W&F 2019/4

»Verblendung« als Aufklärung

Eine Gedenkinstallation für die Opfer der »Marburger Jäger«

von Anne Maximiliane Jäger-Gogoll

Der Umgang mit den allenthalben im öffentlichen Raum vorhandenen Kriegsdenkmalen insbesondere aus der Zeit nach 1870/71 und 1918 ist eine weithin offene Frage. Einerseits Orte der Trauer und des Gedenkens für die Hinterbliebenen, die oftmals die Denkmale durch Spenden finanzierten, repräsentieren die Monumente andererseits ein militaristisches Denken und eine Verherrlichung von Töten und Sterben im Krieg, die einer zeitgemäßen Kommentierung bedürfen. Das Beispiel des 1923 errichteten »Jägerdenkmals« in Marburg, dem auf Initiative einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung im Auftrag der Stadt eine kritische Kommentierung in Form einer »Gedenkinstallation« direkt zur Seite gestellt werden soll, ist ein Beispiel für Möglichkeiten einer politisch-künstlerischen Ausein­andersetzung mit Kriegsdenkmalen in der Gegenwart, aber auch für die Hemmnisse, die ihr entgegenstehen.

Mit dem hessischen Städtchen Marburg an der Lahn wird man gemeinhin sein mittelalterliches Stadtbild, seine ehrwürdige Universität und möglicherweise deren exponierte Rolle in den Auseinandersetzungen der 1968er Jahre eher verbinden als Militarismus und Krieg. Gleichwohl steckt der Universitätsstadt ihre Vergangenheit als Garnisonsstandort nach wie vor in den historischen Knochen; dies wirkt sich bis heute in öffentlichen und politischen Diskussionen aus.

1866 war unter preußischer Federführung das »Jäger-Bataillon Nr. 11« (später »Hessisches« bzw. »Kurhessisches Jäger-Bataillon Nr. 11«; vgl. Friedrich et al. 2014, S. 12) in Marburg stationiert worden. Erst in den 1990er Jahren, als die beiden großen Kasernen im Stadtzentrum und im Stadtwald aufgelöst und zivil umgewidmet wurden, endete die direkte militärische Präsenz in der Stadt. Während das sogenannte Südviertel, welches sich um die gründerzeitliche »Jägerkaserne« und ihre Aufmarschrouten herum zum modernen Quartier entwickelte, heute zu den begehrtesten Wohngegenden der Stadt gehört, ist die Frage nach einem zeitgemäßen Umgang mit der von den »Marburger Jägern« repräsentierten und nach der Auflösung des Bataillons im Jahr 1919 vor allem von Militärangehörigen und lokalen Soldatenverbänden weitergetragenen militärischen bzw. militaristischen Tradition nach wie vor umstritten, man kann sogar sagen: umkämpft.

In jüngster Zeit hat sich das vor allem in der Diskussion um den »Kunstwettbewerb für eine Gedenkinstallation für die Opfer der ‚Marburger Jäger‘« niedergeschlagen, der im Dezember 2016 vom Marburger Stadtparlament beschlossen und im Juni 2018 mit der Auswahl des zu errichtenden künstlerischen Entwurfs vorläufig abgeschlossen wurde. Im Moment der Niederschrift dieses Artikels, rund ein Jahr nach der Bekanntgabe des ausgewählten Entwurfs, ist nicht nur der Zeitpunkt seiner Umsetzung, sondern auch die genaue Form ungewiss – angesichts der aufgeladenen Diskussion sicher kein Zufall, sondern vielmehr ein instruktives Beispiel für die Probleme (friedens-) politisch motivierter Kunst im öffentlichen Raum.

Das »Jägerdenkmal«

Die geplante Installation bezieht sich auf ein bestehendes Denkmal, das 1923 im »Schülerpark«, einem öffentlichen Park im Zentrum Marburgs, errichtet wurde. Das insgesamt acht Meter hohe Monument besteht aus einer ca. sechs Meter hohen Sandsteinsäule, die auf einer kreisförmigen, über Stufen begehbaren Aufschüttung nebst Sockel steht und von der Relieffigur eines wunden oder sterbenden Hirschs gekrönt wird, über dem ein Messingkreuz angebracht ist.1 Gewidmet ist es Den tapferen Marburger Jägern 1914-1918“, erinnert also an die Angehörigen des Marburger Jäger-Bataillons, die während des Ersten Weltkriegs den Tod gefunden haben. Bemerkenswert ist, dass die Getöteten nicht, wie sonst bei Gefallenendenkmalen meist üblich, auf der Vorderseite, sondern lediglich auf der Rückseite des Sockels benannt werden. Schon damit zeigt sich das Denkmal nicht in erster Linie als Ort, an dem Hinterbliebene der Getöteten gedenken können, sondern als einer, der soldatisches Leben und Sterben pathetisch-affirmativ verherrlicht und in den Dienst einer fortgesetzten militaristischen Ideologie stellt.2

Das bestätigen die Reden, die während der feierlichen Eröffnung des Monuments im September 1923 gehalten wurden. So rief etwa der ehemalige Jägerkommandeur General a.D. Karl von Borries die junge Generation dazu auf, es „den Vätern gleichzutun“, wenn die „Kriegstoten dermaleinst auferstehen“ und „unsichtbar einherschreiten“ werden „vor Deutschlands Streiterscharen, wenn unser Volk wieder erwachen wird […]“ (in Friedrich et.al. 2014, S. 125). Revanchismus, Kriegsverherrlichung und die mentale Vorbereitung auf einen nächsten, dann grausame Realität werdenden Zweiten Weltkrieg sind hier bereits mitgedacht.

Das Ärgernis, das die Sandsteinsäule im Schülerpark in der Marburger Diskussion bedeutet, resultiert freilich nicht aus der nationalistisch-revanchistischen Begleitmusik seiner Einweihung allein. Brisant wird sie zusätzlich dadurch, dass das Jäger-Bataillon im Lauf seines Bestehens nicht nur in »normale« Kriegshandlungen involviert war – es kämpfte in Russland, Belgien, Italien, Polen, Rumänien, Palästina, Estland, Mazedonien, Litauen und Serbien3 –, sondern, als Ganzes oder in Teilen, auch in manifeste Kriegsverbrechen. Angehörige des Bataillons waren beteiligt an der Niederschlagung der Pariser Commune 1871, der Niederschlagung des so genannten Boxer-Aufstandes gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Ost-China 1900/1901, dem Völkermord an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) 1904-1907, dem Massaker an der Zivilbevölkerung im belgischen Dinant 1914 und der Niederschießung demonstrierender Arbeiter im schlesischen Königshütte im Rahmen von »Grenzschutzaufgaben« im Jahr 1919.4

Diese dunkle Geschichte wird unter dem positiven Überhöhungsgestus des Jägerdenkmals ebenso affirmativ subsumiert wie in der späteren Traditionspflege, die seit 1979 von der »Kameradschaft Marburger Jäger – 2. PzGrenDiv. [Panzergrenadierdivision] e.V.« organisiert und mit regelmäßigen Feierlichkeiten u.a. am Marburger Jägerdenkmal begangen wurde, an denen bis in die 2010er Jahre hinein immer wieder auch prominente Angehörige der Marburger Stadtgesellschaft und -politik teilgenommen haben (vgl. Friedrich et al. 2014, S. 173 f.). Der »Rundbrief« der Kameradschaft vom Jahresbeginn 2002 nennt die „Geschichte des Kurhessischen Jägerbataillons Nr. 11“ ein „Beispiel für großartiges Soldatentum u. deshalb vorbehaltlos tradierbar“ (ebd., S. 193). Eine Distanzierung, etwa auch vom Fortleben dieser Tradition im Namen der Marburger SA-Einheit »Standarte Jäger 11« zwischen 1933 und 1945 (Friedrich et al. 2014, S. 135), fehlt bis heute.

Etappen der Kontroverse

Kritik an den Aktivitäten der »Kameradschaft Marburger Jäger« wird in Marburg vor allem seit Mitte der 1980er Jahre laut. Sie kristallisiert sich in bemerkenswerter Weise an künstlerischen Objekten im öffentlichen Raum. Anfang September 1989 stellen Mitglieder der Marburger Geschichtswerkstatt während der Vorbereitungen zum jährlichen »Jägertag« auf der Rasenfläche gegenüber dem Jägerdenkmal das von Jo Kley neu geschaffene »Denkmal für Deserteure« auf. Es besteht aus einem auf eine Panzersperre gefesselten menschlichen Torso, der dem Kriegsdenkmal als weithin sichtbarer kritischer Kontrapunkt entgegengestellt wird.

Wenngleich das ­Deserteursdenkmal schon am folgenden Tag von den Stadtwerken beseitigt und in den städtischen Bauhof verbracht wird, ist in dieser beeindruckenden künstlerischen Stellungnahme gegen die einseitige Verherrlichung von Krieg und Soldatentum die Grundidee des späteren »Kunstwettbewerbs Gedenkinstallation« bereits enthalten. 27 Jahre später wird es im Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom Dezember 2016, der auch dem Ausschreibungstext des Wettbewerbs zugrunde liegt, heißen: „Die Stadtverordnetenversammlung bittet den Magistrat, einen Kunstwettbewerb für eine Gedenk­in­stalla­tion im Schülerpark auszurichten. Die Installation soll an die Opfer der Untaten der Marburger Jäger erinnern und ihnen einen sichtbaren, materiell fassbaren, künstlerischen Ausdruck im öffentlichen Raum geben – in direkter Kommunikation/Konfrontation mit dem dort bereits bestehenden Kriegsdenkmal […].“ (Niederschrift StVV, 16. Dez. 2016)

Der Prozess, der das kritische Begehren von Teilen der Marburger Zivilgesellschaft in politisches Handeln der Lokalpolitik und dieses wiederum in die mit dem Kunstwettbewerb eingeleitete ästhetische Manifestation einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen militaristischen Geschichte und Tradition transformiert, ist lang. Es dauert zehn Jahre, bis die rot-grüne Stadtregierung im Jahr 1999 dem Deserteursdenkmal einen Platz auf dem Marburger »Kämpfrasen« zuweist, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Standortkommandantur der ehemaligen Jägerkaserne.5

Während die kritische Auseinandersetzung mit der militaristischen Tradition mit diesem Mahnmal im Herzen der Stadt angekommen ist, sorgt im Jahr 2011 die Aufstellung eines weiteren Gefallenendenkmals durch die Marburger »Jäger-Kameradschaft« in einem Kleingarten im Marburger Stadtteil Bortshausen bei Anwohner*innen und Friedensbewegung für neue Empörung. Es entzündet sich eine verschärfte Kontroverse um Tradition und Aktivitäten der Kameradschaft, die in dem dörflichen Ortsteil mittlerweile auch ein Fachwerkhaus zur »Jägerkaserne« erklärt und mit Erinnerungsstücken aus der Geschichte des Bataillons ausgestattet hat. Gegen die Aufstellung des Denkmals gründet sich die Bürgerinitiative »Kein Kriegsdenkmal in Bortshausen«; im April 2012 führt nach mehr als zehnjähriger Pause der erste »Osterspaziergang« des Marburger Friedensbündnisses in den Ortsteil und zum Denkmal. Seine Aufstellung wird als Zeichen des unkritischen Festhaltens an militaristischen Denkweisen, gepaart mit antidemokratischen und rechtsnationalen Tendenzen und insgesamt einer zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft, kritisiert (vgl. Oberhessische Presse, 5.4.2012).

Die daraufhin von der Stadt verfügte und zunächst vom Verwaltungsgericht Gießen unterstützte Abrissverfügung wird nach einer Klage der Jäger-Kameradschaft vom Hessischen Wirtschaftsministerium revidiert. Unterdessen gibt die Stadt Marburg bei der Geschichtswerkstatt eine Studie über die Geschichte der »Marburger Jäger« in Auftrag. Die 2014 erschienene Stadtschrift »Zur Geschichte der ‚Marburger Jäger‘« dient auch als Vorgabe für den »Kunstwettbewerb für eine Gedenkinstallation für die Opfer der ‚Marburger Jäger‘«, der schließlich dank der fortgesetzten Bemühungen vonseiten des breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses der Marburger Friedensbewegung auf Antrag von LINKEN, SPD und GRÜNEN im Dezember 2016 beschlossen wird.

Indem der Auftrag für die Gedenkinstallation „die Opfer der Untaten der Marburger Jäger“ ins Zentrum rückt, bezieht er eine eindeutige Gegenposition zum rückwärtsgewandten und kriegsverherrlichenden Kult des bestehenden Denkmals und fordert vehement die verleugnete Seite des historischen Gedenkens ein. Konkret auf die Opfer bezogen, weist die Intention der Installation gleichwohl ins Allgemeine: „Die Stadtverordnetenversammlung betrachtet die Einrichtung einer solchen Gedenkinstallation nicht nur als einen wichtigen Beitrag für die Aufarbeitung der Geschichte des Militarismus in Marburg und für die Aufklärung kommender Generationen, sondern auch als einen lokalen Beitrag für eine Kultur des Friedens und der Völkerverständigung.“ (Niederschrift StVV, 16. Dez. 2016)6

Die »Gedenkinstallation«

Die Umsetzung dieses Beschlusses ist nicht nur künstlerisch, sondern auch organisatorisch eine Herausforderung. Der Beirat, der unter Federführung des Marburger Fachdienstes Kultur im Frühjahr 2017 seine Arbeit aufnimmt, setzt sich aus Vertreter*innen von Geschichtswerkstatt, Friedensbewegung und Konfliktforschung, Künstler*innen und Kunsthistoriker*innen, aber auch den entsprechenden Fachleuten aus den Fachdiensten Kultur, Stadtgrün und Denkmalschutz zusammen – eine Kombination, die nicht nur interdisziplinäre Expertise, sondern auch die Durchlässigkeit zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Stadtverwaltung garantieren soll. Erarbeitet wird eine internationale Ausschreibung, die sich eng an den Beschlusstext der Stadtverordnetenversammlung hält.7 Zusätzlich werden Künstler*innen aus den von Kriegsverbrechen der »Marburger Jäger« betroffenen Ländern und Orten – Namibia, China, Paris und Dinant – sowie aus dem lokalen Umfeld Marburgs zur Teilnahme eingeladen.

Auf die Ausschreibung gingen fristgerecht 55 Bewerbungen ein. Das ist sicherlich ein Zeichen für die reizvolle und alles andere als alltägliche Fragestellung dieser künstlerisch-politischen Installation. Das große Interesse an dem Wettbewerb mag aber auch zeigen, wie drängend sich nicht nur in Marburg die Frage nach einem zeitgemäßen Umgang mit Kriegsdenkmalen als Sinnbildern für militaristisches Denkens und für ein unaufgearbeitetes Verhältnis zur Tradition kriegerischer Aggression stellt. Gefordert wird hier eine nicht nur politische, sondern zugleich ästhetische und im öffentlichen Raum sichtbare Gegenposition, welche die reale Seite des Krieges, welche massenhaftes oder auch gezieltes Töten und Sterben unter dem Vorzeichen militaristischer Logik präsent macht, ohne ihrerseits in falsches Pathos oder aggressive Destruktivität zu verfallen, und den Opfern ein Denkmal setzt, ohne sie ein weiteres Mal, und dann endgültig, allein zu »Opfern« zu stempeln.

Es wäre eine eigene Darstellung wert, den Sichtungs- und Auswahlprozess und die engagierte interdisziplinäre Diskussion aufzuzeichnen, die sich über mehrere Monate hinweg erstreckte. Acht Entwürfe kamen schließlich in die Endauswahl und wurden durch die Künstler*innen bei einem »Kunstforum« der Öffentlichkeit präsentiert.8 Auf der Basis dieser Präsentation und der Rückfragen des Publikums traf der Beirat schließlich die Entscheidung über die drei erstplatzierten Entwürfe, deren erster für die Umsetzung ausgewählt wurde.

»Verblendung«

Heiko Hünnerkopfs Entwurf unter dem mehrdeutigen Titel »Verblendung« begibt sich in unmittelbare Konfrontation und Kommunikation mit dem bestehenden Denkmal. Auch wenn dessen Körper unberührt bleibt, schafft der Künstler mittels einer tatsächlichen Verblendung der Säule durch eine im Halbrund vor ihr angebrachte Doppelreihe von Stahlstäben eine neue, gebrochene Perspektive, die das Kriegsdenkmal halbtransparent einhegt und mit der Aufschrift Verblendung. Gegen Militarismus und Heldenmythos. Zur Erinnerung an die Opfer der Marburger Jäger die ideologischen Hintergründe wie die realen Opfer der Aktivitäten des Jäger-Bataillons in die Wahrnehmung des*der Betrachter*in einblendet. Zwischen den beiden Reihen begehbar, tragen die Stahlstreben auf ihrer Rückseite Tafeln, die an die Orte der Kriegsverbrechen in Paris, Namibia, Ost-China, Belgien und Polen/Schlesien erinnern und den Opfern, wie im Beschluss des Marburger Stadtparlaments gefordert, einen Namen und einen „fassbaren […] Ausdruck im öffentlichen Raum“ geben. Die Stadt Marburg stellt sich damit auf anspruchsvolle Weise ihrer Geschichte als Garnisonsstadt und als Gemeinwesen, das von der Präsenz des Jäger-Bataillons tiefgreifend geprägt worden ist, und gibt sie auf neuer Ebene für eine zukunftweisende Diskussion frei. „Indem die aktuelle künstlerische Verblendungsmaßnahme die ideologische Verblendung der Täter und der denkmalsetzenden Gesellschaft entlarvt, formuliert das Denkmal nun die Kritik an sich selbst. So öffnet sich das rückwärtsgewandte Mal der Zukunft […].“ (Kimpel 2019, S. 369)

Es war und ist freilich vorauszusehen, dass eine solche Maßnahme nicht ohne Gegenwind und handfeste Kontroverse bleiben kann. Auf die Pressemitteilung zur Auswahl und zeitlichen Umsetzungsperspektive der Installation hin hat die Jäger-Kameradschaft prompt reagiert und bereits juristische Schritte zu ihrer Verhinderung angekündigt. Doch auch von anderer Seite gibt es noch zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Berichts irritierendes Störfeuer. Einerseits stellt die Bauwirtschaft offenbar unangemessen hohe Forderungen für die Realisierung des Fundaments, welche die Stadt schon aus formalen Gründen nicht akzeptieren kann. Andererseits wurde im Nachgang zum Auswahlprozess die (zentrale) Inschrift der Gedenkinstallation stillschweigend, hinsichtlich ihrer Gesamtaussage allerdings gravierend, verändert: Auf Anregung der für die Umsetzung zuständigen Personen sollte der Künstler den ursprünglich vorgesehenen Schriftzug (s.o.) in die verkürzende und verallgemeinernde Formulierung Verblendung. Zur Erinnerung an die Opfer des Militarismus“ ändern. Dass diese Änderung vor der Fertigstellung der Installation dem Beirat durch Zufall noch rechtzeitig bekannt wurde, kann man nur als eine Art »List der Vernunft« betrachten.

Aufgrund einer neuerlich aufgemachten, heftig kontroversen Diskussion ist nun zwar die letzte Änderung des Textes wieder revidiert worden. Zugleich wurde jedoch eine der ursprünglichen drei Inschrift-Zeilen gestrichen. Die neue Formulierung lautet jetzt lediglich Verblen­dung. Zur Erinnerung an die Opfer der Marburger Jäger“. Damit ist zwar die unpolitische Verallgemeinerung der ersten Änderung zurückgenommen, sind auch die „Opfer der Untaten der Marburger Jäger“ wieder in den Fokus gerückt. Die explizite Botschaft der Installation erhält jedoch mit der verkürzten Inschrift einen Doppelsinn, der zuvor nicht in dieser Weise sichtbar war. Wenn man es denn so lesen will, weist die neue, verkürzte Form der Inschrift mit der „Erinnerung an die Opfer der Marburger Jäger“ nun auch auf deren eigene »Opfer« zurück, für die, wenn auch in seinem unguten Sakralgestus für die weitere Kriegsverherrlichung missbraucht, das Denkmal ursprünglich errichtet worden war.9 Ob der dergestalt veränderte Gestus der »Verblendung« die weiterhin zu erwartende Kontroverse um sie verändert, ob daraus eine differenziertere Rezeption und Auseinandersetzung auch in weiteren Teilen der Marburger Bevölkerung resultiert, wird die Zukunft zeigen.

Anmerkungen

1) Eine Abbildung des Denkmals im Originalzustand aus dem Jahr 1923 findet sich in Kimpel (2019), S. 369.

2) Diese Ambivalenz der Figuration hat insbesondere Burghard Fischer, der zweitplatzierte Preisträger im »Kunstwettbewerb Gedenkinstallation«, hervorgehoben und zum Ausgangspunkt seines hochinteressanten Entwurfs unter dem Titel »Die Anderen« gemacht. Auf Fischers Entwurf kann hier aus Platzgründen nicht ausführlich eingegangen werden, seine Präsentation durch den Künstler ist aber in einer Filmaufzeichnung anzusehen unter youtube.com/watch?v=UFphN9sHyaw.

3) Zu entnehmen der 1929 am Portal der Alten Jägerkaserne in Marburg angebrachten Gedenktafel (vgl. Friedrich et al. (2014), S. 127). Die Tafel befindet sich heute im Militärhistorischen Museum Stadtallendorf.

4) Sämtliche historischen Informationen sind der Studie von Friedrich et al. (2014) entnommen.

5) Damit steht das Denkmal für die Deserteure auch in unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes, wo „abweichendes Verhalten von Soldaten registriert und den Militärgerichten gemeldet wurde“ (Rede von Michael Heiny beim Marburger Ostermarsch 2019). In seinem Redebeitrag führte Heiny weiter aus, dass unter den insgesamt rund 30.000 Todesurteilen, welche die Wehrmachtsjustiz während des Zweiten Weltkriegs verhängte, ca. 6.000 Verfahren am Marburger Kriegsgericht geführt und über 100 davon hier vollstreckt wurden. Im Herbst 2018 beschloss das Marburger Stadtparlament die weitere räumliche und inhaltliche Aufwertung des Deserteursdenkenkmals, deren Realisierung freilich ebenso noch aussteht wie eine Dokumentation zum Schicksal von Deserteuren in Marburg und vor dem Marburger Kriegsgericht.

6) Seit 2017 führen die »Osterspaziergänge« der Marburger Friedensbewegung vom Deserteursdenkmal im Südviertel zum »Jägerdenkmal« im Schülerpark. 2017 wurde dabei eine improvisierte Installation am Denkmal errichtet.

7) Der Ausschreibungstext steht auf der Website marburg.de (siehe Literaturverweise). Hier finden sich auch Bild- und Filmmaterialien zum vorhandenen Denkmal sowie zu den Entwürfen und ihrer Präsentation durch die Künstler*innen im Zuge der Endauswahl.

8) Die Präsentationen sind als Film nachzuverfolgen auf der Website marburg.de (siehe Literaturverweise).

9) Während des Ersten Weltkrieges wurden rund 4.000 Angehörige des Marburger Jäger-Bataillons getötet, auch dies für eine Stadt von der Größe Marburgs wie natürlich für jedes Gemeinwesen und jede betroffene Familie eine fürchterliche Bilanz. Vgl. Friedrich et.al. (2014), S. 122.

Literatur

Eine Internetdokumentation zu Beschluss, Ausschreibung und Wettbewerb lässt sich sich mit den Suchbegriffen Kunstwettbewerb, Gedenkinstallation, Schülerpark unter marburg.de finden.

Friedrich, K.-P.; Kirschner, A.; Lützoff, C.; Nickel, K. (Hrsg.) (2014): Zur Geschichte der »Marburger Jäger«. Marburg: Rathaus-Verlag, Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur Bd. 101.

Kimpel, H. (2019): Kurt Schmelz. Denkmal für die gefallenen Jäger von 1914-1918. Marburg 1923. In: Buchholz, K.; Oswalt, Ph. (Hrsg.) (2019): 100 Jahre Moderne in Hessen – Von der Reichsgründung bis zur Ölkrise. Ein Architekturführer. Berlin: JOVIS, S. 369.

Stabsstelle Kommunale Gremien/Büro der Stadtverordnetenversammlung/Fachdienst 09: Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung der Universitätsstadt Marburg vom 16. Dezember 2016. Marburg, 21.12.2016.

PD Dr. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll, Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen und langjährige Lehrbeauftragte am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, war als Vertreterin des Bündnisses »Nein zum Krieg« im Beirat des »Kunstwettbewerbs Gedenkinstallation« tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 26–29