W&F 2003/3

Veränderte Gewaltformen im Schatten der Globalisierung

von Peter Lock

Der Krieg gegen den Irak lenkt davon ab, dass wir uns derzeit in einer Phase der Weltentwicklung befinden, in der jene Formen von Kriegen zum Auslaufmodell werden, für die durch das Völkerrecht im letzten Jahrhundert Regeln entwickelt wurden, um sie einzuhegen. Dies nicht etwa, weil ein weltweiter Trend zu weniger gewalttätiger Konfliktaustragung zu beobachten wäre. Meine Thesen lauten vielmehr, dass erstens die Vereinigten Staaten als unangefochtene militärische Hegemonialmacht ubiquitär und präventiv Gewaltmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen im Rahmen des so genannten Krieges gegen den Terror einzusetzen beabsichtigen. Damit wird eine Politik installiert, die Krieg als abgrenzbare Kategorie aufhebt. Zweitens, auch die immanente Logik der viel zitierten »neuen Kriege«, die als ein Element der Schattenglobalisierung fungieren, spricht für eine Diffusion kriegerischer Gewalt in »regulative Gewalt« zur Steuerung (wirtschafts-)krimineller transnationaler Netzwerke, die als Spiegel des neoliberalen Globalismus sich zur wahrscheinlich dynamischsten Sphäre der globalen Ökonomie entwickelt haben. Im Ergebnis kommt es zu einer Deterritorialisierung der kriegerischen Gewaltlogik und damit zur Auflösung des klassischen Erscheinungsbildes Krieg. Gleichzeitig wird die Gewalt in den weltweit wachsenden Zonen sozialer Apartheid das dominante Mittel sozialer und wirtschaftlicher Regulation.
Im Weltbild unserer aufgeklärten Modernität erscheint Krieg als moralischer Störfall in einem global integrierten System, das mit internationaler Gemeinschaft oder Weltgesellschaft bezeichnet und als verantwortungsethische Einheit definiert wird. Daraus leitet sich ein moralischer Imperativ für die internationale Staatengemeinschaft ab, derartigen Störungen kollektiv zu begegnen. Da zwischenstaatliche Kriege inzwischen zur Ausnahme geworden sind und innergesellschaftliche bewaffnete Konflikte überwiegen, bedeutet dies nach dem Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen Aufhebung des »Dogmas« der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eine Ausweitung friedensschaffender und friedenserhaltender Einmischungen in innergesellschaftlich ausgetragene Konflikte. Es hat sich eine neue Abwägung der Rechtsgüter staatliche Souveränität und Menschenrechte durchgesetzt, die mit der Schaffung des internationalen Strafgerichts auch einen institutionellen Ausdruck gefunden hat.

Zur ersten Hypothese

In der politischen Realität wird dieser moralische Imperativ, mit Taten für Menschenrechte einzutreten, jedoch nicht eingelöst. Interventionen, auch wenn sie das Etikett humanitär tragen, bleiben an Interessen (militärisch) leistungsfähiger Staaten gebunden. Im Falle Ruandas fehlte es z.B. an Interessiertheit in Staaten, die einzig in der Lage gewesen wären, militärisch zu intervenieren, um den Genozid aufzuhalten.

Mit der amerikanischen Wende nach dem 11.September zum erklärten Krieg gegen den Terror sind Grenzziehungen zwischen Krieg und Frieden endgültig aufgehoben worden. Es ist einer enormen Beschleunigung der amerikanischen Doktrinentwicklung nach diesem Einschnitt geschuldet, dass nunmehr amerikanische Interessenwahrnehmung sich offen aller bestehender völkerrechtlichen Schranken entledigt. Diese Ausrichtung war bereits angelegt und fand in der grundsätzlichen Ablehnung der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes bereits lange vor 2001 ihren Ausdruck. Eine Regierung, die die Verletzung völkerrechtlicher Regeln zur Wahrnehmung nationaler Interessen gegebenenfalls für geboten hält, muss die von ihr beauftragten Exekutoren solcher Verletzungen logischerweise vor Strafverfolgung schützen.

