W&F 1987/1

Vernachlässigtes Thema „Militär“.

Zur Situation in den Gesellschaftswissenschaften und der Psychologie

von Ralf Zoll

Die hochaktuelle Problematik einer Militarisierung der Hochschulen als Teilaspekt einer Militarisierung der Gesellschaft läßt sich in einem kurzen Beitrag nur anreißen. Ich verzichte deshalb auf eine Erläuterung des Begriffs Militarisierung; zum anderen kann ich auch nicht auf die Schwierigkeiten eingehen, die mit dem Begriff Gesellschaftswissenschaften verbunden sind. Meine Ausführungen und Materialien beziehen sich weitgehend auf die Soziologie, gleichsam als Kontrapunkt verweise ich auf die Entwicklungen in der Psychologie.

Gibt es eine Militarisierung der Soziologie?

Nach einem allgemeinen Verständnis dieser Frage müßte meine Grundthese lauten: Es gibt keine Militarisierung soziologischer Forschung und Lehre! Ich stelle zur Diskussion, ob es nach den Materialien, die ich präsentieren werde, nicht gerechtfertigt ist, es als Zeichen einer Militarisierung anzusehen, daß es dem Militär gelang, sich der öffentlichen Kontrolle durch sozialwissenschaftliche Forschung zu entziehen.

Orientiert am Sachgebiet und an den Titeln wurden alle laufenden und abgeschlossenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ausgezählt und eingeordnet, welche in den Forschungsdokumentationen des Informationszentrums Sozialwissenschaften für die Jahre 1974-1977 enthalten waren. Die Dokumentation gilt als einigermaßen umfassend, zumindest was die Forschungen von wissenschaftlicher Bedeutung angeht. Um die Ausgangsfrage genauer beantworten zu können, haben wir die Forschungsvorhaben nicht nur nach Themenbereichen, sondern auch noch danach unterschieden, ob die Studien von einer zivilen oder von einer bundeswehreigenen Forschungsinstitution durchgeführt wurden.

Zentrales Ergebnis ist erst einmal, daß von 1974-77 110 Studien mit etwa einschlägiger Themenstellung ermittelt werden konnten; die 110 Studien machen allerdings nur ca. 3 % aller registrierten Untersuchungen aus. Die inhaltliche Struktur der 110 Studien ergibt sich aus der folgenden Tabelle.

In den Jahren 1974-1977 laufende und abgeschlossene Forschungen zum Thema Militär
Institutionen und Forschungseinrichtungen
Bundeswehr Zivile Insgesamt
Themenbereiche absolut in % (n=57) absolut in % (n=53) absolut in % (n=110)
Verteidigung im Rahmen internationaler und nationaler Sicherheitspolitik 5 8,8 37 69,8 42 38,2
Verfassungsmäßige Bezüge der Verteidigung (normativer Aspekt) 2 3,8 2 1,8
Politische Praxis der Wehrerfassung 6 10,5 2 3,8 8 7,3
Gesellschaftliche und ökonomische Bezüge der Verteidigung 13 22,8 6 11,3 19 17,3
Bundeswehrinterne Aspekte (Bundeswehr als Organisation) 33 57,9 6 11,3 39 35,4
Insgesamt 57 100 53 100 110 100
  • Nahezu 75 % aller Projekte betreffen Fragen der Verteidigung im Rahmen internationaler und nationaler Sicherheitspolitik oder bundeswehrinterne Aspekte, wobei beide Bereiche fast gleiche Anteile aufweisen (42 gegenüber 39 Projekten); die gesellschaftlichen Bezüge der Verteidigung sind nur in gut 17 % der Studien zentrales Thema;
  • mehr als die Hälfte der Untersuchungen (51,8 %) wurden von bundeswehreigenen Forschungseinrichtungen durchgeführt (bes. Hochschulen der Bundeswehr, Wehrpsychologische Gruppe und Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr);
  • die zivilen Forschungsinstitutionen befassen sich weit überwiegend, nämlich zu fast 70 % mit Problemen der Verteidigung im Rahmen nationaler und internationaler Sicherheitspolitik. Als Ursache für diese Konzentration des Interesses könnte die größere Zugänglichkeit von erforderlichen Materialien in diesem Bereich gegenüber solchen zu eher bundeswehrinternen Problemen angeführt werden. Dennoch dürfte hier kaum die allein ausschlaggebende Ursache liegen, da die Datenlage für ökonomische Fragestellungen weitaus günstiger aussieht und dennoch auch nur gut 11 % der Projekte in diese Kategorie fallen.
  • Erwartungsgemäß analysieren bundeswehreigene Forschungseinrichtungen schwerpunktmäßig bundeswehrinterne Fragen. Die Dominanz dieses Bereichs ist mit knapp 58 % dabei nicht ganz so groß wie die sicherheitspolitischen Aspekte bei den zivilen Institutionen. Immerhin wurden vergleichsweise über doppelt soviel Studien durch die Bundeswehr zum Thema „gesellschaftliche Bezüge der Verteidigung“ durchgeführt. Ausgehend von der Zahl und Verteilung der laufenden und abgeschlossenen Studien für die Jahre 1974-1977 läßt sich kaum davon sprechen, daß sich die Sozialwissenschaften zureichend mit dem „Militär“ befassen. Eine Aktualisierung der Zahlen ergibt ein ähnlich negatives Bild für die Jahre 1983-1984. Das gleiche trifft die Zeitschriften zu.

