Versachlichte »Staats-Männlichkeit«
Überlegungen zum Geschlechterverhältnis in der Politik
von Birgit Sauer
Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Frieden wird in der Friedensforschung vielfach proklamiert. Dies geht soweit, dass manche Forscher meinen, dass eine der wenigen gesicherten Erkenntnisse der Friedensforschung überhaupt in diesem Zusammenhang zu sehen ist: Demokratien führen keinen Krieg gegeneinander. Ob diese Aussage sinnvoll ist, mag dahin gestellt sein, aber zumindest kann man an ihr anknüpfend das Ziel formulieren, demokratischere Staatswesen als Grundlage für eine Pazifizierung entwickeln zu wollen. Im Blickwinkel unseres Schwerpunktheftes liegt damit die Frage auf der Hand, wie der patriarchale Staat zu demokratisieren ist.
„Ich sehe in dieser inneren Kraft, die sich mehr an das Amt als an den Beamten, mehr an den Mann als an die äußeren Zeichen seiner Macht knüpft, etwas Männliches, das ich bewundere“, so beschreibt der scharfsinnige Analytiker Alexis de Tocqueville (1997: 121) im Jahr 1835 die amerikanische Demokratie. Der Prozess der Modernisierung, Rationalisierung und Demokratisierung des Staates war offenbar ein Prozess der Vermännlichung. Die „subjektlose Gewalt“, wie Heide Gerstenberger (1990) den modernen, „entpersonalisierten“ Staat nennt, hat doch ein Geschlecht: Er ist männlich.
In der wissenschaftlichen Behandlung war der Staat immer ein (geschlechter-) schillerndes Gebilde. Unbestritten stehen am Beginn der politischen Moderne im 17. und 18. Jahrhundert die Institutionen des (National-)Staates und diese gründen auf Frauenausschluss und auf die Herrschaftsform »Männlichkeit« als grundlegende Strukturmuster. Den Staatstheoretikern des 19. Jahrhunderts Bluntschli und Riehl war dies noch Normalität. Insbesondere konservative Staatstheoretiker der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts luden den Staat geschlechtlich auf, um seine demokratische und sozialstaatliche Transformation anzuprangern – sie fürchteten seine »Feminisierung«: Arnold Gehlen (1969: 184) witterte die Gefahr, dass mit der Expansion sozialstaatlicher Regelungen der starke Leviathan zu einer »Milchkuh« mutiere. »Vater Staat« sei, so kann man paraphrasieren, unversehens dabei, durch »Mutter Staat« pervertiert zu werden. Der soziologische Analytiker moderner Staatlichkeit, Max Weber, verließ sich denn auch vergleichsweise unverblümt auf diese maskulinistische Institutionalisierungsform moderner Staatlichkeit und forderte mit all seiner Polemik auf, wer die Entzauberung der Welt „nicht männlich ertragen“ könne, der solle in die Arme der Kirche zurückkehren (Weber 1973: 612).
Nach wie vor ist offensichtlich: Zwar sind die vergangenen drei Dekaden durch eine partizipatorische Mobilisierung von Frauen in westlichen Industriegesellschaften gekennzeichnet und Politik wurde für Frauen ein Beruf wie jeder andere »Karriereberuf«, doch haben die Zentren staatlich-politischer Macht nach wie vor überproportional hohe »Männerquoten«. Die »gläserne Decke«, die den beruflichen Erfolg von Frauen bremst, scheint in der Politik eher aus Beton gefertigt. Frauen sind im politischen Prozess noch immer institutionell marginalisiert und gerade die moderne staatliche Dementierung von Geschlechterdifferenz produziert Ungleichheit qua Geschlecht.
