W&F 2003/3

Verteidigungspolitik ade

Bundeswehreinsätze im Innern und weltweit

von Tobias Pflüger

Die zeitliche Abfolge der Ereignisse ab dem 19. Mai 2003 war wohl eher Zufall, trotzdem macht es Sinn, sie politisch zusammen zu bewerten: Am 19. Mai 2003 hielt Johannes Rau seine »Berliner Rede«, diesmal eine außenpolitische Grundsatzrede, ebenfalls am 19. Mai wurde die neue EU-Interventionstruppe für teilweise einsatzfähig erklärt, am 21. Mai stellte Verteidigungsminister Peter Struck die schon länger erwarteten neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vor, am gleichen Tag einigten sich SPD und CDU/CSU auf die Grundlinien eines so genannten Bundeswehr-Entsendegesetzes und ebenfalls am 21. Mai genehmigte der Bundestags-Haushaltsausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen den Kauf von 60 Militär-Airbussen 400 M für insgesamt 8,3 Milliarden Euro. Eine wahrhaft militärisch dominierte Woche. Politisch zentral war die Vorlage der neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« (VPR).
Mit den Worten „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ kündigte Peter Struck im Bundestag am 05.12.2002 neue »Verteidigungspolitische Richtlinien« (VPR) für Frühjahr 2003 an. Wegen des Irakkrieges wurde die Vorlage verschoben. Am 25.04.2003 veröffentlichten die Tageszeitungen »Die Welt« und »Süddeutsche Zeitung« jeweils Auszüge aus einem Entwurf der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«. Am meisten Schlagzeilen machte dabei der im Entwurf formulierte geplante Einsatz der Bundeswehr im Innern.

Bundeswehreinsatz im Innern

Obwohl es am Bundeswehreinsatz im Innern zum Teil deutliche Kritik gab, blieben diese Passagen im wesentlichen unverändert. In den jetzt vorgelegten VPR heißt es: „Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann.“ (80)1 Damit ist das bisherige Tabu eines Bundeswehreinsatzes im Innern gefallen. Bisher galt, dass die Bundeswehr nur »im Spannungsfall« im Innern eingesetzt werden darf, für die Aufgaben im Innern war allein die Polizei zuständig.

Abschied von der Landesverteidigung

„Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.“ (12) So heißt es in den neuen VPR und damit wird offiziell Abschied genommen vom Grundgesetz, in dem es in Artikel 87a Absatz 1 heißt: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“ und in Absatz 2: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Sehr freundlich bezeichnete der Berliner Jura-Professor Christian Pestalozza die neuen VPR als »verfassungsfern«. Der Regierung ist das Problem mit der Verfassung offensichtlich bewusst: So heißt es gleich unter Punkt 1 in den VPR: „Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr und die daraus resultierenden konzeptionellen und strukturellen Konsequenzen entsprechen dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat.“ Und: „Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein.“ Mit Strucks Richtlinien werde so Pestalozza, der enge Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes aufgeweicht und die Verfassung überdehnt. „Wer die Einsätze über das bisherige Maß ausdehnen will, muss das Grundgesetz ändern. Die Landesverteidigung ist nach dem Grundgesetz das Hauptziel der Streitkräfte. Struck argumentiert, dass alles Landesverteidigung ist, egal was wo passiert. Das ist vom Grundgesetz, wie seine sehr engen und strengen Formulierungen zeigen, so nicht gemeint.“2 Selbst vom CDU-Abgeordneten Dietrich Austermann kam Kritik: „Die Umfirmierung der Bundeswehr auf bestimmte Aufgaben schrammt nach meiner Meinung die Verfassung.“3 Mit den VPR kommt es zu einer fast ausschließlichen Konzentration der Bundeswehr auf Auslandseinsätze. „Ausschließlich für die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angreifer dienende Fähigkeiten werden angesichts des neuen internationalen Umfelds nicht mehr benötigt. Sie können zudem angesichts der knappen, zur Schwerpunktbildung zwingenden Ressourcenlage nicht mehr erbracht werden, ohne dass sich dies nachteilig auf die künftig erforderlichen Fähigkeiten auswirkt. Notwendig bleibt vielmehr eine Befähigung, die es erlaubt, die Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens wieder aufzubauen. Dies erfordert die Beibehaltung der Wehrpflicht.“(60) Interessant ist, dass damit explizit Landesverteidigung als fast unnötig bezeichnet wird, und die Einheiten, deren Aufgabe dies war, Schritt für Schritt aufgelöst werden sollen. Die Option auf Wiederherstellung von Kapazitäten zur Landesverteidigung als Begründung für die Wehrpflicht ist neu.