Die Logik des Krieges gegen Terror beinhaltet eine nahezu absolute Selbstermächtigung der Exekutive. Der in dieser Bedrohungsideologie vorgestellte, weitgehend unsichtbare Gegner kennt keine Handlungsschranken, er ist in Zeit und Raum omnipräsent, keine Gewalthandlung des Gegners kann ausgeschlossen werden. In dem Maße, in dem die Figur der terroristischen Bedrohung als politische Ressource des Machterhalts missbraucht wird, gewinnt sie rasch totalitäre Dimensionen. Die neu gegründete Superbehörde für Heimatverteidigung in den USA mit extensiven Befugnissen in Verbindung mit dramatisch expandierenden Aufklärungsdiensten bieten bereits einen Vorgeschmack auf Anmaßungen der Exekutive. Sie löst Erinnerungen an das Projekt »formierte Gesellschaft« aus, dem Versuch obrigkeitsstaatliche Kontrolle am Ende der Adenauerepoche in der Bundesrepublik zu etablieren, mit der die Restauration der fünfziger Jahre verstetigt werden sollte.

In dieser autosuggestiven Logik nimmt der Krieg gegen den Terror beliebige, machtpolitisch opportune Gestalten an, deren reale Existenz niemals falsifizierbar ist. Für defensive Strategien fehlt es an deutlichen logistischen Spuren des terroristischen Gegners. Aus der imaginierten totalitären Bedrohung ergibt sich systemisch der Zwang, auch die (Selbst-)Verteidigung keinerlei Handlungseinschränkungen zu unterwerfen. Folglich erscheinen aggressive präventive Strategien als einzig mögliche und wirksame Verteidigung. Sie dürfen weder durch rechtsstaatliche Regeln noch durch Völkerrecht in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden. Der Krieg gegen den Terror läuft so auf eine asymmetrische, gewalttätige globale Machtpolitik hinaus, die jegliche territoriale Souveränität Dritter ignoriert. Sie bezieht ihre Legitimation aus einer normativen Suprematievermutung des amerikanischen Staates und dessen Wertesystem. Dieser Krieg bleibt ohne Aufgabe seiner Prämissen ohne Ende und hebt sich bzw. die Figur des Krieges auf. Die angstbesetzte Logik des Feldherrn gegen den Terror legitimiert eine Eskalation niedrigstschwelliger präventiver Intervention, was tendenziell zu einer faktischen Demilitarisierung von Interventionsstrategien und der Verlagerung auf verdeckte Interventionen und den Einsatz privater Dienstleister, auch militärischer, zur präventiven Abwehr vermuteter Beeinträchtigungen amerikanischer Interessen führt.

Auch der Kalte Krieg basierte auf einer vergleichbaren ideologischen Figur. Der Gegner wurde als totalitärer Akteur gezeichnet. Aber im Gegensatz zum Krieg gegen den Terror besaß der Gegner das Merkmal Territorialität. Durch die Implosion bzw. Selbstauflösung der Sowjetunion konnte die Logik des Kalten Krieges beendet werden, ohne die Prämissen der eigenen Ideologie aufzugeben.

Es fällt schwer der gegenwärtigen amerikanischen Politik ökonomische Interessen einer hegemonialen Gruppe zuzuordnen. Die Widersprüche der aktuellen präventiven Interventionspolitik deuten daraufhin, dass diese Politik von Überlegungen des innenpolitischen Machterhaltes getrieben wird. Kriege scheinen vorrangig eine manipulative innenpolitische Ressource in den USA zu sein, jedenfalls entbehrt der Irakkrieg einer kohärenten Kapitallogik. Die amerikanische Inszenierung einer Kriegslogik paralysiert demokratische Diskurse auf nationaler und internationaler Ebene mit tiefgreifenden Folgen für die Entwicklung und Durchsetzung von Völkerrecht und die Rolle der Vereinten Nationen, sie schafft aber ein populistisches Klima für die Wiederwahl Bushs.