Die politische Geschlechtssegregation hängt ohne Zweifel mit den staatlichen Strukturen und Institutionen zusammen – Staat und Geschlecht stehen in einem »schwierigen Verhältnis«: Der moderne Staat war historisch ein aktiver Verhinderer von Geschlechtergleichstellung – und dies tradierte sich bis ins 21. Jahrhundert. Die verspäteten und zögerlichen Gesetzgebungen zur arbeitsrechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, ein zahnloses Gleichstellungsgesetz, die Persistenz von Geschlechterdiskriminierungen in der Sozialgesetzgebung und ein frauenfeindliches Abtreibungsrecht sind Indizien dafür, dass im deutschen Staat Männlichkeit nach wie vor in hartnäckiger Weise eingelassen ist. Korporatistische Politik-Strukturen, die Verhandlungspolitik der Sozialpartnerschaft, erweisen sich als besonders maskulinistisch.
Dennoch wäre es vereinfachend, das Verhältnis zwischen Frauen und Staat als bloßen Ausschluss zu charakterisieren, denn historisch sind »Feminisierungswellen« staatlicher Politiken und Institutionen, wenn auch unter maskulinistischem Vorbehalt, durchaus feststellbar. Nicht zuletzt der patriarchale Wohlfahrtsstaat ist ein Beispiel für die paradoxe Integration von Frauen in den modernen Staat: Er war und ist trotz aller Diskriminierungen eine der Bedingungen für die gesellschaftliche und politische Subjektwerdung von Frauen. Er schwächte die männliche Dominanz in Ehe und Familie und ermöglichte Frauen partielle ökonomische Unabhängigkeit. Die Gleichstellungspolitik modifizierte den androzentrischen Code staatlicher Institutionen und Bürokratien zumindest partiell und Frauen erhielten leichteren Zugang zum öffentlichen Raum.
Frauen sind also zwar nach wie vor politisch unterrepräsentiert, sie haben aber inzwischen eine »kritische Masse« in der Politik erreicht und sind eigentlich auch für die Wissenschaft »unübersehbar«. Nach wie vor aber existieren weit gehend unhinterfragte Erklärungsroutinen, die weibliche politische Unterrepräsentation allein außerhalb des Politischen – beispielsweise in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung – verorten und damit den Geschlechterdualismus in Staat und Politik ignorieren und perpetuieren. Feststellbar ist also ein »scientific lag« in der wissenschaftlichen Bereitstellung von Kategorien und Konzepten zur Aufarbeitung der Struktur, Funktion, aber auch der Veränderung von Staatlichkeit und Geschlechterverhältnissen.
Meine folgenden Überlegungen zum Geschlechterverhältnis in der Politik und zum Staat als Geschlechterverhältnis enthalten eine Prämisse, nämlich die des Zusammenhangs von Demokratie und Staat. Demokratietheorie sollte deshalb, so mein Ausgangspunkt, eine Staatstheorie als Fundament in die wissenschaftliche Erwägung ziehen – und umgekehrt. Normativ geht es mir im Folgenden um die politische Anerkennung und Repräsentation von Geschlechterdifferenz im Staat, d.h. um die gleichberechtigte Integration von Männern und Frauen, um die Anerkennung von männlichen und weiblichen Identitäten, Symbolen und Diskursen. Analytisch braucht dieses Unterfangen den Entwurf einer kritischen Theorie der staatlichen Produktion von hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit.
Sehnsucht nach »Väterchen Staat«? Zur Aktualität einer staatstheoretischen Sicht auf Geschlechterverhältnisse
Der Bedarf an einer feministischen Staatstheorie wird am Ende von „grand narratives“ vielfach abschlägig beschieden. Die Ansatzhöhe sei deutlich zu hoch: »Staat« sei eine zu abstrakte, zu hochaggregierte und zu hermetische Kategorie, als dass sie die vielfältigen, heterogenen Aspekte des Frauenalltags erfassen könnte. Auch wenn diese Sicht durchaus plausibel erscheint, wäre m.E. die Nichtbefassung mit dem Staat eine wissenschaftliche und politische Nachlässigkeit, denn nach wie vor durchdringt er den Alltag von Frauen und Männern. Und mit dispersen Konzepten von Staatshandeln geht die herrschaftliche Dimension des Staates, gehen die spezifischen Einschreibungen von ungleichen Geschlechterregimen verloren.
