W&F 2000/1

Utopie im ausgehenden 20. Jahrhundert

von Hans Holzinger

Die Gesellschaften – beziehungs-weise politische Systeme – sind am friedensstabilsten, in denen die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung, Kleidung (Umwelt- und Sozialraum) befriedigt werden, in denen zumindest ansatzweise Verteilungsgerechtigkeit herrscht und in denen die individuellen und politischen Grundrechte gewährleistet sind. Die Knappheit an Nahrung, Wasser und Raum (Afrika, teilweise Südasien), die Nicht-Einlösung von Wohlstandserwartungen und daraus resultierende politische Krisen (etwa Russland) sowie der Zugang zu den knapper werdenden Industrie-Ressourcen wie Erdöl (etwa USA) können zu Kriegsgründen im 21. Jahrhundert werden, wenn es nicht gelingt, das Leitbild einer ökologisch und sozial nachhaltigen Entwicklung umzusetzen.

Die Vereinten Nationen erinnern neuerdings mit ganzseitigen Inseraten in grossen Tageszeitungen an die Armut in der Welt: „Alle 3 Sekunden stirbt ein Kind. Weltweit sind 1,3 Milliarden Menschen unmittelbar betroffen. Jedes Jahr kommen weitere 25 Millionen Opfer hinzu“, so heißt es im Anzeigentext. „Extreme Armut hindert ein Fünftel der Weltbevölkerung daran, vorhandene Talente zu nutzen und eigene Fähigkeiten zu entfalten.“ (zit. n. Salzburger Nachrichten, 23.9.99).

In der selben Zeitung beruhigt eine Bank ebenfalls in einem Inserat ihre AnlegerInnen: „Unbegründete Angst vor steigenden Rohstoffpreisen. Unter dem Zwang, mehr Deviseneinnahmen zu generieren, werden die Entwicklungsländer bereits in naher Zukunft damit beginnen, devisenbringende Rohstoffe zu praktisch jedem Preis zu verkaufen. Damit erwarten wir auf mittlere Frist eine markante Korrektur der Rohstoffpreise und, in der Folge, tiefere Kapitalmarktsätze in den Industriestaaten. Diese Korrektur wird für zinssensitive Titel sehr positiv sein.“ Präziser lässt sich die strukturelle Gewalt in der gegenwärtigen Weltgesellschaft wohl nicht fassen.

Doch auch im reichen Teil der Welt zeigen sich Risse. Wachsenden Gewinnen an den Börsen stehen eine sich hartnäckig verfestigende Arbeitslosigkeit und die Rückkehr der »Dritten Welt« in die Metropolen der »Ersten« gegenüber. Volle Regale in den Supermärkten und Einkaufszentren, den neuen Tempeln des säkulären Zeitalters, korrespondieren mit zunehmender Vereinsamung, psychischen Erkrankungen und Suiziden. Eine »Ideologie der Knappheit« suggeriert, wir hätten noch immer zu wenig, wir müssten uns noch mehr anstrengen im weltweiten Konkurrenzkampf um Standortvorteile.

Wer zu spät kommt,
den bestraft der Markt

Ängste vor dem Nicht-Mehr-Mithalten-Können, eine um sich greifende Ellbogen-Mentalität – für Thea Bauriedl (1999) der eigentliche Rechtsruck unserer Gesellschaft –, Sinnverlust im Taumel einer oberflächlichen Waren- und Entertainmentwelt – all das sind moderne Befindlichkeiten in unseren Wohlstandsländern, die kanalisiert werden in Schreckgebilden wie der »Globalisierung« mit den uns »beherrschenden« multinationalen Konzernen, dem »ökologischen Weltuntergang«, dem wir zusteuerten, oder – regressiver und gefährlicher – im Wiederauflammen eines dumpfen Ausländerhasses und Rassismus.

Die Jahrtausendwende beflügelt die modernen Weissager der »Zukunftsbranche«: Technikfaszination und Machbarkeitswahn bestimmt die einen (versprochen werden uns viereckige Gentomaten, Fabriken für menschliche Körperteile oder Fernreisen auf den Mond – es soll schon erste Buchungen geben), eine gefährliche Mischung von religiös-esoterisch, bisweilen auch mythisch verbrämten Weltuntergangsphantasien die anderen.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute?

Die Utopie als geschlossener Gesellschaftsentwurf ist gestorben. Dies bestätigt auch der wohl einzige Utopieforscher in Deutschland, Richard Saage (1997). Er spricht von postmaterialistischen und postmodernen Utopien, von Ausformungen eines anderen Lebens, Wirtschaftens, Arbeitens in Nischen. Diese Pluralisierung individueller Lebensentwürfe macht jedoch die Reflexion über das Wohin und Wozu des Ganzen nicht obsolet.

Wo liegen die utopischen Potenziale heute? Ich sehe drei Bereiche: All jene Versuche alternativer Lebens-, Wohn- und Wirtschaftsformen – der Journalist Ulrich Grober (1998) beschreibt Beispiele hierfür in »Ausstieg in die Zukunft« – stellen wichtige Inseln der Differenz dar die zeigen, dass alternative Zukunftsentwürfe nicht nur gedacht, sondern auch gelebt werden können. Denn Christa Wolf (1998) beklagt zu Recht, dass die Verzweiflung vieler von unserem »Fortschritt« abhängiger Menschen daher komme, „dass sie, die ihr materielles Leben nicht aufs Spiel setzen wollen, nicht die Spur einer Alternative sehen.“ Die Ansätze, unabhängiger vom Geld- und Marktsystem zu leben, haben daher mittelbar oder unmittelbar auch politische Kraft, die etwa in der Subsistenzperspektive von Veronika Bennholdt-Thomsen u.a. (1999) als weltweite Widerstandskulturen gegen den globalisierten Markt verstanden werden.

