W&F 2003/1

US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen

Bushs Nationale Sicherheitsstrategie

von Jürgen Wagner

Von dem Zeitpunkt an, als George F. Kennan 1947 unter dem Pseudonym »Mr. X« in der Zeitschrift Foreign Affairs die Grundlagen der Containment-Politik darstellte, verschrieb sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten vorwiegend einem Ziel: Der Eindämmung der Sowjetunion. Nachdem die USA aus der Blockkonfrontation als einzige Supermacht hervorgingen, galt es diese Strategie an die neuen Bedingungen anzupassen. Die Suche nach einer Nachfolgedoktrin begann.
Seit 1986 ist der US-Präsident per Gesetz (»Goldwater-Nichols Act«) dazu verpflichtet, den Kongress detailliert über den künftigen Kurs der US-Außenpolitik zu unterrichten. Während frühere Versuche, eine »Grand Strategy« für die Zeit nach dem Kalten Krieg zu entwerfen, fehlschlugen, soll nun die vom US-Präsidenten am 20. September 2002 vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), besser bekannt unter dem Namen Bush-Doktrin, der große Wurf sein.1

Die neue »Grand Strategy«?

Auffällig ist zunächst einmal, dass die NSS eindeutig die Handschrift jener Neokonservativen Hardliner um Vizepräsident Dick Cheney und den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz trägt, die schon seit Jahren für eine hegemoniale, auf militärische Stärke und deren Anwendung setzende US- Außenpolitik plädieren. Trotzdem sehen nicht wenige in ihr die Nachfolgedoktrin des National Security Council Memorandums (NSC) vom April 1950, das seinerzeit die Containment-Politik offiziell einleitete und fortan von den außenpolitischen Eliten der USA weitgehend im Konsens verfolgt wurde.2

Der Grundgedanke der NSS besteht darin, die Zementierung der US-Hegemonie als neue Leitlinie der US-Außenpolitik zu etablieren. Hierfür integriert sie wichtige Aspekte der beiden dominierenden außenpolitischen US-Denkschulen: Die Verfolgung klassischer Machtpolitik und Interessenswahrung des Realismus findet sich in der NSS ebenso wieder, wie die im liberalen Internationalismus angelegte Forderung nach aggressiver Ausweitung von Demokratie und Marktwirtschaft. Gleichzeitig werden moderatere Elemente, wie die Forderung der »Realisten« nach einem zurückhaltenden Einsatz militärischer Gewalt oder die der »Internationalisten« nach stärkerer Ausrichtung auf multilaterale Kooperation, zugunsten einer konsequenten Verfolgung des eigenen Hegemonialanspruchs über Bord geworfen. „Im schlimmsten Fall“, so John Ikenberry, Professor für Geopolitik an der Georgetown University, geht es hier um „eine neoimperiale Vision, in der die Vereinigten Staaten für sich eine globale Rolle reklamieren: Standards festzulegen, Gefahren zu definieren, Gewalt anzuwenden und Gerichtsbarkeit auszuüben.“3 Dies ist aber lediglich die logische Folge dessen, dass die NSS den eingeschlagenen Weg der US-Außenpolitik konsequent zu Ende denkt, indem der Grundgedanke einer Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonialposition mit der hierfür notwendigen aggressiven außenpolitischen Doktrin flankiert wird.

Falls diese Prämisse breite Unterstützung findet, besteht das Hauptproblem nicht darin, dass eine kleine Gruppe von Hardlinern kurzzeitig die US-Außenpolitik dominiert, sondern darin, dass sich die Vereinigten Staaten damit auf Konfrontationskurs mit der restlichen Welt begeben haben. Gerade diese Polarisierung macht die NSS zu einem Dokument, das gründlich und grundsätzlich analysiert werden muss.