Meine Argumentation für ein feministisches Staatskonzept nimmt darüber hinaus ihren Ausgang in einer Skizze des Problemfeldes, aus dem heraus sich die Notwendigkeit einer geschlechtssensiblen Präzisierungsarbeit am Staatsbegriff ergibt, namentlich aus den politischen Entwicklungen, den ökonomischen und sozialen Transformationen seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Seither ist der Staat „ins Gerede gekommen“. Neoliberale Debatten unter dem Signum der »Globalisierung« fordern einen »Formwandel« der staatlichen Architektur. Der Staat scheint flüssig, vor allem aber überflüssig zu werden. Die als »Verschlankung« des Staates bezeichnete Praxis staatlicher Deregulierung ist freilich missverständlich: Es geht nicht um einen einfachen Rückbau staatlicher Leistungen, sondern um eine „politische Revolution“ (Brodie 1994: 50), nämlich um die Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Ökonomie, Gesellschaft bzw. Privatheit und Staat. Der Staat solle sich aus gesellschaftlichen Prozessen, vor allem aus dem Marktgeschehen, zurückziehen, da staatliche Regulierung nicht nur den Wettbewerb verzerre, sondern auch gesellschaftlichen Wohlstand nur noch unzureichend garantieren könne. Doch zwischen der Skylla des bürokratischen und disziplinierenden Staates und der Charybdis des ausbeutenden, dezivilisierenden kapitalistischen Marktes werden nun nicht nur in feministischen Kritiken des Neoliberalismus die vermeintlich sicheren Ufer von »Väterchen Staat« als »Ausweg« gesucht. Während der patriarchale Staat lange Zeit als Referenzpunkt für emanzipatorische Politik abgelehnt wurde und vielmehr auf die Zivilgesellschaft, auf »Autonomie ohne Institutionen und Staat« gesetzt wurde.
Der Neuentwurf von Staatlichkeit am Beginn des neuen Jahrtausends, dem also prinzipiell die Chance von Entbürokratisierung und von geschlechtergerechter gesellschaftlicher Selbstorganisation innewohnen könnte, besitzt aber m.E. einen misogynen Subtext, wie er beispielsweise in der symbolisch-diskursiven Abwertung des »feminisierten« Wohlfahrtsstaates zum Ausdruck kommt. Auch die Wiederbelebung des Konzepts »Zivil- bzw. Bürgergesellschaft« ist die diskursive Begleitmusik zur Grenzneuziehung zwischen Staat und Gesellschaft und zur intensiveren Ausschöpfung der »Ressource Bürgerin«.
Diese widersprüchlichen Debatten und Entwicklungen setzen die Arbeit an einem kritischen Staatskonzept auf die wissenschaftliche Agenda. Meinen Ausführungen vorausschicken möchte ich, dass es keine großformatige Geschlechtertheorie des Staates und der Demokratie geben kann, die darüber hinaus noch überall auf der Welt Gültigkeit hätte. Mir geht es im Folgenden vielmehr darum, Hinweise auf eine kritische Entschlüsselung von Staat, Demokratie und Geschlecht zu geben, die dann in historischer und kultureller Perspektive zu differenzieren wären.