Bundeswehr weltweit

Eine der zentralen Aussagen in den neuen VPR betrifft den Aktionsradius der Bundeswehr: „Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen.“ (57) Damit wird als Einsatzradius der Bundeswehr die gesamte Welt definiert. „Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes… Die Notwendigkeit für eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann sich weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen.“ (57) Schnell einsatzfähige Truppen sind also das Ziel, „Operationen mit hoher Intensität“, damit sind Operationen der Elitetruppen »Kommando Spezialkräfte« (KSK) und der »Division Spezialoperationen« (DSO) gemeint. Wobei klargestellt wird, dass die „Grenzen zwischen den unterschiedlichen Einsatzarten fließend“ sind. „Eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenserhaltender Einsatz in eine Operation mit höherer Intensität übergeht, ist nie auszuschließen.“ (58)

Bundeswehr als Anti-Terrororganisation

„Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.“ (78) Das ist eine Abschwächung gegenüber der Aufgabenstellung im Entwurf der VPR. Dort hieß es noch: „Die Bundeswehr bekämpft weltweit operierende Terrororganisationen und trägt dazu bei, ihnen sichere Rückzugsgebiete zu entziehen und Seeverbindungswege zu sichern.“ Doch auch in der Endversion ist der am häufigsten verwendete Begriff für die Notwendigkeit der Bundeswehr »Terrorismus«. Als konkrete Gefahren werden beschrieben: „Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus, bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“ (19) Dieser Satz nach dem Irakkrieg gelesen zeigt die Doppelbödigkeit westlicher Politik sehr gut auf, wenn man als Subjekt des Satzes z.B. die US-Regierung einsetzt und unter Terrorismus auch Staatsterrorismus versteht. „Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten.“ (80) Es bleibt völlig offen, was mit asymetrischen (nichtterroristischen) Bedrohungen gemeint sein könnte. Völlig verschiedene politische Entwicklungen werden in den VPR zu einem einzigen Bedrohungsszenario vermischt: „Ungelöste politische, ethnische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte wirken sich im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus.“ (25)

BW: Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen

Die Bundeswehr wird explizit als Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen benannt: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren und eine aktive Rolle in der Friedenssicherung zu spielen, stellt Deutschland in angemessenem Umfang Streitkräfte bereit, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können“ (72) Davor heißt es: „Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die gesamtstaatliche Vorsorgepflicht für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, unseres Landes und unseres Wertesystems sowie für die Wahrung unserer Interessen im europäischen und transatlantischen Zusammenhang.“ (70) In den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 wurde der Bundeswehr bereits eine Rolle zugeschrieben zur Sicherung von Märkten und Rostoffen. Wörtlich hieß es damals: „Dabei lässt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten: … Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ Eine ähnliche inhaltliche Aussage ist in den neuen VPR, diesmal allerdings geschickter formuliert: „Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.“ (27)