Gründe für die Vernachlässigung des Militärs durch die Sozialwissenschaften

Es gibt vielfältige Gründe, die erklären helfen, warum die Sozialwissenschaften sich wenig mit dem Gegenstand Militär beschäftigt haben.

Seit den Gründungsvätern der Soziologie, seit Saint-Simon und Comte, haben sozialwissenschaftliche Denker das Militär häufig als Relikt aus feudalen Gesellschaften, als fortschrittsfeindliche, konservative politische Kraft bezeichnet. Dieser analytischen und weltanschaulichen Antihaltung entspricht auf Seiten des Militärs eine tiefgreifende Bildungsfeindlichkeit. Das militärische Personal wurde noch bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts in Deutschland (BRD) eher nach Schichtenzugehörigkeit (etwa Adel) und „richtiger Gesinnung“ (erwünschte Kreise) rekrutiert, denn nach Kriterien etwa der vorhandenen bildungsmäßigen Qualifikationen.

Auf Seiten der Universitäten ist weiter zu vermerken, daß das deutsche Bildungsverständnis die Beschäftigung von Wissenschaften und Problemen des Alltags, gar mit solcher politischen Relevanz nicht gerade gefördert hat. Demgemäß entwickelt sich die empirische, vor allem die angewandte Forschung nur sehr langsam und im Vergleich zu anderen Ländern, etwa den USA, auch noch sehr verspätet.

Aber auch als sich empirische Sozialforschung in der BRD etabliert hatte, verhinderte die oft vorgenommene fälschliche Identifikation eines Forschers mit seinem Forschungsgebiet eine Abmilderung oder Umkehr des historischen Trends. Schließlich sind ebenso die bekannten Geheimhaltungsphobien zu nennen, welche die Zugänglichkeit des Untersuchungsgegenstandes über das für bürokratische Organisationen übliche Maß hinaus einschränkten.

Die Tatsache, daß sozialwissenschaftliche Forschung zum Gegenstand „Militär“ intensiver durch das Militär oder in seinem Auftrag betrieben wurde als von unabhängigen zivilen Forschungseinrichtungen, bedarf einer näheren Erläuterung.

Faktische Beziehungen zwischen Militär/Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und den Sozialwissenschaften: Bundeswehreigene Forschungskapazitäten

In den siebziger Jahren schätzte ein Insider die Höhe der Mittel, die für sozialwissenschaftliche Forschung von der Bundeswehr bis dato ausgegeben worden waren, auf über 100 Mio. DM. Je nach Berechnungsgrundlage kann man bis heute von dem doppelten Betrag ausgehen, wobei interne wie Vergabekosten zusammengezogen sind.

Forschungskapazitäten der Bundeswehr finden sich in einem weiteren Sinne vor allem

  • im Militärgeschichtlichen Forschungsamt,
  • am Zentrum Innere Führung (Forschungs- u. Lehrstab),
  • an der Führungsakademie (Forschungs- u. Lehrstab),
  • an den Hochschulen der Bundeswehr,
  • an der Schule für Psychologische Verteidigung,
  • in einer Abteilung der IABG (Industrie-Anlagen-Betriebsgesellschaft) im MBB-Komplex in München,
  • im Dezernat Wehrpsychologie im Streitkräfteamt und
  • im Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI).

Das Potential für empirische sozialwissenschaftliche Forschung in einem engeren Sinne ist demgegenüber weit geringer. Letztlich verbleiben nach diesem Kriterium nur noch die Hochschulen und das Sozialwissenschaftliche Institut (SOWI). Beide Einrichtungen bilden auch die einzigen Kapazitäten, wo keine unmittelbare Abhängigkeit der Forscher von militärischer Bürokratie (Vorgesetztenstatus) besteht bzw. bestand – „bestand“ deshalb, weil ein Direktorenwechsel im SOWI 1983 dazu benutzt wurde, die ursprünglich vorhandenen Freiheitsrechte, damals durchaus mit denen universitärer Institute vergleichbar, drastisch einzuschränken. Obwohl ein Produkt der „Wende“, muß festgehalten werden, daß das wenige kritische Potential in der Bundeswehr selbst auch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition einen schweren Stand besaß und ständig um seine Möglichkeiten kämpfen mußte.

