische Hochrüstung - Stichworte sind Weltraumrüstung, »Netcentric Warfare« und »Prompt Global Strike« - sind zusätzliche Elemente, die als aggressiv angesehen werden. Präsident Putin, der selbst eine neo-imperiale Politik im russischen Umfeld betreibt, sprach bei der Münchner Sicherheitskonferenz bereits im Februar 2007 von einem „unvermeidlichen Wettrüsten“ und Außenminister Lavrov von einer „Änderung der strategischen Balance“, sollte die US-Raketenabwehr in Europa umgesetzt werden. Inzwischen wurde der Vertrag für Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) - eine zentrale Errungenschaft des Endes der Ost-West-Konfrontation - von Präsident Putin mit dem Hinweis suspendiert, der Westen habe den sog. Angepassten KSE-Vertrag (AKSE) bis heute nicht ratifiziert. In einem Appell warnten hochrangige Diplomaten und Wissenschaftler davor, das KSE-Regime, ein „beispielloses Instrument für die Bewahrung des Friedens und von höchster Bedeutung für die Zukunft Europas“ zu zerstören, und traten für die Ratifizierung des AKSE durch den Westen ein.1 Es besteht die Gefahr, dass weitere Verträge wie der »Open Skies«-Vertrag oder der INF-Vertrag ebenfalls gekündigt werden. Ein mögliches Ende der europäischen Rüstungskontrollarchitektur würde den Weg frei machen für Neustationierungen von konventionellen Streitkräften und nuklear bestückten Waffensystemen in Zentral-, Süd- und Nordeuropa und die politische Landschaft auf lange Zeit belasten sowie neue Grenzlinien und mögliche militärische Konfrontationen schaffen. Die Fortsetzung der nuklearen Abrüstung strategischer wie taktischer Atomwaffen erscheint heute ebenso illusorisch wie eine Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages oder die Schaffung neuer Rüstungskontrollverträge.
Die technologisch-politische Vision der US-Raketenabwehr und die Raketenbedrohung
In einer Rede in der National Defense University (NDU) am 23. Oktober 2007 zog Präsident Bush Bilanz bezüglich seines ambitionierten Raketenabwehrprogramms.2 Er stellte fest, dass 1972 nur neun Staaten über ballistische Raketen verfügten, heute aber 27. Ein Blick auf die Pentagon-Karte der Raketenbedrohung zeigt, dass die meisten dieser Staaten Freunde oder Alliierte der USA sind. Lediglich Iran und Nordkorea, die über importierte russische Raketentechnologie verfügen, entwickeln Raketen, die möglicherweise eines Tages von ihrem Territorium aus die USA erreichen können. Erst in Verbindung mit einer funktionsfähigen und leichten, d.h. für eine Rakete geeigneten, Nuklearwaffe sowie einer Fähigkeit zur Produktion von Raketen interkontinentaler Reichweite würde eine massive Bedrohung entstehen. Allerdings wären Antagonisten durch den möglichen Einsatz des umfassenden Nukleararsenals der USA oder auch Russlands abgeschreckt. Nordkorea hat augenscheinlich große Probleme bei der Entwicklung einer nuklearen Abschreckungskapazität und hat im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche sein Atomwaffenprogramm gestoppt. Iran verfügt über importierte Raketen aus Nordkorea, im wesentlichen Nachbauten russischer Raketentechnologie, die eine Reichweite von ca. 1.500 km haben. Die »Shahab-3«, die identisch mit der pakistanischen »Ghauri« ist, wurde nur teilweise erfolgreich getestet und soll weiter modifiziert werden. Eine eigene Produktionskapazität für Raketen dieses Typs besteht im Iran nicht. Sie können allerdings israelisches oder türkisches Territorium erreichen. Eine seegestützte taktische Raketenabwehr wäre dafür aber ausreichend. Ein militärisches Nuklearprogramm wurde nach Aussagen der US-Geheimdienste im Iran 2003 eingestellt. Eine Entwicklung von Raketen interkontinentaler Reichweite konnte im Iran, dessen Entwicklung mit dem Irak der 1980er und 1990er Jahre vergleichbar ist, bisher jedoch nicht festgestellt werden. Dennoch hält die Bush-Administration unbeirrt an einer Bedrohung durch Staaten im Mittleren Osten fest.
