W&F 2006/2

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

von Dr. Alexander Neu

Seit Jahren wird eine umfassende Reform der Vereinten Nationen (UN) diskutiert. Ein Gipfeltreffen im Herbst letzten Jahres sollte die UN fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel Mitte September letzten Jahres bereits im Anfangsstadium stecken. Der Autor dieses Artikels geht davon aus, dass internationale Regierungsorganisationen keine eigenständigen handlungstragenden Einheiten verkörpern, sondern lediglich Instrumente darstellen, deren Kompetenzen, deren finanzielle, materielle und personelle Ausstattung durch die sie tragenden Staaten – als die eigentlichen Akteure der internationalen Politik – bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, wie im sicherheitspolitischen Sektor die tatsächliche Unterstützung der UN seitens der die UN tragenden Staaten aussieht.

Mit dem Beitritt zur UN haben sich die UN-Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Normen der UN-Charta verpflichtet. Dass heißt:

  • Sie haben einen Teil ihrer Souveränität, das ius ad bellum in der Variante des Angriffskrieges, abgegeben. Damit haben sie das Gewaltmonopol an die UN delegiert.
  • Sie haben sich damit auch verpflichtet, die UN materiell, finanziell und personell (auch militärisch) so weit zu befähigen, dass diese schließlich das formale Gewaltmonopol auch durchsetzen kann.

Doch wie sieht es mit der Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UN relevanter Staatengruppen, wie der NATO, der EU und den USA, tatsächlich aus? In welchem Verhältnis stehen das »Strategische Konzept des Bündnisses«, die »Nationale Sicherheitsstrategie« der USA sowie die »Europäische Sicherheitsstrategie« der EU zu den normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektives?

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Eine der wichtigsten UN-Normen für das Funktionieren des UN-Systems ist die Vorrangklausel (Art. 103 UN-Charta). Sie stellt fest, dass im Falle internationaler Verpflichtungen und internationaler Verträge (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie vergleichbar. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verbot von subsidiären Sicherheitsstrukturen wie regionale Organisationen (hierzu Kapitel VIII der UN-Charta), sondern lediglich um deren UN-rechtskonforme Einbindung bzw. Unterordnung.

Zur Erfüllung der Kernaufgabe, der Gewährung kollektiver Sicherheit, wird dem UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, sowie das ausschließliche Recht zuerkannt, eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ festzustellen (Art. 39 UN-Charta), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42 UN-Charta) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages – seitens der UN-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47 UN-Charta). Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an dem UN-Sicherheitsrat nicht in die Hand gegeben.

Stattdessen wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1 UN-Charta) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser »Autorität«, d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführt) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatiert) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, als sie die irakische Besetzung Kuwaits mit einer multinationalen Truppe unter ihrem Oberkommando beendeten. Die UN verloren die komplette Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks, sie wurden de facto zum Mandatsbeschaffer degradiert.

Die Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren sollen, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UN selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UN vermittelt über »willige Staaten« bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine militärische Handlungsfähigkeit der UN. Die operative Umsetzung wird von den »willigen Mandatnehmern« gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Letztlich werden damit auch die weiteren politisch-strategischen Entscheidungen über die Maßnahmen zur Gestaltung der Nachkriegsordnung in der betreffenden Region der UN faktisch entzogen und der Machtsphäre des »willigen Mandatnehmers« zugeordnet.

Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und kann sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert werden.

Dass dieses Problem zeitverzögert – 45 Jahre nach Gründung der UN – erst so virulent wurde, erklärt sich durch die bipolare Ost-West Konfrontation: Diese verhinderte einen einseitigen Missbrauch durch die balancierende Kraft der jeweils anderen Seite, die das Vetorecht geltend machte.

Derzeit existiert keine ausreichend balancierende Gegenmacht, die die USA zur Respektierung internationalen Rechts bewegen könnte. Im Gegenteil, wie der Ingenuitätsprozess1 sich nach dem Ende der Bipolarität nicht nur in der praktischen internationalen Politik, sondern auch in völkerrechtlichen Dokumenten durchsetzte wird im folgenden ausgeführt.

Das Strategisches Konzept der NATO

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung drohte die NATO Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. 1991 verabschiedete die NATO ein Neues Strategisches Konzept in dem sie lediglich ihre verteidigungspolitische Funktion in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ wiederholte und ihre sicherheitspolitische Unabkömmlichkeit unterstrich.2

Diese Selbstrestriktion brachte das Bündnis jedoch in eine Identitätskrise. Es mussten neue Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, gefunden werden, um der Verteidigungsorganisation eine neue sinnstiftende Identität zu geben. Zunächst empfahl man sich den UN als militärischer Arm in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawien. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UN.3

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage ihres Strategischen Konzepts. Darin wird die »Autorität« des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.4 Allerdings wird diese »Autorität« in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben.“5 Die Wortwahl »anstreben« bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UN. Damit wird das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt. Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das Strategische Konzept spricht hier von der „primären Verantwortung“, statt der Hauptverantwortung (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UN für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.“6 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das Strategische Konzept exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung »primäre Verantwortung« Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit beansprucht für den Fall, dass die UN ihrer Funktion – gemäß der Erwartung des Westens – nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der Hauptverantwortung bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UN eigenmächtig substituieren. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta). Der Terminus Hauptverantwortung muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Demnach die Verantwortung der Staaten selbst, durch eine proaktive Haltung in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ beitragen müssen und „internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beilegen sollen.