Das Forschungsmanagement der Bundeswehr

Von einem Management der Bundeswehr im Forschungsbereich zu sprechen, erfordert sofort zwei Korrekturen. Einmal gibt es bis heute noch keine wirklich funktionierende Koordination der Forschungsaktivitäten oder gar der Auswertung von Resultaten der Forschung. Von einem gewissen Standpunkt aus mag man das vielleicht sogar begrüßen. Faktum ist, daß trotz verschiedener Versuche (Verbund Innere Führung, computermäßige Erfassung laufender Projekte etc.) die organisatorische Vielfalt, manche sprechen von einem Wirrwarr von Zuständigkeiten und gegenseitiger Paralysierung, kaum einen Überblick oder gar Transparenz gewährleistet. Besondere Bedeutung für die Vergabe und Auswertung von Forschung haben der Führungsstab der Streitkräfte (FüS), der Informations- und Pressestab (IP-Stab) und die Personalabteilung.

Zum anderen ist der Begriff Management zu relativieren. Ein (Gesamt-)Management erforderte entsprechende Zielvorgaben, Ergebniskontrollen sowie eventuelle Ziel- und Verfahrensrevisionen. Ein im Bundesministerium der Verteidigung vorhandener Planungsstab kann (oder will) diese Aufgaben nicht erfüllen und die Politische Führung setzt hierfür keine Margen. Die zumindest quantitative Fülle von empirischen Daten findet demgemäß nur eine im geschilderten Sinne zufällige Verwertung ohne öffentliche Rezeption oder gar Kontrolle. Öffentlichkeit stellt sich in wenigen Fällen her und zwar dort, wo Forschungsergebnisse, vor allem aufgrund situationsspezifischer Einflüsse, eine scheinbare oder tatsächliche politische Brisanz besitzen. Die Fähigkeit der Bundeswehr und der politischen Führung empirische Erkenntnisse jenseits der üblichen Legitimationsversuche kritisch zu nutzen und sei es nur in einem vordergründig funktionalen Sinne, ist sehr gering ausgeprägt.

So gilt faktisch, daß die Forschungsaufträge nach Innen wie Außen primär funktionalen einschließlich legitimatorischen Interessen von Abteilungen, Stabsabteilungen, Referaten etc. dienen. Die fehlende Öffentlichkeit für den größeren Teil der Untersuchungen verhinderte u.a. sowohl eine Breit- wie eine Tiefenwirkung für die Entwicklung einer militärsozialwissenschaftlichen Forschungskompetenz; der oft niedrige wissenschaftliche Standard der Forschungen entsprach paradoxerweise auch noch dem Interesse der Auftraggeber.

Zur Vergabe von Forschungsmitteln durch die Bundeswehr an zivile Einrichtungen

Die Vergabe von Forschungsaufträgen an zivile Einrichtungen betrifft weit überwiegend kommerzielle Markt-, Meinungs- oder Sozialforschungsinstitute. Hier ist allerdings nicht allein an die bekannten Institute wie Emnid, Allensbach, Intratest, Infas etc. mit den üblichen Umfragen etwa zur Akzeptanz der Bundeswehr zu denken. Schon in den sechziger Jahren flossen große Beträge in Untersuchungen deskriptiver Art mit den angedeuteten Standards, die von Instituten mit geringem Bekanntheitsgrad durchgeführt wurden. Teilweise finanzierten diese sich fast ausschließlich mit langfristigen Bundeswehraufträgen wie etwa das Institut für Systemforschung in Bonn, das ca. 10 Jahre jährliche Beträge (langfristig garantiert) bis zu 400.000 oder 500.000 DM erhielt.