Der hegemoniale Konsens

Seit Charles Krauthammer Anfang der 90er den »unipolaren Moment« ausrief, der auf das Ende der Sowjetunion und dem damit verbundenen Aufstieg der USA zur einzigen Supermacht folgte, steht die Forderung nach einer Verewigung der US-Hegemonie im Zentrum des neokonservativen Denkens. Diese neue Aufgabe der US-Außenpolitik wurde in ihren Grundzügen schon vor 10 Jahren in der unter anderem von Cheney und Wolfowitz verfassten »Defense Planning Guidance« festgelegt. Seither zieht sich diese Prioritätensetzung wie ein roter Faden durch neokonservative Veröffentlichungen. So unterstrich eine Studie vom September 2000, an der neben Wolfowitz auch Lewis Libby, Cheneys Stabschef und weitere Mitglieder der Bush-Administration beteiligt waren, dass sich die gesamte US-Außenpolitik diesem Ziel unterzuordnen habe: „Derzeit sieht sich die USA keinem globalen Rivalen ausgesetzt. Die Grand Strategy der USA sollte darauf abzielen, diese vorteilhafte Position so weit wie möglich in die Zukunft zu bewahren und auszuweiten.“4

Den neokonservativen Präferenzen entsprechend übernimmt auch die NSS diese Forderung: „Der Präsident beabsichtigt nicht, es irgendeiner anderen ausländischen Macht zu erlauben, den gewaltigen Vorsprung, der sich den USA seit dem Kalten Krieg eröffnet hat, aufzuholen.“5 Der Rest des Dokumentes dient primär der Umsetzung dieses Zieles.

Allerdings handelt es sich hierbei nicht allein um ein Projekt der äußersten republikanischen Rechten. Nahezu die komplette außenpolitische US-Elite teilt die Auffassung, die US-Strategie müsse sich darauf konzentrieren, keinen ebenbürtigen Rivalen zuzulassen. So war die Bewahrung der US-Vormachtstellung auch unter Clinton das maßgebliche Ziel seiner Außenpolitik.6

Aufgrund der gemeinsamen Prämisse verwundert es nicht, dass es sich bei der NSS „um die konsequente Fortschreibung längst vorhandener respektive sich seit langem abzeichnender Konzeptionen handelt,“7 die auf viele operative Elemente aus der Clinton-Zeit zurückgreift. Allerdings war eine Hauptkritik an Bushs Vorgänger, diese Einzelelemente nicht konsequent zu einem kohärenten Ansatz zusammengefügt zu haben, der sich klar an der Verfolgung von Washingtons Hegemonialanspruch orientierte. Dies mündete in den Vorwurf des »halbherzigen Hegemons« bzw. des »widerwilligen Sheriffs«. Die NSS soll genau diesen Makel beheben und die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit schließen.8

Vom »Containment« zur »Pax Americana«

Galt die bloße Forderung nach einer dauerhaften Vormachtstellung lange als undenkbar, ist sie heute überall zu vernehmen. Als Rechtfertigung dient die Aussage, ein unipolares System mit den USA an der Spitze sei die beste Möglichkeit kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aufgrund der permanenten staatlichen Interessenskonflikte drohe ansonsten immer die Gefahr einer militärischen Verregelung von Konflikten oder einer erneuten Blockkonfrontation. Jeder relative Machtverlust vergrößere die Bedrohung der USA und müsse deshalb unter allen Umständen verhindert werden. Dieses Ringen um eine »dauerhafte Vormachtstellung« bedingt den ständigen Ausbau der militärisch-ökonomischen Führungsposition und mündet in der Forderung nach einer »Pax Americana« bzw. eines US-Imperiums. Gleichzeitig wird damit versucht, eine im wesentlichen egoistische Politik als pazifizierendes Element der Weltpolitik umzudeuten, an dessen Verfolgung allen Staaten gelegen sein sollte.9

Schon lange vor dem 11. September benannte ein neokonservatives Grundlagenpapier die »Pax Americana« als strategisches Ziel der US-Politik und beschrieb die hierfür notwendigen militärischen Aufgaben (vgl. Tabelle).

Die auffällige Verknüpfung realistischer und internationalistischer Komponenten ist auch zentraler Bestandteil der NSS und zeigt, dass die wesentlichen Elemente der neuen Doktrin sich nicht unmittelbar auf die New Yorker Anschläge beziehen: „Das übergreifende Ziel dieser Strategie ist nicht der Kampf gegen terroristische Gruppen oder Staaten, sondern Erhalt und Ausbau der Ungleichheit zwischen Amerika und dem Rest der Welt und die Vollendung der weltweiten Durchsetzung des amerikanisch dominierten Modells.“11 Der »Kampf gegen den Terror« liefert den Vorwand für die Umsetzung dieser imperialen Strategie und gibt zudem die militärischen Antworten, wie man mit den Folgen dieser Politik umgehen will.