Nachhaltigkeit als Leitbild

Zum Zweiten finden sich in allen Diskussionen, Versammlungen, Runden Tischen und Kampagnen, die mit der Nachhaltigkeitsdebatte einhergehen, Vorstellungen und Leitbilder realutopischen Gehalts. In Büchern wie »Zukunftsfähiges Deutschland« (1996) oder auch »Nachhaltiges Deutschland« (1997), den mittlerweile vielen Ergebnissen von Agenda 21-Prozessen sowie den ersten »Handbüchern« für einen nachhaltigen Lebensstil (Ferenschild u.a., 1998; Jakubowicz, 1999) werden real mögliche Veränderungen auf individueller und politischer Ebene thematisiert. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft und sozialen Sicherung (Strasser, 1999), überlegterer Konsum, ein neuer Umgang mit Zeit sowie lokale Verortung (Muschg, 1998; Krippendorff, 1999) spielen dabei eine wichtige Rolle. Über diese Konzepte wird auch der Gerechtigkeits- und Verteilungsaspekt des Nachhaltigkeitsprinzips angesprochen.

Verteilungsgerechtigkeit
in der Weltgesellschaft

Dies führt zum dritten Strang der »Utopien von einer gerechteren Welt«, die im lauten Getöse des Redens von der Weltgesellschaft leider allzu oft untergehen. Dazu zählen die Bemühungen etwa des UNDP mit seinen aufrütteln wollenden jährlichen »Berichten zur menschlichen Entwicklung« (zuletzt 1999) ebenso wie der Vorschlag der Gruppe von Lissabon (1997) für einen »globalen Gesellschaftsvertrag«, dem gemäß der Ausstattung aller Menschen mit den Basisleistungen Priorität eingeräumt werden solle (etwa Wasserleitungen vor Internet-Kabeln). Die theoretische Grundlage hierfür liefert der Ansatz der grundbedürfnisorientierten Ökonomie, wie er etwa von Hermann Daly (1999) entwickelt wurde und der zwischen den begrenzten »needs« und den scheinbar unbegrenzten »wants« unterscheidet.

Auch wenn diese Konzepte voluntaristischen Charakter haben – die prägende Zukunftskraft ist derzeit der Markt, das zentrale Steuerungsmedium Geld beziehungsweise Profit – , so halten sie doch den moralischen Anspruch auf eine gerechtere Welt aufrecht. Ihre Umsetzung bedarf freilich der Materialisierung in Form konkreter Verträge, fairer Handelsabkommen, aber auch gewerkschaftlicher Kämpfe in den Ländern des Südens um fairen Lohn. Die ökologischen Nutzungsrechte und -grenzen (Kontingentierungen) bedürfen konkreter globaler Vereinbarungen. Das Abkommen zum Schutz der Ozonschicht ist hier ein erfolgreiches, jenes zur Begrenzung des Treibhauseffektes ein – zumindest bislang – wenig erfolgreiches Beispiel.

Eine Globalisierung, die die »Grundbedürfnisstrategie« ins Zentrum ihrer Bemühungen rückt, der Aufbau pluraler Ökonomien, in denen sich Weltmarktintegration und lokale Versorgungsstrukturen ergänzen – ebenso wie Lohnarbeit und Subsistenz sowie das Leitbild sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wären demnach die Grundpfeiler für eine zukunftsfähige Entwicklung im nächsten Jahrtausend.

Literatur

Bauriedl, Thea (1999): Vom Wissen zum Handeln. Wege und Widerstände. In: Nachhaltig – aber wie? Hg. von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen. Salzburg (im Erscheinen).

Bennholdt-Thomsen, Veronika u.a. (1999, Hg.): Das Subsistenzhandbuch. Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerika. Wien, Promedia.

Daly, Hermann (1999): Wirtschaft jenseits von Wachstum. Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung. Salzburg, Pustet-Verlag.

Ferenschild, Sabine u.a. (1998, Hg.): Weltkursbuch – Globale Auswirkungen eines »Zukunftsfähigen Deutschlands«. Berlin u.a., Birkhäuser.

Grober, Ulrich (1998): Ausstieg in die Zukunft. Eine Reise zu Ökosiedlungen, Energie-Werkstätten und Denkfabriken. Berlin, Chr. Links-Verlag.

Gruppe von Lissabon (1997): Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit. München, Luchterhand.

Jakubowizc, Dan (1999): Genuss und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. Wien, Promedia.

Krippendorff, Ekkehart (1999): Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Muschg, Adolf (1998): Die neue Beliebigkeit – ein unglaublich trübes Medium. In: Was kommt von Links. Hg. v. Jochen Reinert. Wien, Promedia.

Saage, Richard (1997): Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt, Primus.

Strasser, Johano (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Zürich, Pendo.

Wolf, Christa (1999): Hierzulande. Andernorts. München, Luchterhand.

MA Hans Holzinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg, und Mitherausgeber der Zeitschrift »Pro Zukunft«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite