W&F 2008/3

Vereinfachen bringt nichts!

von Albert Fuchs

Für die zeitgenössische atheistische Religionskritik ist Religion (u.a. auch wieder) ein in sich gewaltförmiges Wahnsystem; wenn nicht Ursache ungezählter Gewaltkonflikte, dann doch ein hoch gefährlicher Brandbeschleuniger. Und zwar Religion grundsätzlich und jeder Machart und Provenienz, insbesondere aber in ihrer monotheistischen Gestalt. Seit dem 11. Sept. 01 stimmen Künder eines Kampfes der Kulturen dieses Lied vor allem auf den Islam an.

Gewiss: Religionen besitzen ein enormes Konflikt- und Gewaltpotenzial und haben wohl alle irgendwelche Argumentationsfiguren zur Rechtfertigung von militärischer Gewalt entwickelt. Jedoch ist das nur eine Seite der Medaille; wer sie für die einzige Seite hält, verzerrt die Wirklichkeit des Religiösen. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Polemik gegen den Islam ist diese Verzerrung kaum eindrucksvoller zu verdeutlichen als durch das Verhalten der Muslime in einem der fürchterlichsten Gewaltexzesse der Geschichte, dem Völkermord von 1994 in Ruanda.

Von Anfang April bis Mitte Juli verloren in diesem nominell christlichen Land 800.000 bis 1.000.000 Menschen ihr Leben. In rund 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit wenigstens 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten. Bis auf die Zeugen Jehovas waren alle christlichen Gemeinschaften in den Völkermord verstrickt. In besonderem Maß wird der katholischen Kirche eine Mitverantwortung zugeschrieben; vor 1994 gehörten ihr gut zwei Drittel der Bevölkerung an und sie verfügte über enge Beziehungen zur Machtgruppe um den Hutu-Präsidenten-Habyarimana, dessen Tod infolge des Abschusses seines Flugzeugs beim Anflug auf Kigali am 6. April 1994 als Auslöser des Genozids gilt. Dagegen hatten die Muslime als Minderheit (etwa 5 Prozent der Bevölkerung) ausreichend Distanz zum politischen System. Frühzeitig warnten muslimische Geistliche vor der Hass- und Gewaltpropaganda, verurteilten Gewalt als unislamisch und koranwidrig, organisierten Not- und Flüchtlingshilfe, spionierten Hutu-Milizen aus und verhinderten Einsätze von »Todesschwadronen«. Sie begründeten ihre Hilfe, die Bedürftigen gleich welcher Stammes- oder Religionszugehörigkeit zukam, ausdrücklich mit ihrem Glauben: Dass der Koran Gewaltlosigkeit lehre und Mord als Sünde verurteile, alle Menschen als gleich betrachte und den Schutz der Schwachen und Unterdrückten fordere. Eine systematische Verwicklung in die Gewalttaten ist nicht bekannt; kein muslimischer Geistlicher wurde nach dem Sieg der Tutsi-Rebellenbewegung RPF wegen Beteiligung am Genozid vor Gericht gestellt. Im postgenozidären Ruanda forderte der Präsident die Muslime auf, andere Ruander zu lehren, wie man zusammenlebt. Führende Muslime sehen es nun als ihre Aufgabe an, zur Versöhnung von Tutsi und Hutu beizutragen, und bezeichnen diese Obliegenheit als den »dschihad« in Ruanda.

 

Das Handeln der Muslime im Zusammenhang des Genozids in Ruanda und die Terrorattacken von New York und Washington unter Berufung auf den Islam exemplifizieren die gegensätzliche Rolle, die ein und dieselbe religiöse Tradition in politischen Auseinandersetzungen zu spielen vermag. Zahlreiche analoge Beispiele aus anderen religiös-kulturellen Kontexten legen nahe, in der Konflikt- und Friedensforschung von einer grundsätzlichen Ambivalenz von Religion im Hinblick auf Krieg und Frieden auszugehen - statt mit der eingangs erwähnten fundamentalkritischen Hintergrundannahme zu operieren. Auch eröffnet erst die Ambivalenzhypothese das Feld für die Suche nach Bedingungen gewalt- oder friedensförderlicher Auswirkungen religiöser Traditionen, nach Wirkungsmechanismen sowie nach Strategien, um einerseits religionsbasierte Eskalationspotenziale zu entschärfen und andererseits religiös inspirierte Friedenskräfte zu wecken und zu stärken.

Die konkrete Forschung zum Thema »Religion, Krieg und Frieden« scheint denn auch durchgehend die Ambivalenzhypothese als Bezugsrahmen zu haben. Das besagt aber, dass die eigentliche Forschungsarbeit damit erst beginnt. Zum bisherigen Ertrag auf diesem relativ jungen Forschungsfeld sei hier nur hervorgehoben, dass inhaltliche Unterschiede zwischen den Religionen anscheinend nur eine untergeordnete Rolle spielen. Anders gesagt: Keine Weltreligion ist von sich aus besonders gewalt- oder friedensaffin; in allen Religionen können gewaltförmige wie friedensförderliche Kräfte bestimmend werden. Viel bedeutsamer als der religiös-weltanschauliche Inhalt ist etwa - wie in dem skizzierten Beispiel - das jeweilige Distanz-Nähe-Verhältnis einer religiösen Gemeinschaft zur politischen Macht. Darauf hingewiesen sei auch, dass bisher - womöglich im Kielwasser der atheistischen Religionskritik - Studien, die sich mit dem Gewaltpotenzial religiöser Traditionen auseinandersetzen überwiegen; umso erfreulicher, dass wir einen Beitrag zum Friedenspotenzial von Religionen akquirieren konnten. Schließlich erschien uns wichtig, die ebenfalls unterbelichtete psychologische Seite des Problemfeldes aufzugreifen.

Albert Fuchs

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/3 Religion als Konfliktfaktor, Seite