Das Strategische Konzept muss in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung der realpolitischen Situation verstanden werden. Neben dem mangelnden Unterordnungswillen unter die UN bleibt auch der geographische Aktionsradius offen. Es werden der euro-atlantische Raum, die Peripherie desselben und schließlich der »globale Kontext«, genannt, indem die Sicherheitsinteressen, wie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“, berührt werden könnten.7

Insgesamt verweist das Konzept auf eine neue NATO, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, verstanden wissen will. Die neue NATO definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff (Stichwort: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch), der das Verteidigungsbündnis im Ergebnis zu einem globalen Sicherheitskollektiv ohne völkerrechtliche Legitimation erhebt. Hierbei bricht die NATO UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UN bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103 UN-Charta).

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS muss im Kontext des ein Jahr zuvor stattgefundenen Terroranschlags auf die USA verstanden werden. Die NSS verweist mit dem hohen Selbstbewusstsein einer Supermacht auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die „neue, produktive internationale Beziehungen“ eingehe und die „bestehenden neu“ definiere.8 Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle Korrekturen der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen ist hier beispielsweise die Weigerung der USA sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen.

Die UN werden ganze zweimal in dem umfassenden Dokument genannt. Im Vorwort wird auf eine sehr allgemeine und unpräzise formulierte Verpflichtung der USA gegenüber multilateralen Institutionen, wie der UN verwiesen. Der zweite Hinweis devaluiert gar die UN zu einer Organisation unter vielen, mit der bei Bedarf kooperiert werden kann.9

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Die USA beanspruchen die globale Führerschaft im Kampf gegen die neuen sicherheitspolitischen Risiken. Die wesentlichen Konfliktlösungsmechanismen sind hierbei repressiver Art, d.h. militärische Maßnahmen, deren Nennung wie ein roter Faden die gesamte NSS durchzieht. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UN. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus, selektivem Multilateralismus10 und einem dezidierten Unilateralismus.

  • Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip (aktive Selbstverteidigung bei einem gegenwärtig zu erwartenden Angriff) um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: „(…) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird.“11 Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verneint. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
  • Der selektive Multilateralismus exemplifiziert sich an Rüstungskontrollregimen und dem Nichtverbreitungsvertrag, die den USA einen Nutzen einräumen.12 Der selektive Multilateralismus ist gekennzeichnet durch punktuelle Kooperationen, die den nationalen Interessen förderlicher sind als eine rein unilaterale Vorgehensweise.
  • Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA „auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (…).“13Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, gemeint ist hier wohl insbesondere die UN ohne sie namentlich zu nennen, nicht die Hauptverantwortung, sondern bestenfalls eine kooperierende und schlimmstenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird.

Die signifikante Abwertung der UN, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die „Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt“ skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten, wie Japan, Südkorea und Australien, noch vier internationale Organisationen genannt: die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC. Die UN wird nicht aufgeführt.14

Nicht nur das die UN und das UN-Völkerrecht keine Rolle in der NSS spielen. Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Ein solcher Ansatz müsste eigentlich auf entschiedenen Widerstand der europäischen Partner stoßen. Wie die Reaktion der EU tatsächlich ausschaut, zeigt eine Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Angesichts der zunehmenden Integration der EU – auch in sicherheitspolitischen Fragen – zeigte sich die Notwendigkeit der strategischen Positionierung eines im Werden begriffenen sicherheitspolitischen Akteurs auf der Weltbühne. Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter und ausgeführter – kurzum gelebter – Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betont.15 Obgleich die ESS keine Bereitschaft bekundet, der UN Truppen unter UN-Befehl gemäß Art. 43 UN-Charta (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UN in deren Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen. Hierbei bekundet sie auch ihr Pflichtgefühl, zu einer „verstärkten Unterstützung“ der UN bei „kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.“16 Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.17

Aber exakt im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS. Die ESS fordert die Entwicklung einer Strategie-Kultur, „die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert“. Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie „humanitäre Krisen“ können durch „präventives Engagement“ reduziert werden.18

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der Wahrung des Völkerrechts. Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffskrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorial gebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“19

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit, „dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt“ halten müsse, aufzulösen.20 Hierbei »übersehen« die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

Fazit

Weder in dem Strategischen Konzept des Bündnisses noch in den Doktrinen wird der Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zur Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Handlungsspielraum der Großmächte zu erweitern (Interventionen mit Unterstützung der UN). Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der ESS unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, »modernisiert« werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur »weltweiten präventiven Selbstverteidigung« hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeuten würde.

Anmerkungen

1) Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert den Begriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff Ingenuität ist der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoption gerichtet ist“.

2) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom, 1991.

3) Nassauer, Otfried u.a.: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin, 1994.

4) Das Strategische Konzept des Bündnisses, Washington, 1999, Abs. 31.

5) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 11.

6) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 15.

7) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 24.

8) The National Security of the United States of America, Sept. 2002, S. 7.

9) The National Security…, Vorwort und S. 7

10) Hippler, Jochen, Die unilaterale Versuchung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2003, S. 818 ff.

11) The National Security…, S. 15, 13, 22.

12) The National Security…, S. 14.

13) The National Security…, S. 6, 42.

14) The National Security…, S. 25 f.f

15) Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 9.

16) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

17) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9f.

18) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

19) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7.

20) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 10.

Dr. Alexander Neu, Politologe, Mitglied der W&F Redaktion

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/2 Lateinamerika im Umbruch?, Seite