Im Hinblick auf den Irakkrieg gilt, dass die mediale Präsentation des Krieges seine eigentliche Qualität unterschlagen hat. Die demonstrierte asymmetrische Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte hat weltweit die Option einer militärischen Verteidigung gegen diese Übermacht entwertet. Die ungeheure Zerstörungskraft amerikanischer Gefechtsfeldwaffen in Verbindung mit nahezu totaler Aufklärung und Störung der gegnerischen Kommunikation schließen eine koordinierte militärische Gegenwehr am Boden nahezu aus. In den Druckwellen amerikanischer Bomben und Raketen sind Zehntausende irakischer Soldaten in ihren Verteidigungsstellungen umgekommen, bevor sie in das militärische Geschehen eingreifen konnten. Diese Dimension des Krieges war aus der medialen Präsentation ausgeblendet.

Berücksichtigt man weiterhin, dass weltweit das Steueraufkommen und damit die Möglichkeit, leistungsfähige modern gerüstete Streitkräfte zu unterhalten sinkt, so ergibt sich daraus, dass mittelfristig das amerikanische Kriegsführungspotenzial weltweit ohne militärisch relevante Gegnerschaft bleiben wird. Nur Massenvernichtungswaffen können u.U. die amerikanischen Truppen von einer Invasion abschrecken.

Noch einschneidender ist jedoch, dass in raschem Tempo in weiten Teilen der Welt die Elastizität, massiven Störungen der wirtschaftlichen Zirkulation zu widerstehen, rasch abnimmt. Es mag zynisch klingen, aber der Irak war einer der letzten Orte, an denen ein solcher Krieg inszeniert werden konnte. Das embargobedingte Lebensmittelprogramm der Vereinten Nationen hatte die irakische Gesellschaft geradezu ideal auf kriegsbedingte Störungen der zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln vorbereitet. Drei Monate Versorgung waren verfügbar und zum Teil bereits an die Endverbraucher verteilt, als die Kriegshandlungen begannen. Keine andere Gesellschaft in der »Dritten Welt« verfügt über eine vergleichbar hohe Elastizität des Überlebens bei massiven Störungen der Versorgung.

Urbanisierung und Zerstörung bäuerlicher Lebenswelten machen die Weltgesellschaft störungsanfälliger denn je. Die marginalisierten Massen in den Armutsgürteln der Megastädte der Welt dürften bei einer Unterbrechung ihrer fragilen Versorgungssysteme in kürzester Frist verhungern. Ländliche Fluchträume, in denen die Elastizität kleinbäuerlicher Wirtschaftsweise Überlebensmöglichkeiten bietet, gibt es kaum noch. Sie sind inzwischen weitgehend agrarindustriell strukturiert. Arme leben ein tägliches »just in time«, über Reserven verfügen sie nicht. Die Zentren moderner Megastädte brechen bei Störung selbst nur der Stromversorgung als Überlebensraum in wenigen Tagen zusammen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Welt kaum noch über Räume verfügt, in denen eine konventionelle militärische Konfrontation denkbar ist, ohne das Überleben der Zivilbevölkerung als mittelbare Folge von Kampfhandlungen in kurzer Zeit aufs Spiel zu setzen.

Der amerikanische militärisch-bürokratische Komplex hat dies längst erkannt. Er dient dem Kongress zwar noch eine billionenteure Modernisierung der konventionellen Streitkräfte zur dauerhaften Sicherung absoluter Überlegenheit an. Gleichzeitig jedoch bereitet er sich parallel seit vielen Jahren mit großem Forschungsaufwand auf MOOTW (military operations other than war) vor. Mit dem Ziel niedrigschwellig und präventiv amerikanische Interessen durchzusetzen, wird unter großer Geheimhaltung ein breites Spektrum von Störungsmitteln entwickelt, die überall einsetzbar sind, auch dort wo konventionelle Kriegsführung nicht mehr möglich ist. Zugleich steckt in diesen Störungsmitteln das Potenzial, offene kriegerische Gewalt seitens der USA überflüssig zu machen. Das Einsatzpotenzial dieses Arsenals wurde bei der Störung der serbischen Stromversorgung1 während des Kosovokrieges demonstriert.

Zur zweiten Hypothese

Die Merkmalsausprägungen gegenwärtiger Kriege werden zunehmend diffuser. Beginn und Ende markieren häufig keine wirklichen Zäsuren im Hinblick auf das Gewaltgeschehen. Das Gewaltniveau in einer Gesellschaft ist längst kein hinreichendes Merkmal für Krieg mehr. Das Kampfgeschehen trägt nicht selten erratische Züge. Humanitäre Hilfe als ein niedrigschwelliges Element der Einmischung wird vielfach in das Kriegsgeschehen integriert, und die Neutralität der Hilfsorganisationen wird faktisch bereits als Zugangsvoraussetzung aufgehoben.

Zudem gilt, dass sich die ökonomische Grammatik von Kriegen grundlegend gewandelt hat. Während der Zweite Weltkrieg, aber auch noch der Koreakrieg mit einer Ausweitung der Produktion und Mobilisierung brachliegender Ressourcen, Sklavenarbeit eingeschlossen, einhergingen, sind bewaffnete Konflikte der Gegenwart davon gekennzeichnet, dass wirtschaftliche Aktivitäten paralysiert und die Menschen arbeitslos werden, ihre Lebensgrundlagen verlieren und zu Flüchtlingen werden. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten verschwimmt, zugleich ist die Zivilbevölkerung bevorzugtes Ziel von Kampfhandlungen. Kriegsgefangene sind zur Ausnahme, Geiselnahme beinahe zur Regel geworden. Das Kriegsvölkerrecht bildet für die Akteure längst keine Handlungsschranken mehr.

Ein zentraler Befund neuerer Untersuchungen bewaffneter interner Konflikte lautet, dass kriegerische Gewalt zu erheblichen Teilen mit wirtschaftlichen Interessen erklärt werden kann, ja dass sogar langandauernde Kriege geradezu zu einer eigenständigen Produktionsweise mutieren, in der das kriegerische Geschehen von gewaltunternehmerischen Kalkülen bestimmt wird. Ein weiterer Befund ist, dass diese Kriegsökonomien nur funktionsfähig sind, wenn sie transnational vernetzt sind.

Verfolgen wir jedoch zunächst die Genese von Gewaltstrukturen. Weltweit befinden sich Staaten in einer tiefen Krise. Die Privatisierung von Sicherheit ist ein Spiegelbild des Zustandes von Staatlichkeit. Verbreitet werden öffentliche Güter, darunter auch Sicherheit, zur Ware, die individuelle Kaufkraft entscheidet über die Verfügbarkeit. Daher bedeutet Armut vor allem Unsicherheit. Die Erscheinungsformen der Auflösung von Staatlichkeit, wie sie durch wohlfahrtsstaatlich orientierte Postulate von Rechtsstaatlichkeit definiert ist, sind zwar verwirrend vielfältig, aber allen ist gemein, dass das staatliche Gewaltmonopol zugunsten eines breiten Spektrums privatisierter Organisation von Sicherheit sowohl innerhalb als auch außerhalb der geltenden Rechtsordnung aufgegeben wird. Im Sog neoliberaler Globalisierung verlieren Staaten in weiten Teilen der Welt zunehmend die Fähigkeit, Steuern zu erheben, und damit ihr ökonomisches Fundament. Im meist schleichenden Prozess der daraus folgenden Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols werden die Angehörigen des Staatsapparates sogar zu einer ständigen Bedrohung für große Teile der Zivilgesellschaft, da sie sich ihr Auskommen, und manchmal mehr, unter illegaler Ausnutzung ihres Status beschaffen. Gerät eine Gesellschaft in einen solchen Zustand, in dem die wirtschaftskriminell angeeignete Fassade von Staatlichkeit durch ihre Akteure einen Zustand allgemeiner Unsicherheit erzeugt, dann lösen sich auch zivilgesellschaftliche Regelsysteme auf und werden durch Selbstverteidigungsstrukturen ersetzt. Sie forcieren Identitätsideologien, auch auf der Mikroebene, die sich auf den Ausschluss anderer gründen. Entlang der so entstehenden innergesellschaftlichen Grenzen eskalieren Konflikte, die sich schließlich mit Waffengewalt entladen können.

Informalisierung und Kriminalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten bestimmen das Leben, wenn Identitätsideologien Platz greifen und an die Stelle einer einheitlichen staatlichen Rechtssphäre treten. Sie ersticken alle unternehmerischen Initiativen zur Selbsthilfe. Massive Migration ist regelmäßig das Resultat derartiger Entwicklungen. Die daraus resultierende Diaspora befördert transnationale Vernetzungen und bietet zugleich eine Infrastruktur für illegale Transaktionen unterschiedlichster Art. Die Lebenssphären illegaler MigrantInnen sind durch das staatliche Gewaltmonopol und rechtsstaatliche Instanzen des Gastlandes nicht geschützt, obwohl ihre Arbeitskraft ökonomisch ein fester Bestandteil der jeweiligen nationalen Ökonomien ist. MigrantInnen sind kriminellen Akteuren gegenüber schutzlos.

Die in Umrissen dargestellten Zustände in zerfallenden Staaten finden sich aber auch in sozialräumlich kleinen Einheiten innerhalb ansonsten leidlich funktionierender Staaten. Ob es sich um Ghettos sozial abgehängter Minderheiten in den Metropolen von Industrienationen, um die riesigen Armutsgürtel, von denen alle großen Millionenstädte in der »Dritten Welt« umgeben sind oder aufgegebene Industriestandorte in der ehemaligen Sowjetunion handelt, die Bewohner erfahren Staatlichkeit so, als lebten sie in einem zerfallenen Staat. Polizisten begegnen ihnen als gefährliche Feinde. Entsprechend bilden sich in derartigen »Exklaven der ökonomischen und sozialen Apartheid« den Kriegsökonomien ähnliche Strukturen heraus. Das Gewaltmonopol liegt meist bei nach dem Territorialprinzip organisierten Gangs. Schutzgelder treten an die Stelle von Steuern. Ein mit Gewaltandrohung erpresstes Schweigen gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsorganen entspricht der staatsbürgerlichen Loyalität.

Die Gesellschaft »draußen« ist für diese Menschen Ausland. Dort sind sie eine Ressource u.a. für Drogenhandel und andere risikobehaftete Tätigkeiten, die in der Schattenwirtschaft nachgefragt werden. Wer arm ist, der hat keine Wahl und geht kriminelle Risiken ein. Die beschäftigungslosen Jugendlichen und jungen Männer in den Zonen der sozialen Apartheid bilden eine unerschöpfliche Reservearmee der Kriminalität.

Die Zusammenhänge zwischen den symbiotisch verknüpften Prozessen von Globalisierung und Schattenglobalisierung einerseits und Erscheinungsformen gesellschaftlicher Gewalt andererseits machen es notwendig, Gewalt, die sich unter anderem in Mordraten und Straftaten unter Anwendung von Schusswaffen ausdrückt, auf den Mikroebenen sehr viel genauer, auch international vergleichend zu untersuchen. Es gilt, den Anteil »regulativer Gewalt« an der Gesamtheit der Tötungsdelikte und anderer krimineller Gewalttaten zu bestimmen. Als regulative Gewalt wird die Androhung und der Einsatz von physischer Gewalt zur Durchsetzung von ungleichen Tauschverhältnissen und Aneignung definiert.

Verfolgt man typische kriegsökonomische Transaktionen auf ihrem Weg in die reguläre Ökonomie, so erschließen sich kriminelle Netzwerke, die weltweit agieren und deren Funktionslogik auf Gewalthandlungen bzw. deren glaubwürdiger Androhung beruht. Es ist daher analytisch ertragreich, bei der Untersuchung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse im Zeitalter von neoliberaler Globalisierung und Schattenglobalisierung mit der Kategorie »regulative Gewalt« zu arbeiten, um so besser die Gewaltlogiken entschlüsseln zu können, die für das dynamische Fungieren der Schattenglobalisierung konstitutiv sind.

Die entscheidend neue Dimension dieser Erscheinungen, die in Kriegswirtschaften innergesellschaftlicher bewaffneter Konflikte und in stark fragmentierten Gesellschaften systemischen Charakter haben, liegt darin, dass die Funktionslogik dieser notwendig transnationalen Netzwerke die Unterschiede zwischen Krieg und Frieden verwischt. Die Raten der Gewaltkriminalität in stark polarisierten Gesellschaften, wie etwa Brasilien, Südafrika oder Nigeria erreichen oder übersteigen die Auswirkungen kriegerischer Gewalt in »Bürgerkriegen« der Gegenwart. Die Gewaltsteuerung transnationaler Netzwerke zum Beispiel des Drogen-, Waffen- oder Menschenhandels ist zwangsläufig entterritorialisiert, an beliebigen Punkten der Transaktionsketten kann es notwendig werden, mit »regulativer Gewalt« Störungen bei der Zirkulation von Waren, Geld und Menschen zu begegnen. Am Beispiel von Drogenkartellen ist dies am besten dokumentiert. Vom Anbau bis zum Endverbraucher, oft über zahlreiche Zwischenstationen quer über alle Kontinente, gilt es, bei Bedarf mit Gewalt, das Netzwerk zu schützen.

Zur Funktionslogik wirtschaftskrimineller Netzwerke gehört es auch, dass sie die Existenz der regulären Märkte nicht gefährden dürfen, denn nur wenn das Einschleusen in sie gelingt, können diese Netzwerke die Erträge ihres kriminellen Tuns realisieren. Dies macht die angesprochene Symbiose der beiden Globalisierungsprozesse aus, in die letztlich noch der brutalste Warlord irgendwie eingebunden ist. Was als nicht endende Kriege erscheint, ist möglicherweise ein systemisches Merkmal. Warlords oder besser Gewaltunternehmer unterliegen der Logik transnationaler krimineller Netzwerke. Territoriale politische Ziele müssen dieser Logik untergeordnet bleiben. Wir haben mit einer Diffusion der kriegerischen Gewalt in die transnationalen Operationsräume krimineller Netzwerke zu tun. Sie transformiert sich in »regulative Gewalt«. Kriege verlieren damit ihr Schlachtfeld, sie werden entterritorialisiert. Das viel zitierte Konstrukt »neue Kriege« ist dieser Hypothese zufolge nur eine transitorische Erscheinung auf dem Wege der weitgehenden Diffusion kriegerischer Gewalt, die nurmehr als regulative Gewalt fungiert, weitgehend gebunden an die Logik transnationaler wirtschaftskrimineller Netzwerke, die sich im Kontext des neoliberalen Globalismus ausbreiten. Mark Duffield hat diese kriegsökonomischen Trends ebenfalls beschrieben und spricht von Netzwerkkriegen. Jedoch ist dieser Begriff unglücklich gewählt, denn Krieg ohne Territorialität ist ein problematisches Konstrukt.2Der Modernisierungsschub, der mit dem neoliberalen Globalismus einhergeht, führt zu sozialer Segmentierung der Gesellschaften in Megastädten und zugleich ist überall ein Modernisierungsbruch zwischen den Generationen zu beobachten. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in sehr vielen Ländern ist von massenhafter Ausgeschlossenheit der zahlreich nachwachsenden Generationen von der regulären Ökonomie geprägt. Diese verbreitete intergenerationelle Apartheid erweist sich als ein verdrängtes systemisches Merkmal des neoliberalen Globalismus. Sie ist zunehmend von sozialer Bitterkeit, individuellen alternativen Lebensentwürfen geprägt, die sich auf Gewaltanwendung zur Durchsetzung gründen. Diese jungen Menschen haben keine politische Repräsentation in den bestehenden staatlichen Strukturen und politischen Verbänden. Wirklich wahrgenommen werden sie nur als Kriminalitätsrisiko. Oft artikulieren sie ihre instrumentelle Gewalt idealisierende Befindlichkeit3 in den Texten von Hiphop und Rap, was aber nicht als politische Artikulation wahrgenommen wird.