Zweck des »Ground-Based Midcourse Defense System« (GMD) ist der Schutz der USA, seiner weltweit operierenden Streitkräfte sowie der Alliierten und Freunde der USA, insbesondere in Bezug auf eine Bedrohung durch Iran und Nordkorea. Irak, der noch 2001 als Bedrohung herhalten musste, ist inzwischen als Legitimation weggefallen. Schnellfliegende Abfangraketen, »Ground-based Interceptors« (GBI), die z.Z. noch getestet werden, sollen anfliegende Sprengköpfe direkt treffen und zerstören. Obwohl die operative Einsatzreife nicht erreicht ist und lediglich die Hälfte der 14 GMD-Tests »erfolgreich« war, wurde seit 2002 mit der Stationierung von 5 GBIs in Vandenberg/Kalifornien und 10 GBIs in Alaska begonnen. Insgesamt sollen 44 GBIs bis 2013 in den USA stationiert sein. Ein seegestütztes Bahnverfolgungsradar ist noch nicht funktionsfähig, und die geplante Weltraumkomponente läuft aufgrund technischer und fiskalischer Probleme erheblich hinter dem Zeitplan her.
Die Bush-Administration gibt pro Jahr ca. 10 Mrd. $ für diverse Raketenabwehrprogramme aus, wobei im Jahr 2008 neben GMD (2,52 Mrd. $) auch die taktischen Abwehrsysteme AEGIS (seegestützt, 1,06 Mrd. $) und THAAD (858 Mio. $) entwickelt und getestet werden. Hinzu kommen der ambitionierte »Airborne Laser«, der Raketen in ihrer Antriebsphase mit einem Hochenergielaser an Bord einer Boeing 747 zerstören soll (549 Mio. $) sowie weitere Programme, die im Bereich Weltraumwaffen (127,4 Mio. $) anzusiedeln sind.3 Konfusion und Irreführung bestehen bezüglich der Testbilanz der unterschiedlichen MD-Systeme. Präsident Bush erwähnt in seiner NDU-Rede den 30. »erfolgreichen« MD-Test seit 2001. Die meisten Tests wurden dabei mit den taktischen MD-Systemen durchgeführt. Es ist daran zu erinnern, dass die Patriot-Abwehrrakete oft erfolgreich getestet worden war, bevor sie im Golfkrieg 1991 mehr oder weniger nicht traf. Bezüglich den GMD-Tests ist das Kriterium »Erfolg« umstritten. Der letzte Test im September 2007 war der siebte Abfangvorgang von insgesamt 13 Versuchen. Ein Test vom September 2006 wurde zunächst als erfolgreich gewertet, aber dann aus der Statistik genommen. Es fällt auf, dass die auftretenden Fehler stets neuer Art sind. Die letzten beiden Tests fanden nicht gegen Ziele mit sog. Gegenmaßnahmen statt. Dies sind leichte Ballone oder Täuschkörper, die zusammen mit dem schwereren Sprengkopf ausgesetzt werden und mit den heutigen Mitteln nicht unterschieden werden können. Damit ist klar, dass das GMD-System nicht gegen Raketen mit Gegenmaßnahmen wirken kann. Die »Missile Defense Agency« (MDA) wird erst beim nächsten Test Gegenmaßnahmen einbeziehen und entwickelt zudem ein »Multiple Kill Vehicle« (FY 2008: 271 Mio. $), das mehrere Ziele auf einmal bekämpfen kann. Offensichtlich können nur so viele hypothetische Sprengköpfe oder Attrappen abgeschossen werden, wie Abfangraketen oder Kill Vehicles existieren. Es ist somit irreführend, wie es sich in der Presse z.T. eingebürgert hat, von einem Raketenschild zu sprechen.