Die Entstehung des Staates aus den Geschlechterverhältnissen
Was ist nun der Staat? Wenn Politik einen Raum der Debatte bezeichnet, so ist Staat jener Raum der Entscheidung und der Durchsetzung von Entscheidung zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung. Der Staat umfasst jene Organisationen, Verfahren und Diskurse, die gesellschaftliche Ordnung verbindlich regeln, institutionalisieren und legitimieren, also hegemonial werden lassen. Der Staat ist mehr als die Summe von Regierungsinstitutionen, von staatlichen Akteuren und von Regeln. Ein solches »starkes« Staatskonzept muss in erster Linie soziale Verhältnisse – eben auch Geschlechterverhältnisse – als Konstitutionsbedingungen von Staatlichkeit zu erschließen in der Lage sein. Dazu wiederum bedarf es einer entscheidenden Differenzierung – jener zwischen dem Staat als Apparat, Institutionengefüge und Akteurskonstellation und der Staatlichkeit als Staatsmacht, als Herrschaftsgefüge und machtvollem Diskurs. Beide Aspekte zusammen lassen »den« Staat entstehen, und beide gemeinsam machen die Geschlechtlichkeit »des« Staates aus.
Zwischen Staat und männlicher Herrschaft gibt es nun Homologien, nicht aber einen einzigen Mechanismus, der den maskulinistischen Charakter des Staates ausmacht, wie der Privatbesitz im kapitalistischen Staat. Staat und männliche Herrschaft sind weder einheitlich noch sind sie in einem eindeutigen Verstärkereffekt aufeinander bezogen. Moderne Staaten haben zwar historisch die Gleichsetzung von staatlicher Autorität und hegemonialer Männlichkeit institutionalisiert und Staatsstrukturen sind auch heute ganz offensichtlich »bemannt«, doch die Männlichkeit des Staates beruht nicht allein auf »positionaler« Männlichkeit, d.h. auf der Quantität von Männern. Vielmehr ist eine strukturelle »Staats-Männlichkeit«, in der Weberschen Begrifflichkeit habe ich dies „versachlichte Männlichkeit“ genannt, in politische Normen, Praktiken und Institutionen eingelassen. Ein kritisches Staatskonzept sollte nun die Reproduktionsmechanismen eben dieser versachlichten Männlichkeit erklären können. Anders gesagt: Es sollte die staatliche Hegemonialisierung von Männlichkeit und die Abwertung von Weiblichkeit sichtbar machen.
Ich möchte im Folgenden acht Essentials eines Staat-Konzepts skizzieren, das die unterschiedlichen Dimensionen von Staatlichkeit und damit verwoben von »Staats-Männlichkeit« bzw. maskulinistischer Zweigeschlechtlichkeit sichtbar machen soll.
Der Staat ist erstens ein institutionell-korporatives „Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber 1980: 515), er ist ein Apparat und mit apparateigenen Herrschaftsmechanismen ausgestattet – nämlich der Bürokratie. In bürokratischen Institutionen ist historisch eine geschlechtsspezifische bürokratische Identität eingraviert, die hegemoniale Männlichkeit als Machtmuster reproduziert.
Mit Mary Douglas (1991: 121, 31) kann man von einem maskulinistischen Denkstil sprechen, der in die Verfahrensweisen, in Symbole und Traditionen, in den innerinstitutionellen Habitus staatlicher Verwaltung eingelagert ist. Er entspricht der Erfahrungswelt von hegemonialen Männern, deren Normen und Werte jahrzehntelang die institutionelle Praxis prägten. Dieser männliche Denkstil trägt dazu bei, das »Denkkollektiv« und damit die persönlichen Netzwerke von Männern in ihren überkommenen Formen der Homosozialität und Homosexualität zu erhalten und Wandel nicht denkbar zu machen. Das vermeintlich entemotionalisierte Regelsystem ist Teil der Grammatik der Männlichkeit staatlicher Bürokratie.