Deutsche und europäische Kriegswaffenindustrie

Die Notwendigkeit einer deutschen Kriegswaffenindustrie wird mehrfach betont: „Europäische und transatlantische Bündelung nationaler Mittel ist Vorgabe für die Rüstungskooperation. Gemeinsame Planung, gemeinsame Beschaffung, gemeinsamer Betrieb von Waffensystemen und gemeinsame Ausbildung stecken den Rahmen ab für das, was durch europäische Integration und Herausbildung der ESVP sicherheitspolitisch notwendig und möglich ist und sich bereits in einer effizienteren europäischen Rüstungskooperationspolitik manifestiert. Die Arbeiten zur Entwicklung einer Europäischen Rüstungsagentur werden vorangetrieben“. (68) „Deutschland wird als Voraussetzung für solche Kooperationsfähigkeit eine leistungs- und wettbewerbsfähige industrielle Basis in technologischen Kernbereichen aufrechterhalten, um auf die Entwicklung entscheidender Waffensysteme Einfluss nehmen zu können. Dies fördert Bündnis- und Europafähigkeit und ist daher ein Teil deutscher Sicherheitspolitik. Der industrielle Zusammenschluss nationaler Rüstungskapazitäten wird unverändert eine wichtige Rolle spielen.“ (69) Durch die Vergabe von Beschaffungsprojekten bevorzugt an bestimmte einzelne Firmen in den verschiedenen Sparten (Heer, Luftwaffe, Marine) wird der Konzentrationsprozess in der deutschen Kriegswaffenindustrie vom Staat aus weiter befördert. Damit stehen sich zunehmend einige wenige oder nur ein Anbieter auf Seiten der Industrie einem Abnehmer (Bundeswehr) gegenüber. Dies macht sowohl die konkreten Kriegswaffenprojekte immer teurer als auch eine demokratische Kontrolle immer schwerer.4 Der Export von Kriegswaffengütern wird durch diesen Oligopolisierungsprozess ebenfalls weiter angekurbelt: Bei der jetzt beschlossenen Bestellung von 60 Militärairbussen für 8,3 Milliarden Euro ist sogar vertraglich festgeschrieben worden, dass die sieben beteiligten Staaten (Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Belgien, Türkei und Luxemburg) Teile der bezahlten Entwicklungskosten zurückbekommen, wenn das Flugzeug erwartungsgemäß ein Exportschlager wird. Und davon geht der Systemführer EADS aus: „Der A400 M ist gut positioniert, um einen großen Teil der weltweiten Flotte an taktischen Transportmaschinen abzulösen.“5 Schließlich wollen immer mehr Staaten ihre Interventionsfähigkeit deutlich erhöhen, und dazu sind entsprechende Transportmöglichkeiten zentral.

BRD als Schlüsselstaat in NATO und EU

Auslandseinsätze sollen nur im Rahmen bestehender internationaler Institutionen stattfinden: „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.“ (11) Inwieweit diese Vorgabe aufgrund der veränderten internationalen Konstellation und den dabei üblich gewordenen »Ad hoc Koalitionen« überhaupt realistisch ist, sei dahingestellt. Die Bundesregierung konstatiert für Deutschland sowohl in der NATO als auch in der EU eine Schlüsselrolle: „Deutschland hat in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt. Die Umsetzung der europäischen Streitkräfteziele und die Beseitigung erkannter Fähigkeitsdefizite im nationalen und europäischen Rahmen sowie die Bereitstellung der angezeigten militärischen Fähigkeiten und Mittel sind Maßstab dafür, wie Deutschland und seine Partner ihre Verantwortung im Rahmen der EU wahrnehmen.“ (51) Für die NATO heißt es: „Deutschland ist mit seinen Streitkräften mehr als jeder andere Bündnispartner in die NATO integriert. Ihm fällt im Bündnis eine herausragende Rolle und Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu“. (48) Offensichtlich zentral ist aber die Stärkung der EU als Militärmacht: „Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt. … Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen Allianz und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein muss oder will“. (40) Dabei steht wieder das Deutsche Interesse in der EU im Vordergrund: „Deutsche Sicherheitspolitik gewinnt im vereinten Europa zusätzliche Handlungsoptionen.“ (29) Das konservative »Centrum für angewandte Politikforschung« (CAP) spricht deshalb gar von einer „europäischen Dimension der Bundeswehr“,6 die fest in den VPR verankert sei. Als Begründung für die Militarisierung der EU muss im übrigen die Globalisierung herhalten: „Auch die Globalisierung macht ein voll handlungsfähiges Europa erforderlich.“ (40)

Die Militarisierung der EU ist in drei Bereichen sehr weit vorangeschritten: Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die 2003 einsatzfähig sein soll, zweitens und das wird in der Diskussion häufig übersehen, in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps, wie das deutsch-niederländische, das Euro-Korps, das deutsch-dänisch-polnische Korps. Hinzu kommt die beschriebene Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie, was explizit mit einem „Konkurrenzkampf mit den Vereinigten Staaten“7 begründet wird. Es gibt eben nicht auf der einen Seite die »böse« USA und auf der anderen die »gute« EU. Das »alte Europa« hat nicht die Intention, »Friedensmacht« zu sein, sondern will seine eigenen Interessen sowohl wirtschaftlich als eben auch militärisch durchsetzen. Ziel ist auch eine Gegen-Militärmacht. Die Grundstrukturen sind gleich: Es geht der EU wie den USA darum, Kriege in Regionen im Süden führen zu können. Der »Pralinengipfel« in Brüssel Ende April hat gezeigt, dass die Regierungen, die sich gegen den Irak-Krieg wandten, nur gegen diesen Krieg waren, nicht aber gegen Krieg als Mittel der Politik. Belgien, Frankreich, Luxemburg und Deutschland verabredeten eine weitere stärkere militärische und Rüstungszusammenarbeit. So ist ein eigenständiger Militärstab der EU vorgesehen. Bei der Herausbildung einer Militärmacht EU sollen einige vorangehen können. Das alte Kerneuropakonzept findet sich hier auf der militärischen Ebene wieder.

Zentraler Akteur bei der Herausbildung einer Gegen-Militärmacht EU ist neben der französischen Regierung die deutsche Regierung. Die Bundesregierung hält sich dabei wie immer alle Optionen offen, sie will alle möglichen Hüte nutzen: Ob das nun die Europäische Union ist, die NATO, die UNO, ob das »ad-hoc-Bündnisse« sind oder auch rein nationale Einsätze.

Präventivkriegskonzept durch die Hintertür?

Aus der Schlussfassung der neuen VPR wurde das im Entwurf enthaltene »Präventivkriegskonzept« wieder gestrichen. »Die Welt« schreibt dazu: „Anders als in einem früheren Entwurf wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR)… die Möglichkeit präventiver Militäraktionen nicht mehr betont. In dem 22-seitigen Papier… fehlt ein Satz aus dem Entwurf, in dem es hieß, »vor allem« gegenüber nichtstaatlichen Akteuren und Terroristen »können zur politischen Krisenvorsorge komplementäre militärische Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohung frühzeitig notwendig werden«. Jetzt wird deutlich zurückhaltender formuliert: »Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln«.“ Was »Die Welt« nicht schreibt ist, dass die Formulierung in den neuen VPR allen Interpretationen Tür und Tor offen lässt. Eine explizite Festschreibung des Präventivkriegskonzeptes ist dies nicht. Insofern könnte man die Korrektur des Entwurfs auch als einen späten Sieg der Friedensbewegung bezeichnen, denn insbesondere aus ihren Reihen war das mögliche Präventivkriegskonzept benannt und kritisiert worden. Doch leider kann immer noch das Präventivkriegskonzept in den Text hineininterpretiert werden. Als Kernbereiche von Bundeswehreinsätzen werden in den VPR folgende zwei Punkte definiert: „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ (10) sowie „Unterstützung von Bündnispartnern“ (10). Wobei diese beiden Optionen alternativ genannt sind und es durchaus nahe liegt, zu vermuten, dass „multinationale Sicherheitsvorsorge“ (vgl. Punkt 11 der VPR) im Rahmen von NATO und EU nicht in jedem Fall das Ziel haben muss, schon bestehende Krisen zu bekämpfen (wie auch immer dies militärisch funktionieren soll), sondern bereits einzugreifen, bevor eine so genannte konkrete Bedrohung entsteht. Außerdem wird das Konzept der »präventiven Kriegsführung« sowohl im Rahmen der NATO als auch der EU intensiv diskutiert.8

Johannes Rau zur deutschen Kriegspolitik

Johannes Rau hielt am 19.05. in Berlin seine außenpolitische Grundsatzrede. An dieser war auffällig, dass Rau ähnliche Begrifflichkeiten benutzt, wie sie in den zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten VPR benutzt werden: „Die Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, sind ungemein vielfältig: die weltweit organisierte Kriminalität wie zum Beispiel der Drogenhandel, der internationale Terrorismus, vor allem in Verbindung mit religiösem Fanatismus.“ Rau erklärt zentrale Aussagen der VPR auch zu seinen eigenen: „Deshalb müssen wir bereit sein, Gewalt auch mit militärischen Mitteln zu begegnen – und diese Bereitschaft muss glaubwürdig sein. Eine handlungsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss deshalb auch eine militärische Komponente haben.“

Gleichzeitig gibt Rau aber auch seiner Sorge Ausdruck, dass die neue deutsche Militär- und Kriegspolitik von vielen in der Bevölkerung nicht mitgetragen wird. In Bezug auf die Bundeswehr stellt er z.B. fest : „Die neue Sicherheitspolitik und die völlig veränderte Rolle der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren im Bewusstsein unseres Volkes nicht annähernd so verarbeitet worden, wie das notwendig wäre… Ich vermisse eine breit geführte gesellschaftliche Debatte über die Frage, wie die Bundeswehr der Zukunft aussehen soll… Nirgendwo ist eine Regierung so sehr auf Unterstützung und Einverständnis der Menschen angewiesen wie dann, wenn die Bundeswehr als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt wird…Wie immer auch die Antwort lauten mag, zu der wir kommen werden, sie muss am Ende einer gesellschaftlichen Debatte stehen. Wir brauchen einen breiten Konsens.“

Tatsächlich werden die Veränderungen in der Bundeswehr und die deutschen Kriegseinsätze von einer Mehrheit der Bevölkerung nicht aktiv unterstützt, sondern eher passiv hingenommen. »Die Welt« schildert diesen Zustand am 02.02.03 mit den Worten: „Manchmal werden bahnbrechende Weichenstellungen übersehen: Mit seinem Satz, die Freiheit könne auch am Hindukusch verteidigt werden, hätte Verteidigungsminister Struck hier zu Lande eigentlich einen pazifistischen Aufschrei erzeugen müssen. Aber auch als Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan Präventivschläge mit deutscher Beteiligung ins Spiel brachte, blieb es ruhig.“ Das geplante Präventivkriegskonzept für die Bundeswehr war offensichtlich noch nicht in der Gesellschaft durchsetzbar. Die Betonung liegt auf »noch«. Die Bundesregierung betreibt weiter ihre Doppelstrategie: Einerseits sich als »Friedensmacht« zu gerieren, andererseits zeitgleich die Militärmacht Europäische Union auszubauen und die Bundeswehr zur weltweiten Interventions- und Einsatzarmee zu machen. Diese beschriebene »Ruhe« und das Agieren der Bundesregierung in Sachen Bundeswehr muss auch der Friedensbewegung und der kritischen Friedensforschung große Sorge bereiten.

Anmerkungen

1) Die Ziffern beziehen sich auf die Punkte in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien.

2) zitiert nach dpa, 24.05.2003.

3) zitiert nach dpa, 23.05.2003.

4) vgl. dazu auch Baumann, Hannes: Effizienz kontra Transparenz in dieser W&F Ausgabe.

5) zitiert nach Reuters 27.05.2003.

6) http://www.cap.uni-muenchen.de

7) Manager-Magazin, 06.03.2003

8) Vgl. hierzu z.B. Pflüger, Tobias: IMI-Analyse 2002/86b, »Präventivkriege jetzt auch deutsche Politik?« http://www.imi-online.de/2002.php3?id=290

Tobias Pflüger ist Redaktionsmitglied von W&F und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/3 Globalisierte Gewalt, Seite