W&F 2016/2

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

von Andreas Zumach

Abbau, Fortsetzung oder gar Verschärfung der Konfrontationspolitik mit Russland – vor dieser Alternative steht der NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau. Die polnischen Gastgeber rufen am lautesten nach einer Verschärfung der Konfrontation, die noch über die bereits beschlossenen Maßnahmen sowie die von den USA angekündigten unilateralen Schritte hinaus gehen soll, bis hin zu einer dauerhaften Stationierung von NATO-Truppenverbänden und Waffen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Das wäre ein klarer Verstoß nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen die Buchstaben der 1997 zwischen der damals noch rein westlichen Militärallianz und Russland vereinbarten Grundakte, in deren praktischen Umsetzung 2002 der NATO-Russland-Rat etabliert wurde. Mit der Grundakte wollte die NATO Moskaus Bedenken gegen die Osterweiterung der Allianz beschwichtigen, die beschlossen und vollzogen wurde unter Bruch des Versprechens, mit dem die Regierungen Kohl/Genscher und Bush/Baker im Februar 1990 die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung erlangt hatten.

Die Regierung Merkel/Steinmeier gehört unter den 28 NATO-Mitgliedern zu den stärksten Befürwortern einer Wiederannäherung an Moskau und des Abbaus statt einer Verschärfung der Konfrontationspolitik. Allerdings wird diese Linie manchmal von den Aufrüstungsankündigungen der profilneurotischen Militärministerin und Kanzleramtsaspirantin von der Leyen torpediert.

Doch von ihr und einigen antirussischen Ideologen sowie Lobbyisten der Rüstungsindustrie abgesehen hat sich in Berlin inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass der im Frühsommer 2014 von der NATO eingeschlagene Konfrontationskurs gegenüber Moskau gescheitert ist: Weder die Suspendierung des NATO-Russland-Rates und der russischen Mitgliedschaft in der G8 noch die von den USA und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Moskau konnten die Regierung Putin zur Korrektur ihrer Ukrainepolitik bewegen. Deshalb war es ein richtiger erster Schritt, dass die NATO im April erstmals seit zwei Jahren wieder Beratungen mit Russland im Rahmen des NATO-Russland-Rates führte.

Doch dieser erste Schritt reicht nicht aus, um die Eskalationsdynamik der letzten zwei Jahre wirklich zu beenden und umzukehren. Diese hat inzwischen ein gefährliches Niveau und eine Eigenlogik erreicht, die immer mehr an den Kalten Krieg erinnern. Das gilt für die operativen Maßnahmen im militärischen Bereich (Manöver, Truppenverlegungen, gezielte Provokationen, z.B. durch Luftraumverletzungen, sowie konventionelle wie atomare Aufrüstungsprojekte) ebenso wie für die Sprachmuster der gegenseitigen Vorwürfe und Bedrohungsbehauptungen, mit denen die eigenen militärischen Eskalationsmaßnahmen begründet werden.

Die NATO könnte auf ihrem Warschauer Gipfel einiges tun, um die negative Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu beenden. Eine eindeutige Entscheidung, dass die vom Gipfeltreffen 2008 beschlossene Option für einen Beitritt der Ukraine, Georgiens und Moldawiens nicht mehr besteht, wäre ein sehr wichtiges Entspannungssignal, das Moskau zu einem Ende der hybriden Kriegsführung in der Ukraine bewegen könnte. Um die seit zwei Jahren ständig wachsende Gefahr ungewollter militärischer Zusammenstöße zu verringern, sollte die NATO Moskau ein Moratorium für Manöver beider Seiten in der Ostsee und im Schwarzen Meer sowie im grenznahen Luftraum vorschlagen.

Hilfreich für einen Entspannungsprozess wären auch Moratoriums- oder Verhandlungsvorschläge für die geplanten oder bereits angelaufenen Aufrüstungsprojekte beider Seiten im atomaren und konventionellen Bereich sowie über die Vereinbarung dauerhaft militärfreier Zonen beiderseits der Landgrenzen zwischen Russland und den osteuropäischen NATO-Staaten. Auf diese Weise ließe sich auch das Abkommen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte (KSE) von 1990 noch retten.

Mit derartigen Initiativen könnte der NATO-Gipfel den russischen Präsidenten Putin, der in der eigenen Bevölkerung eine viel größere Unterstützung für seine bisherige Ukrainepolitik erfährt als die Regierungen der NATO-Staaten, zu Schritten der Deeskalation unter Wahrung des eigenen Gesichts bewegen. In der längerfristigen Perspektive eines solchen Entspannungsprozesses läge dann auch ein neues, diesmal von der OSZE oder den Vereinten Nationen durchgeführtes Referendum über die Zukunft der Krim, mit dem die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland korrigiert würde.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. Er ist Mitglied im Beirat von W&F.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/2 Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume, Seite 5