Wo das Ministerium vom Finanzvolumen her größere Aufträge direkt an universitäre oder universitätsähnliche Institutionen vergab, geschah dies wohl mit halbem Herzen, wenn nicht sogar Zusagen zurückgezogen wurden wie im Fall der Evangelischen Studiengemeinschaft, wo Georg Picht den wohl einzigen bedeutsamen Versuch in dieser Zeit unternommen hatte, sich der Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Analyse des zivil-militärischen Verhältnisses zu stellen. Die mit den Mitteln des Verteidigungsressorts eingerichtete „Wehrsoziologische Forschungsgruppe“ an der Universität Köln arbeitete ebenfalls zehn Jahre, wobei vor allem mikrosoziologische Aspekte der Militärorganisation betrachtet wurden. Nach Auskunft eines sachkundigen Ministerialbeamten hatte man damals (wie heute) kein wirkliches Interesse an theoretisch fundierter oder theoretisch orientierter Forschung zum Gegenstand Militär. Man wollte sich eher des „good wills“ eines bedeutenden Teil der damaligen deutschen Soziologie versichern. Daraus Schlüsse auf das Verhalten der „Geförderten“ zu ziehen, wäre zumindest voreilig. Nach der Einrichtung des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr wurden keine größeren Beträge mehr an universitäre Sozialforschungsinstitute vergeben. Bemühungen, die ansonsten noch beträchtlichen Aufträge über die in anderen Ministerien üblichen Ausschreibungsverfahren zu plazieren, scheiterten alle kläglich.

Psychologie als Kontrapunkt

Gerade als die Soziologie sich in Deutschland zu etablieren versuchte, wurde sie durch die Machtübernahme der Nazis an jedweder Entfaltung gehindert. Zwei Drittel derjenigen, welche das Fach in der Lehre vertraten, wurden bis 1936 entlassen oder mußten emigrieren.

Die Entwicklung der Psychologie verlief dagegen völlig anders. Sie hatte offensichtlich keine großen Schwierigkeiten, sich in bedeutsamen Teilen in das neue System zu integrieren. Eine wesentliche Rolle spielte sie als Wehrmachtspsychologie und war von größerer Relevanz. Die Etablierung der Psychologie in der Bundesrepublik knüpfte oft personell wie in manchen inhaltlichen Ansätzen beinahe bruchlos an die Wehrmachtspsychologie an. Dies gilt insbesondere fr die Wehrpsychologie in der Bundeswehr. Noch 1972 konnten dort im offiziellen Schrifttum des Bundesministeriums der Verteidigung Max Simoneit, 1931-1942 wissenschaftlicher Leiter des Psychologischen Laboratoriums beim Reichswehr- bzw. Reichskriegsministerium, für seine außergewöhnlichen Leistungen „Kränze“ geflochten werden. Aus der Ecke der Wehrpsychologie kamen auch anfangs der 80er Jahre Angriffe gegen die soziologischen Forschungen in der Bundeswehr, die strukturell kaum weit entfernt sind von dem, was die Wehrmachtspsychologie negativ auszeichnete.

Bei der angedeuteten Kontinuität in der Entwicklung der Psychologie allgemein verwundert es auch nicht, daß das Bundesministerium der Verteidigung über die Wehrpsychologie wenig Bedenken besaß, Forschungsaufträge an universitäre Einrichtungen der Psychologie zu vergeben und diese auch offensichtlich auch bereit waren, solche Aufträge zu übernehmen. Wenigstens für zwölf verschiedene bundesrepublikanische Universitäten können solche Kooperationen belegt werden. In aller Regel sind die erteilten Aufträge nicht ohne praktische Bedeutung und Brisanz. Vom Inhalt her geht es häufig um die Entwicklung von Meßinstrumenten, mit deren Hilfe personelle Selektionen für die verschiedenen Personalbereiche der Bundeswehr vorgenommen werden. Vom meßtechnischen scheinen die Auftragsarbeiten aber wohl erheblich besser zu sein als die Entwicklungen der Wehrpsychologie selbst, der eine subjektive, erstarrte und nur scheinbar unpolitische Prüfungspraxis etwa bei den Freiwilligenannahmestellen vorgeworfen wird.

Schlußbemerkung

Die auch durch die notwendige Kürze pointierten Erläuterungen sollen darauf aufmerksam machen, daß eine dringend notwendige kritische Beschäftigung der Sozialwissenschaften mit dem Militär bislang weitgehend unterblieben ist. Dieses Faktum läßt sich erklären; die Erklärung entlastet aber nicht von der Verantwortung, welche die Sozialwissenschaften über die Wahl ihrer Untersuchungsgegenstände und die Art der Analyse gesellschaftspolitisch besitzen. Diese Verantwortung besteht auch dann, wenn sich das Militär und die politisch Verantwortlichen gegen solche Analysen sperren.

Der eingangs geringfügig gekürzte Beitrag ist erschienen in: G. v. Bally (Hg.): Militarisierung der Hochschule? Münster 1986, S. 62-72.

Ralf Zoll ist Hochschullehrer für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/1 1987-1, Seite