Der Staat ist zweitens nicht nur Staatsapparat, sondern auch Staatsmacht. Er ist eine soziale Herrschaftsstruktur, in die auch die Staatsbeamten und -beamtinnen eingebettet sind. Dieser Aspekt ist mit dem politischen Institutionenkonzept zu erschließen. Der Staat ist eine politische Institution, nämlich ein „Regelsystem der Herstellung und Durchführung verbindlicher gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen“ und er ist „Instanz der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft“ (Göhler 1994: 26). Diese Orientierungsleistung macht die Macht des Staates aus. Im Prozess der Herstellung sozialer Orientierung, im „symbolischen Kampf“ – und hier spielen Parteien und Medien eine große Rolle –, entsteht nicht nur staatliche Macht, sondern auch das Symbolsystem Männlichkeit bzw. Zweigeschlechtlichkeit. Entscheidung und Orientierung greifen auf historisch tradierte Männlichkeitsmuster zurück und sie stellen aufgrund positionaler Männlichkeit immer wieder die männliche Struktur her bzw. repräsentieren sie. Staatliche Repräsentationsverhältnisse sind somit hegemoniale Geschlechterverhältnisse: Männlichkeit ist eine historisch tradierte »Leitidee«, mithin das »Fundament« der Institution Staat. Der politische Willensbildungsprozess basiert auf diesen Hegemonialverhältnissen: Männliche Identitäten und Interessen werden repräsentiert, weibliche hingegen vornehmlich symbolisiert. Sie sind dadurch politischer Durchsetzungskraft entzogen.
Der Staat ist drittens die Verdichtung und Institutionalisierung eines sozialen Verhältnisses (vgl. Poulantzas 1978: 119) – in unserem Fall eines geschlechtsspezifischen Ungleichheitsverhältnisses. So, wie die Kapitalakkumulation der politischen »Regulation«, beispielsweise durch den Wohlfahrtsstaat, bedurfte um reibungslos zu funktionieren, musste auch die Akkumulation männlicher Macht unter der Kondition politischer Gleichheit reguliert werden – in Normen und Institutionen, die die Geschlechterungleichheit nicht thematisieren. Die soziale Grundlage von demokratischer Staatlichkeit bildet ein relativ stabiler sozialer Geschlechter»kompromiss«, d.h. ein hegemoniales Konstrukt von hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit. Die Teilung der Arbeit und die Trennung von Öffentlich und Privat – Grundlagen unseres Geschlechterregimes – fungieren dann gleichsam als Sparschweine männlicher politischer Macht.
Viertens ist der Staat aber nicht ein schlichtes Spiegelbild von Geschlechterverhältnissen, sondern eine »gesonderte« Institution, ein spezifisch politisches Gebilde, das eigene »Interessen« entwerfen und realisieren kann – auch solche, die dem traditionellen Geschlechterregime, dem zivilgesellschaftlichen Geschlechterkompromiss widersprechen. Seine Autonomie ergibt sich nicht zuletzt aus den widersprüchlichen Interessen einzelner Staatsapparate. Die Widersprüche bieten wiederum widerständige Anknüpfungspunkte für feministische Politik, sie stecken aber zugleich die Grenzen staatlicher »Feminisierung« ab. Aus dieser Ambivalenz ergeben sich die typischen Ungleichzeitigkeiten der Regulierung von Geschlechterdifferenz.
Fünftens: Nicht nur Regierungen und Beamte sind Organisationen und Akteure des Staates, sondern auch historisch sedimentierte machtvolle Netzwerke, in die die autonomen staatlichen Akteure eingebunden sind – wie Verbände und korporatistische Aushandlungsprozesse. Regierungsinstitutionen agieren nicht beliebig neben- und miteinander, sondern in einem Feld strategischer und struktureller Selektivität, das durch unterschiedliche Machtressourcen definiert ist.
Die staatliche Akteurskonstellation besitzt also stets verfestigte Herrschafts- und Strukturmuster, so genannte historisch entstandene „Staatskristallisationen“ (Mann 1998: 100), wie beispielsweise die repräsentative, die korporatistische oder die neoliberale. Auch »Männlichkeitskristalle« – männliche Netzwerke, um weniger poetisch zu sein, prägen eine maskulinistische »Pfadabhängigkeit« des Staatshandelns: Weil die »Kosten« des Abbaus von prästabilierter Männlichkeit hoch sind, neigen staatliche Institutionen dazu, diese tradierten Strukturmuster zu konservieren, um die »Kosten« zu minimieren. Im Sinne einer »Ökonomie der Macht« kommt staatliche Männlichkeit kostengünstiger.
