W&F 2014/3

Verpasste Chancen

von Jochen Hippler

Die schlechten Nachrichten aus dem Nahen und Mittleren Osten reißen nicht ab. Gerade erst stand das dramatische Vordringen der Terrormiliz »Islamischer Staat«, vor allem im Irak, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dann gab es schon wieder neue Schreckensnachrichten, diesmal vom Gaza-Krieg. Der Arabische Frühling ist offensichtlich vorüber oder zumindest für Jahre auf Halt gesetzt. Das Bild wird nicht länger von einer mitreißenden Dynamik in der Region, vom Sturz mehrerer Diktatoren durch friedliche Massendemonstrationen bestimmt, sondern von Ereignissen wie dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Militärputsch in Ägypten oder den bereits erwähnten Kriegen im Irak und in Gaza. Dabei gerieten sogar der dramatische Staatszerfall und der wachsende Extremismus in Libyen aus dem Blick. Andere Länder, die aus internen oder regionalen Gründen unter schwerem politischen Stress stehen, finden ohnehin kaum noch Beachtung, etwa Libanon, Bahrain oder Jemen. Die Atmosphäre hat sich grundlegend gewandelt: Anstatt Hoffnung auf mehr Pluralismus, Demokratie und politische Freiheit prägt eine Eskalation der Gewaltkonflikte die Situation.

Eine Gemeinsamkeit vieler Länder in der Region tritt seit dem Arabischen Frühling stärker zutage: eine politische Kultur, die Politik als Nullsummenspiel auffasst und nicht auf Konsensbildung, sondern auf gesellschaftliche und politische Dominanz zulasten anderer ausgerichtet ist. Dies soll im Folgenden an den Beispielen Ägypten und Irak näher ausgeführt werden.

Ägypten

Präsident Mubarak wurde 2011 im Kontext einer breiten Massenmobilisierung durch einen Militärputsch gestürzt, als die Militärführung den Eindruck hatte, sie könnte ihre institutionellen (und persönlichen) Eigeninteressen besser ohne das Regime verfolgen. Die sich anschließende Herrschaft des Hohen Militärrates zielte weniger auf die Gestaltung der Zukunft Ägyptens, sondern vor allem auf die Wahrung der eigenen Interessen, die es in eine ungewisse Zukunft hinüberzuretten galt. Darin lag einer der Hauptgründe, warum die Militärführung bald das Vertrauen der meisten Menschen verlor.

Als Präsident Mursi bei der Wahl die Macht errang, hatte sich die Gesellschaft bereits polarisiert: hier eher säkular ausgerichtet, dort eher religiös. Mursi wurde nur von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, und selbst zahlreiche Gegner der gestürzten Mubarak-Diktatur hielten einen prominenten Vertreter des alten Regimes für das kleinere Übel. Als Präsident bemühte sich Mursi bedauerlicherweise nicht um Kooperation und Verständigung mit den liberalen und säkularen Anti-Mubarak-Kräften, sondern glaubte, ohne bzw. gegen diese »durchregieren« zu können.

Anstatt also nach Jahrzehnten der Diktatur sein Augenmerk auf die Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Konsenses zu richten und den Staatsapparat an Haupt und Gliedern demokratisch zu reformieren, versuchten Mursi und die Muslimbrüder, den alten Staat unter Missachtung eines Großteils der ägyptischen Gesellschaft einfach für sich in Besitz zu nehmen. Um sich gegen die Opposition – die säkulare wie salafistische, alte Regimekräfte wie demokratische Revolutionäre – durchzusetzen, wollte Mursi die Repressionskräfte des alten Regimes unreformiert gegen die Opposition in Stellung bringen. Dabei ignorierte er die institutionellen und individuellen Eigeninteressen der Machtapparate von Polizei und Militär und lieferte sich ihnen faktisch aus.

Umgekehrt erwies sich die Opposition als ebenso kurzsichtig. Die säkularen wie die salafistischen Kräfte traten zwar der neuen Arroganz der Macht Mursis entgegen, spalteten die Gesellschaft aber in zwei Lager: pro oder contra Muslimbrüder. Der Kampf für Demokratie und Staatsreformen wurde dem Kampf gegen Mursi untergeordnet. Wie Mursi setzten die Säkularen und die Salafisten auf die alten, unreformierten Repressionsorgane der Diktatur, bemühten sich, diese gegen den gewählten Präsidenten zu instrumentalisieren, und forderten sie schließlich sogar zum Putsch auf. Damit begingen die demokratischen Kräfte Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Nun hatte die Militärführung unter General Sisi das Heft in der Hand: Sie konnte sich zwischen Mursi oder der Opposition entscheiden, die sich beide bei ihr anbiederten. Die Militärs entschieden sich, dem Liebeswerben der säkularen und salafistischen Opposition nachzugeben und den gewählten islamistischen Präsidenten zu stürzen – um kurz darauf den Oppositionsgruppen demonstrativ jegliche relevante Machtbeteiligung zu verweigern. Der Muslimbruderschaft hätten sie Zugeständnisse machen müssen, gegenüber der Opposition waren diese entbehrlich.

Sowohl die Muslimbrüder wie ihre Gegner verschätzten sich also erheblich in der Annahme, ihre eigenen Vorstellungen gegen den Rest der Gesellschaft durchsetzen zu können. Damit servierten sie dem Militär die ganze Macht auf einem silbernen Tablett. Die Schlüsselaufgabe nach dem Sturz Mubaraks – einen neuen gesellschaftlichen und politischen Konsens aller prinzipiell demokratiefähigen und demokratiewilligen Kräfte herbeizuführen und auf dieser Grundlage eine rechtsstaatliche und demokratische Reform aller staatlichen Strukturen in Gang zu bringen – wurde von den zentralen Akteursgruppen in Ägypten nicht einmal ansatzweise wahrgenommen. Diese historische Unfähigkeit der islamistischen wie der säkularen Parteien und Gruppen lud das Militär direkt zum Putsch ein – und dieses nahm die Gelegenheit ohne zu zögern wahr.

Irak

Die Entwicklung im Irak nahm ihren Fortgang unter noch ungünstigeren Bedingungen. Die Diktatur unter Saddam Hussein hatte die irakische Gesellschaft jahrzehntelang gelähmt und traumatisiert. 2003 wurde das Land von US- und einigen verbündeten Truppen besetzt. Da »repräsentative« Politiker im Irak nach dem Krieg nicht zu finden waren (das Parteienwesen und die Zivilgesellschaft waren nach der jahrzehntelangen Diktatur extrem schwach), setzte die US-Regierung darauf, Vertreter »der verschiedenen Bevölkerungsgruppen« zu finden, an die sie die Macht übergeben könnten.

Praktisch bedeutete dies, auf die Suche nach Führungspersonen der ethno-konfessionellen Gruppen (Sunniten, Schiiten, Kurden, andere) zu gehen. Faktisch wurde damit eine Prämie dafür ausgesetzt, sich besonders schiitisch, sunnitisch oder kurdisch zu gebärden. Dies löste einen regelrechten Wettlauf aus, die konfessionellen Unterschiede zu betonen, und trat eine Welle der Ethnisierung los, die sich bald mit dem Krieg vermischte (Krieg gegen die Besatzung, gegen die neue Regierung, zwischen schiitischen und sunnitischen Gruppen, innerhalb dieser um die Führungsrolle, dazu regionaler Jihadismus). 2006/2007, auf dem Höhepunkt der Kämpfe, starben in diesem Krieg monatlich bis zu 3.500 Menschen.

In der Folgezeit begingen die al-Kaida-nahen Jihadisten mit ihrem brutalen Vorgehen selbst in sunnitischen Siedlungsgebieten politischen Selbstmord und wurden von sunnitischen Milzen und Stämmen gejagt und geschlagen; zugleich stellte die extremistische schiitische Mahdi-Miliz ihre Operationen weitgehend ein. So gab es 2009-2011 eine realistische Chance, dass der Irak in ruhigeres Fahrwasser kommen und ein stabiles politisches System herausbilden könne. Die Opferzahlen sanken auf unter 200 pro Monat.

Die Parlamentswahl im Jahr 2010 weckte daher Hoffnung, insbesondere da die sunnitische Gemeinschaft zu einer politischen Reintegration bereit war und sich aktiv an der Wahl beteiligte, oft sogar unter säkularer Führung. In Wirklichkeit markierte die Wahl einen Wendepunkt in der irakischen Politik: Ministerpräsident Maliki bekam nur die zweitmeisten Stimmen, schaffte es aber durch Tricks, wieder zum Regierungschef gewählt zu werden. Seitdem stellte er seine persönlichen Machtinteressen systematisch über die des Irak. Anstatt die Chance zu einer Versöhnung aller Gruppen zu nutzen, setzte er auf die konfessionelle (schiitische) Karte und betrieb eine scharfe Ethnisierung der Politik. Zwar wurden fast alle Kräfte in die Regierung einbezogen, diese war aber gelähmt und handlungsunfähig, während der Ministerpräsident alle Macht an sich zog. Maliki trachtete danach, alle tatsächlichen und potentiellen Gegner auszuschalten, und betrieb eine Politik der Vernachlässigung und Repression vor allem der sunnitischen Gebiete. Sunnitische Spitzenpolitiker wurden unter oft vagen Vorwänden zu »Terroristen« erklärt und verfolgt, teilweise zum Tode verurteilt.

In den sunnitischen Siedlungsgebieten kam es daraufhin zu einer erneuten Radikalisierung, zur Distanzierung von der irakischen Regierung und dem politischen System. Regionale jihadistische Gruppen kehrten zurück, gestärkt durch den Bürgerkrieg in Syrien. Die Terrormiliz »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS), die jetzt schlicht »Islamischer Staat« genannt werden will, nahm einen rasanten Aufschwung. ISIS hat sich dabei wohl auch gegen al-Kaida-nahe Kräfte durchgesetzt, die nicht mehr radikal genug zu sein scheinen. Es gelang ISIS die oft fast kampflose Eroberung großer irakischer Gebiete im Westen und Norden, was weniger auf ihre Stärke zurückzuführen ist, sondern vor allem darauf, dass die Organe des irakischen Staates angesichts des ISIS-Vordringens wegschmolzen wie Schnee in der Sonne. Viele – insbesondere sunnitische – Soldaten sahen keinen Grund, für die Regierung Maliki zu kämpfen, und desertierten bei der ersten Gelegenheit.

Die kurdischen Parteien nutzten diese Chance, ihre Autonomiezone deutlich zu vergrößern und die ölreiche, lange umstrittene Stadt Kirkuk unter ihre Kontrolle zu bringen – die Regierungstruppen hatten die Stadt aus Angst vor ISIS zuvor schnell geräumt.

Transformation vertagt

Heute bestimmen nicht mehr Bemühungen um Demokratie den Nahen und Mittleren Osten, sondern eine Reihe weniger erfreulicher Faktoren: Es ist eine Fragmentierung von Staatlichkeit zu verzeichnen, etwa in Syrien, dem Irak, dem Libanon, Libyen und dem Jemen. Es gibt autoritäre oder diktatorische Tendenzen, vor allem in Ägypten, ebenso in Algerien und unter Bürgerkriegsbedingungen in Syrien, wo Bashar Assad sich heute sicherer fühlen kann als noch vor zwei Jahren. Und es gibt einen dramatischen Wiederaufschwung des Jihadismus, der noch 2011 der große Verlierer des Arabischen Frühlings zu sein schien, in Libyen, Syrien und dem Irak. Auch der ägyptische Militärputsch dürfte zur Radikalisierung des dortigen Islamismus beitragen. Im vergangenen Jahr wurden nicht nur zahlreiche Islamisten eingesperrt und zum Tode verurteilt, es wurden auch über 500 Polizisten und Soldaten getötet.

Die demokratische Transformation des Nahen und Mittleren Ostens ist vorerst vertagt. Es bleibt zu hoffen, dass Islamisten wie Säkulare sich beim nächsten Anlauf erinnern werden, dass diese ohne demokratischen Konsens zwischen ihnen und Inklusion beider nicht gelingen kann.

Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist der Nahe und Mittlere Osten.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/3 Die Kraft der Künste, Seite 5–6