Hätten die weltweit in die soziale Apartheid abgedrängten jungen Menschen in den herrschenden politischen Systemen eine politische Stimme zur Wahrnehmung ihrer Interessen, in rechtsstaatlich verfassten Verhältnissen zu leben und zu arbeiten, dann wäre es um die Durchsetzungsfähigkeit des neoliberalen Globalismus schlecht bestellt. An die Stelle eines abstrakten Wohlfahrtsversprechens durch Wachstum mittels völliger Deregulierung der Ökonomie würde als Priorität die Chance aller auf konstruktive Beteiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion durch Arbeit in einer einheitlichen rechtsstaatlichen Sphäre treten. Von unten, d.h. aus den Schatten der neoliberalen Globalisierung und vor allem mit den Augen junger Menschen betrachtet, erfordert die Weltwirtschaft eine neue Regulierungsdoktrin, die auf produktive Teilhabe möglichst vieler an den Volkswirtschaften ausgerichtet ist.

Wenn diese Hypothesen die gegenwärtige Entwicklung angemessen beschreiben, dann muss sich dies auch in den politischen Gegenstrategien zur neoliberalen Globalisierung niederschlagen. Verweigerung der Globalisierung ist eine politische Falle, denn aufgrund der unausweichlichen medialen Globalisierung und Informatisierung wird es zur Globalisierung keine Alternative geben. Der scharfe politische Gegensatz zwischen der Linken und dem Neoliberalismus betrifft allein die Regulierung der Globalisierung. Als politisches Defizit linker Strategien sehe ich im Zusammenhang der von mir angesprochenen Problemfelder die geringe Beachtung des intergenerationellen Bruches der politischen Befindlichkeiten. In diesem Defizit liegt aber auch eine strategische Chance, nur fehlt es bislang selbst noch an der Wahrnehmung des Problems in linken Diskursen und Versuchen, diesen intergenerationellen Integrationsprozess aktiv zu betreiben.

Anmerkungen

1) Die erstaunliche Resistenz des Milosevicregimes beruhte u.a. auf der noch verbreiteten kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Serbien.

2) Mark Duffield, Global Governance and the New Wars, The Merging of Development and Security, London (ZED Books) 2001.

3) Siehe hierzu: Forschungsprojekt: Zwischen egomaner Gewaltverherrlichung und sozialer Ballade – Gewaltlbilder in Musikkulturen Jugendlicher, www.go-gangbustah.com.

Dr. Peter Lock ist freier Sozialwissenschaftler. Derzeit arbeitet er zum Thema (Schatten)Globalisierung und Gewalt. Weitere Themen sind Militär und Gesellschaft, Entwicklung der amerikanischen Doktrin, Entwicklung der Rüstungsindustrien weltweit. Weitere Informationen unter www.Peter-Lock.de

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/3 Globalisierte Gewalt, Seite