Sechstens bezeichnet im neo-gramscianischen Kontext der Staat jene Herrschaftsform, die aus dem Willen zu politischer Ordnung in der Zivilgesellschaft erwächst, sich dann „besondert“ und darum bemüht ist, sich zu „normalisieren“, sprich: hegemonial zu werden (vgl. Gramsci 1991: 783). Der Staat ist der (Selbst-)Entwurf der Zivilgesellschaft zur politischen Steuerung bzw. zu politischer Herrschaft (vgl. auch Demirovic 1997). Staat und Zivilgesellschaft sind also keine gegensätzlichen Strukturen, vielmehr formieren sich Herrschaftsverhältnisse in der Zivilgesellschaft und bilden sich in (staatlichen) Strukturen ab bzw. aus. Geschlechterhegemonie in der Zivilgesellschaft lässt einen maskulinistischen Staat entstehen. Der Staat ist deshalb ebenso frauenfreundlich oder genauso maskulinistisch wie die Zivilgesellschaft und umgekehrt: Die Zivilgesellschaft kann nicht als frauenfreundliche Anti-Struktur zum Staat betrachtet werden. Antipatriarchale Demokratisierung kann sich deshalb auch nicht auf eine Arbeitsteilung im Sinne Iris Marion Youngs (1999: 142) einlassen, die vorschlägt, dass Geschlechtergerechtigkeit als self-determination (Selbstbestimmung) besser durch Institutionen der Zivilgesellschaft hergestellt, Gerechtigkeit als self-development (Entwicklung) hingegen durch staatliche Infrastruktur ermöglicht werden solle.
Siebtens entsteht der Staat aus Diskursen, d.h. er muss stets neu hergestellt und reproduziert werden, und gerade deshalb ist er auch veränderbar. Staatliche Politiken entstehen in einem Geflecht ganz unterschiedlicher diskursiver Arenen. Diese Diskurse können die Form von Expertendiskursen der Politik, der Wissenschaft und der Wirtschaft annehmen oder aber die Form einer Politisierung „von unten“, eines anti-hegemonialen Projekts (Fraser 1994: 264f.).
Der Staat als männlich-hegemonialer Diskurs zielt auf die »Normalisierung« von Lebensführung und Mentalitäten, auf die »Selbsterfindung« des Subjekts unter herrschaftlich-zweigeschlechtlichen Bedingungen. Der Staat dringt gleichsam in die diskursiven, semiotischen Räume der Menschen ein und generiert dadurch »Staatssubjekte«. Zwei Beispiele hierzu: Der bürokratische Diskurs – instrumentelle Rationalität, Hierarchie und Kult der Experten – entwertet Praktiken, die mit unmittelbaren Bedürfnissen und Fürsorge zu tun haben (vgl. Brown 1992: 14). Kapitalistische Staatsdiskurse »normalisieren« erwerbszentrierte Biographien und marginalisieren Nicht-Erwerbstätigkeit. Das Diskurskonzept macht nun aber auch die Transformation von Staatlichkeit analytisch fassbar: Die aktuellen Verschiebungen des Staatsdiskurses – Effektivierung, Rentabilität, Europäisierung – schaffen möglicherweise diskursive Räume auch für eine Neuformatierung des Geschlechterverhältnisses.
Achtens ist die Maskulinität des Staates das Ergebnis konkreter sozialer Praktiken. Michel Foucault (2000: 69) entwickelte, wie er in einem Text schreibt, gleichsam eine „Staatsphobie“: Er verwirft den Staatsbegriff und entwirft das Konzept der „Gouvernementalität“ als Konnex von (Selbst-)Regieren (gouverner) und Denken/Fühlen (mentalité). Dieses Konzept bringe die Tatsache des „bewegliche(n) Zuschnitt(s) einer ständigen Verstaatlichung“ – also den Staat als Praxis – weit treffender zum Ausdruck. Der Staat ist nicht nur eine den Individuen äußerliche institutionelle Struktur, sondern sitzt in den Köpfen und Körpern der Menschen: Staatlichkeit ist eine »hegemoniale« Praxis, die bestimmte Identitäten und Interessen präferiert oder aber marginalisiert und desartikuliert.