»Full Spectrum Dominance«

„Wir sind wachsam gegenüber einer erneuten Großmachtkonkurrenz“, betont die NSS (S. 30). Um dies zu verhindern müsse das militärische Potenzial der Vereinigten Staaten „groß genug sein, um mögliche Gegner davon abzuhalten, in der Hoffnung die Macht der USA zu übertreffen oder einzuholen, eine militärische Aufrüstung anzustreben.“

Dieser Ruf nach permanenter militärischer Dominanz ist ein zentraler Baustein der US-Hegemonialpolitik. „Amerika sollte versuchen seine globale Führungsposition durch die Übermacht seines Militärs zu bewahren und auszuweiten,“ verkündeten die Neokonservativen schon vor ihrem Einzug ins Weiße Haus.12

Allerdings wurde schon unter Clinton die Doktrin der »Full Spectrum Dominance« erarbeitet. Amerika solle die Dominanz über jeden erdenklichen Gegner auf allen möglichen Schlachtfeldern erlangen, so die bereits 1996 veröffentlichte Joint Vision 2010. Die NSS (S. 29) betont zudem die Bedeutung einer »Vorwärtspräsenz« in „strategisch vitalen Regionen“, was im Einklang mit der nun begonnenen radikalen Ausweitung US-amerikanischer Truppenstationierungen in der kaspischen Region und wohl auch bald am Persischen Golf steht.

Gleichzeitig wird ein Legitimationskonstrukt entworfen, das der Anwendung dieses Potenzials nahezu einen Blankoscheck erteilt.

Proliferation, Präemption und Krieg auf Verdacht

Laut NSS (S. 6) ist die Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln (Proliferation) nun das handlungsleitende Prinzip der US-Regierung: „Unsere unmittelbare Aufmerksamkeit wird sich auf die Terrororganisationen globaler Reichweite und […] staatliche Unterstützer des Terrorismus richten, die versuchen Massenvernichtungsmittel zu benutzen oder an deren Vorläufer zu gelangen.“ Angeblich hätten die Anschläge des 11. September belegt, dass die traditionellen Ansätze – Abschreckung, Eindämmung und Rüstungskontrolle – nach dem Kalten Krieg nicht mehr greifen würden: „Abschreckung, die allein auf einer Drohung mit Vergeltung basiert, funktioniert kaum gegen Führer von Schurkenstaaten, die eher bereit sind Risiken einzugehen.“ (NSS, S. 15) Zusätzlich sei die Möglichkeit einer Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln an Terroristen nicht tolerierbar, weshalb die NSS (S. 6) fordert, die „Gefahr zu beseitigen, bevor sie unsere Grenzen erreicht“, indem die USA „nicht zögern werden, wenn notwendig auch allein, durch präemptives Handeln ihr Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.“

Während die US-Regierung von Präemption spricht, was eine vom Völkerrecht gedeckte militärische Reaktion auf einen nachweislich und unmittelbar bevorstehenden Angriff darstellt, ist in Wirklichkeit Prävention, die Vorbeugung möglicherweise künftig entstehender, keineswegs sicher auftretender Gefahren gemeint. Dies ist jedoch ein klarer Bruch des Völkerrechts und die faktische Beendigung staatlicher Souveränität.

Gerade in dem als Präzedenzfall vorgesehenen Angriffskrieg gegen den Irak wird deutlich, da eine irakische Aggression wohl kaum bevorsteht, dass er als eine präemptive Aktion nach gängigem Verständnis nicht zu rechtfertigen ist. Auch der US-Regierung scheint dieser Widerspruch bewusst zu sein.Deshalb fordert sie in der NSS (S. 15), das „Konzept unmittelbar bevorstehender Gefahren an die Ziele und Möglichkeiten heutiger Gegner anzupassen.“ Das Beispiel Irak zeigt auch, dass Washington inzwischen der bloße Versuch an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, ja sogar der unbewiesene Verdacht, als Kriegsgrund ausreicht.

Zwar wird angegeben, nicht in allen Fällen präemptiv handeln zu wollen, allerdings vermisst man jegliche Kriterien dazu, wann solche Einsätze legitim sein sollen. „Würden die USA das Interventions- und Präventionsprinzip künftig durchgehend anwenden, so ergäbe sich angesichts einer stets vorhandenen latenten Terrorismusgefahr eine geradezu permanente Interventionslage, mit den entsprechenden Gefahren für die internationale Stabilität.“13 Der Anspruch, nahezu beliebig und frei von Restriktionen Staaten militärisch abstrafen zu können, ist offensichtlich und integraler Bestandteil einer »Pax Americana«. Manche Beobachter gehen sogar soweit, der Bush-Doktrin eine strukturelle Ähnlichkeit zur Breschnew-Doktrin zu attestieren, was sicher nicht völlig falsch ist.14

Das verweist auf eine destabilisierende Wirkung der NSS. Wenn die USA auf bloße Anschuldigung hin ein militärisches Eingreifen androhen, ist es wenig plausibel, wieso andere Staaten diese Herangehensweise nicht übernehmen sollten. Russlands explizit mit dem Verweis auf die Bush-Doktrin erfolgte Drohungen gegenüber Georgien zeigen hier die ersten fatalen Folgen. Um dem vorzubeugen dürfen laut NSS (S. 15) „Staaten Präemption nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen.“

Die Deutungsgewalt verbleibt aber alleinig in den Händen der einzigen Weltmacht, was wohl eines der entscheidenden Merkmale der neuen Doktrin ist. Während Abschreckung und Rüstungskontrolle lange Zeit auf Gegenseitigkeit beruhten, werden sie heute einseitig angewandt und um eine offensive Komponente ergänzt. So behält sich Washington das Recht vor – entgegen den Zusagen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages – sein Abschreckungspotenzial auf alle Ewigkeit zu behalten, nennt den gleichen Versuch anderer Staaten aber »nukleare Erpressung«. Während man selbst die Bio- und Chemiewaffenkonventionen verletzt, werden andere Länder ohne Beweise angeklagt solche Waffen zu entwickeln und ihnen deswegen militärische Konsequenzen angedroht. Das Prinzip gegenseitiger Abschreckung kann nicht geduldet werden, da Washington ansonsten seinen Kontrollanspruch in wichtigen Regionen aufgeben müsste.

Die Freiheitsdoktrin

Was Clinton mit seiner 1993 veröffentlichten »Strategy of Enlargement« recht war, ist der Bush-Administration nur billig. Damals wie heute wird versucht die aggressive Ausweitung des neoliberalen Systems als Förderung demokratischer Werte zu verkaufen. Tatsächlich geht es aber nicht darum, Länder zu demokratisieren, sondern sie dazu zu veranlassen, sich an die wichtigsten Spielregeln des kapitalistischen Systems zu halten. Deshalb fordert die NSS (S. 21f.) „Gesellschaften für Handel und Investitionen [zu] öffnen. […] Freie Märkte und freier Handel sind Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheitsstrategie.“ Die Ausweitung „demokratischer Zonen des Friedens“ wird hierbei für die US-Strategen zur „militärischen Aufgabe“ (vgl. Tabelle).

Insbesondere seit den Anschlägen des 11. September wird in Sicherheitskreisen eine hierauf abzielende »Freiheitsdoktrin« diskutiert. Diese erfordere „die Eliminierung der gegen die Freiheit gerichteten Kräfte, seien es Individuen, Bewegungen oder Regime. Danach kommt die Konstruktion pro-freiheitlicher Kräfte. […] Schließlich kommt die Etablierung von Regierungen, die die Freiheit ihrer eigenen Bevölkerung ebenso schätzen und schützen, wie dies die Vereinigten Staaten tun.“ Dies sei ein Konzept, das Realisten und Internationalisten, „Woodrow Wilson und Ronald Reagan begrüßen würden“.15

Die Bush-Doktrin rechtfertigt das, indem die »aggressive Demokratisierung« zu einem nationalen Sicherheitsinteresse erhoben wird. Autoritär regierte, fehlgeschlagene Staaten seien selbst dafür verantwortlich, wenn in ihrem Land Terrorismus gedeihe. Das vorgebliche Ziel Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft zu bringen, wird bei Nichterreichen zu einer Gefahr für die USA, der auch klassische Realisten begegnen müssen. Aus diesem Grund sei beispielsweise die »demokratische Transformation« des Mittleren Ostens zwingend notwendig.16

In einer Neuauflage des »humanitären Interventionismus« der 90er Jahre wird hiermit ein weiterer Kriegsgrund etabliert, der die Möglichkeit eröffnet, Staaten gewaltsam in das US-Interessen befördernde Weltsystem einzubinden. Zudem reagiert man auch auf die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus, wie auch der Kontrollpolitik in Schlüsselregionen, indem die hierdurch entstehenden, Terrorismus befördernden Spannungen und sozialen Verwerfungen den Staaten selbst in die Schuhe geschoben und als Kriegsgrund gewertet werden. Der vom Westen verwaltete Terrorstaat, wird zur logischen Folge von Neoliberalismus und Kontrollanspruch.

Das Paradox der Hegemonie

Schon Clinton verkündete 1994 er werde die nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten wenn nötig auch im Alleingang verfolgen. Die NSS (S. 1) erneuert diesen Anspruch, indem sie einen „ausgeprägten amerikanischen Internationalismus“ verkündet, der letztlich darauf hinausläuft, nur dann auf Kooperation zu setzen, wenn diese eindeutig US-Interessen befördert. Im Umkehrschluss hat die Bush-Administration ihre Bereitschaft, hinderliche Vereinbarungen aufzukündigen, mehr als einmal unter Beweis gestellt. Auch das ist eine deutliche Zuspitzung schon lange vorhandener Tendenzen.

Genau an diesem Punkt setzen die meisten Kritiker der Bush-Doktrin an. Sie befürchten, die allzu rigorose Durchsetzung eigener Interessen untergrabe die Legitimität des US-Führungsanspruchs. Ohne Rücksichtnahme auf Verbündete und einer wenigstens ansatzweisen Einhaltung internationaler Verbindlichkeiten werde sich die USA zunehmend isolieren und sich neue Gegner schaffen. Auch werde sie Schwierigkeiten haben, die Vielzahl ihrer Interessen im Alleingang zu sichern.17

So richtig diese Kritik ist, verwischt sie doch den fundamentalen Bedingungszusammenhang zwischen Hegemonialanspruch und der hierfür zwingend notwendigen imperialen Politik. Denn ein hegemoniales System ist eben keineswegs die »gütigste Ordnungsform« (Robert Kagan) sondern basiert im Gegenteil auf einer ausbeuterischen Dominanz, die Ungleichheit zementiert und Konflikte verschärft statt vermeidet. Es gibt ihn nicht, den »wohlwollenden Hegemon«, da sich dieser letztlich das eigene Grab schaufelt. Eine konsequente Beachtung internationaler Vereinbarungen, gar ein Ausbau rechtlicher Strukturen, würde den graduellen Aufstieg anderer Mächte mit sich bringen, damit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener politischer und ökonomischer Interessen entgegenstehen und so den Verlust der eigenen Hegemonialposition nach sich ziehen.

Die Verfolgung einer imperialen Strategie verbleibt so als einzige Handlungsoption, nimmt man den Anspruch auf Verewigung der US-Hegemonie ernst.

Allerdings „gibt es ein Problem mit der rosigen Vision einer »Pax Americana«; sie wird nicht funktionieren.“18 Das Paradox der Hegemonie liegt darin, dass eine rigorose Interessenspolitik den imperialen Niedergang beschleunigt:

  • Die Bestrebungen, anti-hegemoniale Allianzen zu bilden, werden proportional zur Rücksichtslosigkeit der US-Außenpolitik zunehmen.
  • Der Verbreitung von Massenvernichtungsmittel wird durch die permanente Androhung militärischer Gewalt massiv Vorschub geleistet.
  • Die mit der Verbreitung des Neoliberalismus einhergehende Verarmung weiter Teile der Welt führt im Inneren zu Verteilungskonflikten, die oft als ethnische Spannungen interpretiert werden und zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung von außen »befriedet« werden müssen. Verbunden mit der notwendigen Kontrolle von Schlüsselregionen wird hiermit der Nährboden für terroristische Gruppen bereitet, die beabsichtigen, der alles dominierenden Weltmacht mit asymmetrischen Mitteln schweren Schaden zuzufügen.
  • Je imperialer sich Washingtons Außenpolitik gibt, desto vielfältiger werden die militärisch zu wahrenden Interessen. Dies führt nicht nur zu zahlreichen Konflikten, sondern auch zu imperialer Überdehnung aufgrund der Fehlakkumulation von Ressourcen durch Überinvestition in den militärischen Bereich.

„Die Pax Americana ist vorüber“, urteilt Immanuel Wallerstein. „Die Herausforderungen in Vietnam, auf dem Balkan, im Mittleren Osten bis hin zum 11. September haben die Grenzen amerikanischer Vorherrschaft offenbart. Werden die USA lernen, ruhig schwächer zu werden, oder werden die US-Konservativen sich widersetzen und dabei einen graduellen Niedergang in einen schnellen und gefährlichen Absturz verwandeln?“19

Nur eine Abkehr von dem alles beherrschenden Gedanken, ewig alleine die Spitze halten zu wollen – im Optimalfall sogar der Entschluss, die augenblickliche Position für den Aufbau einer auf Gleichheit basierenden internationalen Ordnung zu nutzen – wird schwere Konflikte verhindern können. Ein Gedanke, für den sich in Washington – nicht nur unter den Neokonservativen – augenblicklich kaum jemand zu erwärmen scheint.

Anmerkungen

1) The National Security Strategy of the United States of America, The White House, 17.09.02.

2) Schwarz, Klaus-Dieter: Amerikas Mission, SWP Aktuell 38, Oktober 2002, S. 1.

3) Ikenberry, John G.: America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, September/October 2002, S. 44-60, S. 44; vgl. auch Hendrickson, David C.: Toward Universal Empire, World Policy Journal, Vol. XIX, No 3, Fall 2002, S. 1-10.

4) Rebuilding America’s Defenses. A Report of The Project for the New American Century, September 2000, S. II; Vgl. auch Wolfowitz, Paul: Remembering the Future, in: The National Interest (No. 59), Spring 2000.

5) Interessanterweise wurde dieser Satz kurz vor der Veröffentlichung noch aus dem Dokument entfernt. Vgl. Press Briefing by Ari Fleischer, Office of the Press Secretary, 20.09.02.

6) Vgl. Schwarz, Klaus-Dieter: Weltmacht USA, Baden-Baden 1999; Rudolf, Peter: ,A Distinctly American Internationalism’, in: IPG, 2/01, S. 127-138.

7) Rose, Jürgen: Die Schlacht zum Feind tragen, Freitag, Nr. 42/02.

8) Vgl. Tucker, Robert: The End of a Contradiction?, in: In The National Interest, Vol. 1, Issue 1, 09.09.02.

9) Vertreter dieser Auffassung gibt es viele. Im akademischen Bereich fand folgender Aufsatz die größte Beachtung: Wohlforth, William C.: The Stability of a Unipolar World, in: International Security, Vol. 24, No. 1 (Summer 1999), S. 5-41.

10) Rebuilding America’s defenses, S. 14.

11) Rilling, Rainer: ’American Empire’ als Wille und Vorstellung, RLS Standpunkte, 9/02, S. 4.

12) Rebuilding America’s defenses, S. IV.

13) Kamp Karl-Heinz: The National Security Strategy, KAS, 25.09.02.

14) Magolis, Eric: A war only the White House wants, Toronto Sun, 25.08.02; Rilling a.a.O., S. 6.

15) McFaul, Michael: The Liberty Doctrine, in: Policy Review, April-May 2002.

16) Vgl. Gaddis, John L.: A Grand Strategy, in: Foreign Policy, November/December 2002, S. 50-57; Podhoretz, Norman: In Praise of the Bush Doctrine, in: Commentary Magazine, September 2002.

17) Vgl. bspws. Nye, Joseph S. Jr.: The American national interest and global public goods, in: International Affairs, vol. 78, no. 2 (2002), S. 233-244.

18) Mearsheimer, John J.: Hearts and Minds, in: The National Interest, No. 69 (Fall 2002).

19) Wallerstein, Immanuel: The Eagle has Crash Landed, in: Foreign Policy, July/August 2002, S. 60-68, S. 60.

Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Mitlitarisierung (IMI e.V.). Er bearbeitet dort den Schwerpunkt US-Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Das ewige Imperium: Die US-Außenpolitik als Krisenfaktor.“

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/1 »Präventiv«kriege, Seite