Die europäische GMD- Komponente in Polen und der Tschechischen Republik
Ein weiterer wichtiger Schritt für Präsident G.W. Bush ist die Einbeziehung anderer Staaten, insbesondere in Europa und Asien, in die globale Raketenabwehr. Mit der geplanten Stationierung eines GBI-Silofeldes mit 10 Interzeptoren in Polen und eines X-Band-Bahnverfolgungsradars in der Tschechischen Republik, deren Bedingungen zurzeit bilateral mit der jeweiligen Regierung ausgehandelt werden, besteht für das GMD-System eine „erste Abfangchance“ für Raketen aus dem Mittleren Osten. Für die Abwehrstellung in Polen soll eine zweistufige GBI-Version stationiert werden, die für diese Zwecke erst noch getestet werden soll. Äußerlich ähnelt solch eine Rakete einer Interkontinentalrakete. Auch wenn die Nutzlast geringer ist und die Funktion eine andere wäre, würde dies den INF-Vertrag gefährden. Ein mobiles »Forward deployed Radar« (FBX) soll zusätzlich näher am Iran, z.B. in der Türkei, stationiert werden. Der Direktor der Missile Defense Agency (MDA), Generalleutnant H. A. Obering III, gibt als Grund für diese geographische Auswahl eine „Maximierung der Abdeckung für Europa gegenüber BM-Angriffen aus dem Mittleren Osten“ an.4 Die geplante Stationierung soll 2013 abgeschlossen sein und 4.04 Mrd. $ kosten. Das von den Demokraten dominierte US House of Representatives hat für 2008 die vom Pentagon geforderte Summe für erste Baumaßnahmen jedoch von 310 Mio. $ auf 150 Mio. $ mit dem Hinweise gekürzt, dass die US-Verteidigung Priorität habe und die Reife des Systems nicht nachgewiesen ist. Der Bau vor Ort kann erst beginnen, wenn beide Kammern der Tschechischen Republik dem Abkommen mit den USA zugestimmt haben und der Präsident dieses unterschrieben hat. Umfragen zufolge gibt es mehrheitlich Ablehnung durch die Bevölkerung in Tschechien. Präsident Vaclav Klaus hat signalisiert, dass das Radar, die „Beziehung zu den USA zementieren“ würde. In der Tat geht es den Regierungen in Tschechien und Polen eher um amerikanische Sicherheitsgarantien als um die Abwehr einer zweifelhaften Bedrohung durch z.B. den Iran. Die drohenden Aussagen aus Russland, in der führende Militärs von einer konkreten Bedrohung der beiden US-Anlagen in den Stationierungsländern sprachen, helfen nicht gerade im innenpolitischen Diskurs dieser Länder.
Eine alleine von den USA abhängige Raketenabwehr ist in Europa umstritten. Während in einigen Ländern wie Deutschland oder Frankreich Skepsis bzw. Ablehnung vorherrschen, sind Staaten wie England oder Dänemark dem Projekt eher gewogen. Bundeskanzlerin Angelika Merkel sprach sich für eine Einbeziehung der NATO und für einen offenen Dialog mit Russland aus. Die NATO hat bereits im Juni 2006 ein eigenes Raketenabwehrprogramm ALTBMD (Active Layered Theater Ballistic Missile Defence Programme) beschlossen, das zum Schutz von NATO-Truppen zwischen 2010 und 2013 einsatzbereit sein soll. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass taktische MD-Systeme wie THAAD, MEADS oder Patriot in das geplante BMD-System einbezogen werden. Eine 10.000 Seiten umfassende NATO-Feasibility Study, die sich mit dem Schutz des NATO-Territoriums und von Bevölkerungszentren auseinandersetzt, wurde beim Gipfel in Prag gebilligt. Da die Annahmen und technischen Vorraussetzungen dieser Studie so gut wie niemandem bekannt sind, ist anzunehmen, dass sie die optimistischen Prämissen des US-Ansatzes übernehmen. Eine Implementierung dieser geheimen Optionen wurde bisher zwar nicht beschlossen. Es ist jedoch höchst problematisch, dass politische Entscheidungen bezüglich des Schutzes der Bevölkerung ohne Einsicht in die NATO-Studie getroffen werden sollen. Als weiteres Problem ist die Tatsache zu sehen, dass das GMD bei einer hypothetischen Bedrohung aus dem Iran große Bereiche Südosteuropas, d.h. die Türkei, Bulgarien und Rumänien, nicht abdeckt. Angesichts der Forderung nach „Unteilbarkeit des NATO-Territoriums“ drängt sich die Vermutung auf, dass zukünftig die NATO die Verteidigung gegen Raketen in dieser Lücke übernimmt. Dies würde - trotz erheblicher Expertenzweifel und der Ablehnung in der Bevölkerung - bedeuten, dass die US-Raketenabwehr weitgehende Akzeptanz in Europa findet. Im NATO-Kontext wird eine Entscheidung beim nächsten Gipfel in Bukarest erwartet.
Die Bush-Administration hofft, weitere Partner für das BMD-Projekt zu finden. Japan hat sich bereits an der Entwicklung des taktischen, see-gestützten Aegis Ballistic Missile Defense System beteiligt. Am 17. Dezember 2007 gelang der Abschuss einer Mittelstreckenrakete durch eine amerikanische Standard Missile-3, die von einem japanischen Zerstörer aus gestartet wurde. Angesichts der nordkoreanischen Raketenbedrohung hat die japanische Regierung beschlossen, neun SM-3-Interzeptoren im Wert von 475 Mio. $ zu kaufen. Es liegt nahe, dass die Einführung dieser Raketenabwehr Konsequenzen für Südasien, d.h. in Bezug auf China, haben wird.
Die europäische und globale Bedeutung der US-Raketenabwehr
Die Debatte in Europa und auch in Deutschland wird fast ausschließlich politisch geführt. Politiker spielen das Problem, dass die MD-Installationen für Russland darstellt, herunter. US-Außenministerin Rice bezeichnete die Kritik Russlands als „lächerlich“. Es wird argumentiert, dass 10 Interzeptoren das russische Arsenal, das aus 500 Interkontinentalraketen (ICBM) besteht, nicht ernsthaft tangieren. Die MDA-Offiziellen haben in ihren Vorträgen in Europa stets festgestellt, dass die in Polen stationierten GBIs in Russland startende ICBMs nicht erreichen können und damit die russische Abschreckungsfähigkeit nicht gefährden.5 Die Offiziellen verwenden dafür niedrige Geschwindigkeiten und einen späten Start der Abfangraketen. Simulationen des MIT-Professors Ted Postol zeigen, dass es durchaus möglich ist, mit den GBIs in Polen russische ICBMs, die von den westlichen Silos in Russland in Richtung USA starten, zu erreichen.6 Aus russischer Perspektive müssen Interzeptoren in Polen in jedem Fall ein Problem darstellen, denn es könnte sich längerfristig sowohl die Zahl erhöhen als auch die Art verändern. Im Vorfeld der jetzigen Diskussion wurden auch andere Stationierungsorte im Kaukasus und in Großbritannien genannt. Hinzuzurechnen sind auch die weiteren in der Entwicklung befindlichen taktischen BMD-Systeme wie THAAD und Aegis/SM-3.
Ein weiteres Problem für Russland stellt das »European Midcourse Radar« (EMR) dar, das in der Tschechischen Republik aufgebaut werden soll. Dieses hochauflösende Bahnverfolgungsradar, das die Interzeptoren zum Ziel leiten soll, ist zwar in seiner Leistungsfähigkeit begrenzt, jedoch ausbaubar. Die GMD-Stellungen in Polen und Tschechien liegen näher an den im Westen Russlands stationierten ICBMs als der Iran. Während es beim jetzigen Ausbaustand der ca. 100-120 qm großen Antenne nur wenige Objekte im Flug verfolgen kann, könnte das durch Bestückung mit mehr Sende-Empfangs-Modulen auf Hunderte von Objekten erhöht werden. Auch kann das Radar in Tschechien russische Flugtests und das Aussetzen der Mehrfachsprengköpfe russischer ICBM in Richtung USA beobachten und die Informationen in die USA weiterleiten, wo weitere Interzeptoren diese Sprengköpfe abfangen könnten. Präsident Putin hat den USA die Nutzung des russischen Frühwarnradars in Aserbeidschan (Gabala) oder in Russland (Armavir) angeboten. Diese Radars können keine in Russland (weiter nördlich) startenden Raketen entdecken. Diese Lösung wird bisher von den USA abgelehnt, was den Verdacht nährt, dass es den USA in keinem Falle um eine Zusammenarbeit mit Russland geht. Aus russischer Sicht wird hier gefolgert, dass die stationären GMD-Komponenten gegen Russland gerichtet sind.
Das dritte Element der europäischen GMD-Komponente ist das transportable »Forward-deployed Radar« (FBX), das z.B. in der Türkei stationiert werden könnte. Solch ein Radar ist nötig, um anfliegende Sprengköpfe überhaupt »auffassen« zu können. Die US-Administration sieht darin eine Verbesserung der Abdeckung Europas gegenüber Kurz- und Mittelstreckenraketen aus dem Mittleren Osten. Aufgrund der Tatsache, dass der Iran nur über Kurz- oder Mittelstreckenraketen verfügt, wären seegestützte MD-Systeme wie die Aegis-Kreuzer im Mittelmeer oder der Ostsee für die nächsten Jahre ausreichend und politisch weniger kontrovers.7
Einige Folgerungen
Die GMD-Raketenabwehr in Alaska, Kalifornien und Europa verfügt über keine nachgewiesene Effektivität zur Verteidigung Europas und der USA. Planer in Russland und China werden aber davon ausgehen, dass die USA längerfristig in weitere BMD-Systeme und -Technologien investieren. Sie werden Gegenmaßnahmen wie verstärkte Stationierung und Weiterentwicklung von ICBM und Mehrfachsprengköpfen einführen. Dies bedeutet das Ende der Chance auf weitere nukleare Abrüstung und von Verträgen wie dem »Fissile Material Cut-off Treaty«. Insbesondere vor dem Hintergrund der militärtechnischen Anstrengungen der USA wie der Einführung und Verbesserung präzisionsgenauer Munition, der Weltraumaufklärung und der Erhöhung der Treffergenauigkeit strategischer Nuklearsysteme steigt die Furcht, dass die Zweitschlagsfähigkeit der Abschreckungsarsenale Russlands und Chinas obsolet werden könnte.8 Neue Rüstungswettläufe sind ebenso wahrscheinlich wie die Stationierung von neuen Raketen und die weitere Erosion der Rüstungskontrollarchitektur.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass die geplanten GMD-Anlagen in Polen und der Tschechischen Republik längerfristig ein Problem für das russische Abschreckungspotential darstellen. Insbesondere unter der Perspektive, dass die russischen Arsenale altersbedingt weiter verringert werden müssen und aufgrund der forcierten militärtechnischen US-Rüstung sowie der Möglichkeit des weiteren Baus von GMD-Komponenten in Europa sind verstärkte Rüstungsanstrengungen Russlands und der Aufbau von Bedrohungsszenarien wahrscheinlich. Nach der jüngsten Einschätzung der US-Geheimdienste bestehen für die Europäer Zeit und zusätzliche Argumente, die GMD-Stationierung zu verschieben und eine Lösung des Disputs mit dem Iran voranzutreiben. Auch müssen die Europäer deutlich machen, dass Alternativen wie seegestützte Raketenabwehrsysteme oder die Einbeziehung von russischen Frühwarnradars im Falle einer ernsten Bedrohung aus dem Mittleren Osten existieren, die weiter verfolgt werden können, wenn dieser Fall eintritt. Eine Mitsprache Europas bei der geplanten Raketenabwehr kann schon dadurch begründet werden, dass Trümmerteile von Interzeptoren, Raketen oder Sprengköpfen beim Abfangen auf europäischem Territorium landen würden.
Anmerkungen
1) Siehe: Arms Control Association: „International Appeal Bring the Adapted CFE Treaty into Force“, http://www.armscontrol.org/pressroom/2007/20071204_CFE_Appeal.asp.
2) President Bush Visits National Defense University, Discusses Global War on Terror, October 23, 2007 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2007/10/20071023-3.html].
3) Timothy Barnes: Fiscal Year 2008 Defense Budget: Programmes of Interest, Center for Defense Information, http://www.cdi.org/program/issue/document.cfm?DocumentID=4130&IssueID=79&StartRow=1&ListRows=10&appendURL=&Orderby=DateLastUpdated&ProgramID=6&issueID=79.
4) Obering III, Lt. Gen. Henry A., Director Missile Defense Agency, Written Statement before the Strategic Forces Subcommittee, House Armed Services Committee, March 27, 2007; viewgraph 17.
5) Lt Gen USAF H.A. Obering (Director MDA), Missile Defense For U.S. Allies And Friends, Presentation, March 2007; P. Sanders (Executive Director, MDA), Missile Defense Program Overview For The European Union, Committee On Foreign Affairs, SEDE, Presentation, 28 June 2007 (viewgraph 26).
6) Siehe George N. Lewis & Theodore A. Postol: The Technological Basis of Russian Concerns, in: Arms Control Today, October 2007, p.13-18.
7) Richard L. Garwin, Ballistic Missile Defense Deployment to Poland and the Czech Republic, Talk at the Erice International Seminar, 38th Session, August 21, 2007.
8) Siehe z.B. K.A. Lieber & D.G. Press: The Rise of U.S. Nuclear Primacy, in: Foreign Affairs, March/April 2006.
Prof. Dr. Götz Neuneck, Physiker, Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) Universität Hamburg und Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), Mitglied im Council der Pugwash Conference on Science and World Affairs. Dr. habil. Jürgen Altmann, Experimentelle Physik III, Universität Dortmund, arbeitet seit 1985 an naturwissenschaftlichen Fragen der Abrüstung. Stellvertretender Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Mitglied im Vorstand von FONAS.