Der Staat muss also „in der Gesellschaft gelebt werden“, sonst ist er nicht. Er muss von Frauen und Männern gemacht werden, er muss „Bestandteil der alltäglichen Lebensweise“ werden, „damit er Herrschaft verkörpern und ausarbeiten kann“ (Demirovic 1987: 150). Die BürgerInnen müssen also an die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Staates glauben, sie herstellen und reproduzieren, damit der Staat besteht.
Fazit: Die »Entstehung des Staates aus den Geschlechterverhältnissen« heißt, dass Staat und Geschlecht sich gegenseitig konstituierende diskursive Formationen, Praxen und Institutionen sind, dass der Staat kein geschlechtsneutrales Instrument ist. Der Staat ist sowohl eine filternde und strukturierte Struktur, er ist aber auch eine strukturierende und produktive Struktur, ein Feld, das Identitäten und Institutionen hervorbringt – nicht nur der abzulehnende »patriarchale Staat«.
Staatlichkeit zeichnet sich durch die Macht aus, Phänomene zu vergeschlechtlichen – und zwar in explizit geschlechtlicher oder in geschlechtsneutraler Weise –, indem sie gesellschaftliche Räume öffnet und schließt, männliche Interessen aus der so genannten Privatsphäre heraus hebt, weibliche in ihr verschwinden lässt.
Entstaatung und Demokratisierung. Chancen des Abbaus von »Staats-Männlichkeit«?
Was heißt nun diese Konzeptualisierung von Staatlichkeit für eine geschlechtersensible Demokratisierung von Politik? Wir begegnen bei der Beantwortung dieser Frage folgendem Paradox: Ohne eine radikale »Entstaatung«, i.e. ohne den Abbau staatlicher Herrschaftsstrukturen und ohne institutionellen Wandel, kann es keine geschlechtersensible, frauenfreundliche Demokratisierung geben. Umgekehrt freilich gilt nicht, dass sich »ohne Staat« automatisch Demokratie herstellt: Demokratie ist vielmehr ein Projekt, das in ständigen Auseinandersetzungen, auch in ständigen Staatsdiskursen entsteht. Demokratie ist in diesem Sinne nicht zu »institutionalisieren«, sie ist nur vorübergehend »auf Dauer zu stellen«.
Aus der Vielschichtigkeit von Staatlichkeit ergibt sich eine Multidimensionalität von Demokratisierungsstrategien. Ich will abschließend stichwortartig einige Hinweise für dieses Demokratisierungspuzzle entlang meiner acht Staatsessentials geben.
Erstens: Notwendig ist eine Feminisierung staatlicher Organisationen und Bürokratien im Sinne einer „Politik der Präsenz“ (Phillips 1995). Durch Quotierungen lassen sich die Zugänglichkeit und Inklusivität politischer Institutionen erhöhen wie auch der maskulinistische Code staatlicher Bürokratien, die „nested rules“ transformieren. Dadurch ist auch eine höhere Responsivität staatlicher Institutionen möglich.
Zweitens: Wichtig ist eine »Entmännlichung« des staatlichen Repräsentationsverhältnisses, d.h. ein Wandel von der Symbolisierung zur Repräsentation von Weiblichkeit und von Frauen. Es bedarf also politischer Verfahren der Sichtbarmachung der Geschlechterdifferenz. Eines dieser Verfahren kann das viel zitierte Gender Mainstreaming sein. Damit könnte die Verantwortlichkeit politischer Institutionen für Geschlechtergerechtigkeit gesteigert werden.
Drittens: Unabdingbar ist eine Transformation des sozialen Geschlechterkompromisses. Demokratisierung kann also nicht allein auf den politisch-staatlichen Bereich begrenzt bleiben. Westliche Demokratien haben vielmehr einen Bedarf an einer neuen Debatte über die Demokratisierung von Familie, Arbeitsverhältnissen, Bildung und Gesundheit.
Viertens: Ein Anknüpfen an Staatswidersprüche impliziert den formbewussten frauenpolitischen Bezug auf und die Einmischung in staatliche Aushandlungsprozesse. Ein Beispiel für einen solchen Aushandlungsprozess ist die Biotechnologiedebatte und die darum geführte Regulierungsdiskussion, die derzeit noch völlig »ent-geschlechtlicht« verläuft.
Fünftens: Im Sinne einer Ökonomie der Macht bedarf es einer institutionellen »Verteuerung« von Männlichkeit. Maskulinistische Aushandlungsprozesse und korporatistische Netzwerke dürfen nicht länger »kostengünstig« erscheinen, sondern müssen durch geschlechtersensible Verfahren (z.B. Quotierung, Gender Mainstreaming) zum inflationären Erodieren gebracht werden.
Sechstens: Demokratische Transformation muss in der Zivilgesellschaft beginnen: Dort kann Gegenhegemonie gegen maskulinistische Hegemoniestrukturen ausgebildet werden. Sie kann sich aber damit nicht bescheiden.
Siebtens: Staatsdiskurse müssen aktiv gegenhegemonial »feminisiert« werden. Das neoliberale Staatsprojekt sollte um den »Gleichberechtigungsstaat« ergänzt werden. Dies ist die Aufgabe feministischer Wissenschaft im Bündnis mit anderen Expertendiskursen und Öffentlichkeiten.
Achtens: Demokratie ist politische Praxis, ist politischer Habitus und nicht nur Verfahren. Nötig sind mithin politische Institutionalisierungen, um Demokratie zu leben, zu ermöglichen. Es bedarf der Voraussetzungen, damit Bürger und Bürgerinnen zu Citoyens und Citoyennes werden können.
Literatur:
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Brown, Wendy (1992): Finding the Man in the State. In: Feminist Studies. 18. Jg, H. 1, 7-34.
Demorovic, Alex (1987): Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung. Hamburg, Argument-Verlag.
Demirovic, Alex (1997): Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie. Münster, Westfälisches Dampfboot.
Douglas, Mary (1991): Wie Institutionen denken. Frankfurt/M., Suhrkamp.
Foucault, Michel (2000): Staatsphobie. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susann/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M., Suhrkamp, 68-71.
Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken. Frankfurt/M., Suhrkamp.
Gehlen, Arnold (1969): Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Abgedruckt in: Münkler, Herfried, (Hg.) (1999): Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. München/Zürich, Piper, 183-185.
Gerstenberger, Heide (1990): Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Münster, Westfälisches Dampfboot.
Köhler, Gerhard (1994): Politische Institutionen und ihr Kontext. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen. In: Ders. (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie. Baden-Baden, Nomos, 19-46.
Gramsci, Antonio (1991): Gefängnishefte. Bd. 1. Hamburg, Argument-Verlag.
Mann, Michael (1998): Geschichte der Macht. Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten. Band 3. Teil 1. Frankfurt/M./New York, Campus.
Phillips, Anne (1995): Geschlecht und Demokratie. Hamburg, Argument Verlag.
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Tocqueville, Alexis de (1997): Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart, Reclam.
Weber, Max (1973): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, Mohr.
Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen, Mohr, 5. Auflage.
Young, Iris Marion (1999): State, civil society and social justice. In: Shapiro, Ian/Hacker-Cordon, Casiano (Hg.): Democracy‘s Value. Cambridge, Cambridge University Press, 141-162.
Prof. Dr. Birgit Sauer lehrt am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien