W&F 2024/1

Lutz Unterseher (2023): Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine. Grundlagen und Programm. Berlin u.a.: LIT Verlag. ISBN 978-3-643-25104-6, 146 S., 19,90 €.

Abb. Buch

Nimmt der Ukrainekrieg ein Ende? Lässt Putin von seinen Großrusslandträumen ab? Wird die Ukraine die Chance erkämpfen, sich sicherheitspolitisch und militärisch neu aufstellen zu können? Wird sie einen solchen Weg autark beschreiten? Oder wird sie unter dem Druck der Übermacht im Osten sich dem Westen verbinden und sich dessen Strategemen ein- und unterordnen? Wozu es kommen wird, will der Autor des Bandes »Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine« nicht voraussagen. Spekulieren ist sein Anliegen nicht. Wohl aber Konzipieren – grundlegend und programmatisch. Er entwirft eine Verteidigung, die der Ukraine ihre sprach-historische Rolle des „Grenzlandes“ neuerlich erschließt, eines Scharniers zwischen Ost und West. Über Vertrauensbildung und -pflege nach beiden Seiten könne die – trennende – Grenzlinienfunktion in eine – verknüpfende – Austauschregion umgemünzt werden.

Hierzu fokussiert der Autor auf ein militärisches Unterfutter, das alles andere als offensiv erscheinen kann. Keinesfalls aber dürfe es so schwächlich ausgestaltet werden, dass es eine der Seiten zu Aggression und Landnahme einladen könnte. Lutz Unterseher überrascht hierzu nun nicht mit einem völlig neuen Konstrukt für ukrainische Verteidigungsstreitkräfte. Vielmehr greift er zurück auf etwas, das er schon unter den atomar überlagerten Bedingungen des Ost-West-Konfliktes im einzigen Alternativenhearing des Deutschen Bundestages (1983) für dringlich ratsam hielt und einforderte: Streitkräftestrukturen für eine Verteidigungskriegführung als „Spinne im Netz“. Als mit Horst Afheldt einer von nur zwei Sachverständigen übrigens, die sich keineswegs im militärstrategischen Mainstreaming der übrigen 24 Geladenen ergingen – von Theodor Ebert und Johan Galtung mit militärverweigernder Gewaltfreier/Sozialer Verteidigung einmal abgesehen.

In den Folgejahren haben sich Untersehers Strukturkonstrukte immer neu an Adressaten anderer Nationen und deren Bedürfnisse anpassen lassen, ohne jedoch die Grundlinien zu verlassen: Ein raumweites bodengebundenes Netz stabiler, ortsstarker Verteidigungsorgane verwehrt im Zusammenspiel mit mobilen, aber auf das Netz angewiesenen Kampf- und Stoßkräften jedem Aggressor ein Eindringen in das Netz oder gar ein »Festklammern« am Angriffsobjekt, während sie gleichzeitig nicht zu offensiven Angriffen in der Lage sind. Dabei konnten über die Jahre neuere Waffentechnologien integriert werden. Und über mehrere wissenschaftliche Studien konnte die Funktionstüchtigkeit des Konzepts wiederholt validiert werden.

Die aktuelle Projektion des Konzeptes auf die Ukraine leistet der Autor anhand erfrischend nüchterner Analysen von Russlands bzw. Putins neoimperialer Invasion und seiner Kriegführung wie gleicherweise von den Verteidigungskämpfen der ukrainischen Streitkräfte unter Selenskyj – bis hin zu dessen drängenden Avancen in Richtung Westen und der NATO sowie derer politischer Rahmensetzungen und teils diffuser Reaktionen. In einem zweiten großen Schritt rezipiert Unterseher paradigmatisch die Wertschätzung von Verteidigung als des – verglichen mit Offensive – ohnehin stärkeren Modus von Kriegführung durch Granden der Militärstrategie (Sun Tzu – Kant – Clausewitz – Liddell Hart).

Vor ihrem Hintergrund richtet er „Stabilitätskalküle“ auf Modellbildungen mit dem Anspruch auf Vertrauensbildung unter benachbarten, streitkräftebasierten Staaten, um schließlich über spezifische Vorgaben aus der jüngeren ukrainischen (Selbstfindungs-)Geschichte ein auf eben diese Verhältnisse hin ausgeformtes Strukturmodell erneuerter Streitkräfte der Ukraine detailreich zu unterbreiten. Hier stehen die im Netz agierenden Landstreitkräfte deutlich im Vordergrund. „Allerdings ist die Verteidigung entlang plausibler Bedrohungsachsen zu verdichten. Auszunehmen sind die Ballungsräume und andere dicht besiedelte Gebiete.“ (S. 124). Der im Kriegsvölkerrecht ausformulierten Option der Offenen Stadt („unverteidigte Orte“, Genfer Abkommen Zusatzprotokoll I, Art. 59) geht der Autor hier nicht weiter nach. Blieben Großstädte wie Kiew, Charkiw, Odessa im Falle weiterer Luftüberlegenheit des Aggressors so allein auf Flugabwehr angewiesen? In gewaltfreier Verteidigung in Städten – etwa als Motivationsverstärker für Verteidigungsbereitschaft auf gesamtgesellschaftlicher Ebene – sieht Unterseher offenbar kein bemerkenswertes Potential.

Zwei Anmerkungen zur Russland-Kritik Untersehers: Neuerliche Reisen nach Moskau hat sich der Autor mit seiner Putin-Kritik zuverlässig verbaut: „Die Parallele zum Dritten Reich ist evident – direkter Zugriff des Führers auf miteinander konkurrierende Strukturen.“ (S. 21). Die „Entzauberung des [russischen] Wunderpanzers“ Armata T14 im Materialienanhang hingegen mag manche*n Leser*in (resp. »Leo«-Liebhaber*in) erheitern. Oder aber ermutigen, der Skepsis des Autors gegenzuhalten, die dieser nicht nur im Buchrückentext durchscheinen lässt, sondern auch sonst offen ausformuliert: „Überlegungen über die Rahmenbedingungen einer künftigen ukrainischen Defensivstreitmacht sind freilich sinnlos, wenn es keinen handlungsfähigen Staat gibt, der mit hinreichenden Ressourcen ausgestattet ist.“ (S. 131). Hier komme der EU eine „Schlüsselrolle“ zu. Auch hier: kein Spekulieren.

Im Ganzen ist Untersehers Buch ein akut notwendiges alternatives Verteidigungsbrevier. Nicht nur für diejenigen in Deutschland, die sich anschicken, die eigene Bundeswehr im Gefolge der »Zeitenwende« rundzuerneuern, sondern auch für ­NATO-Planer, die die Ukraine in die eigenen Strukturen einzupassen suchen. Auch für diejenigen, die dem Militär in Friedenskonzepten keinerlei Bedeutung zumessen, bzw. Erwägungen auf diesem Feld sogar für kontraproduktiv erachten, kann das Büchlein zumindest mit Konzepten aufwarten, wie Schritte zur Vertrauensbildung, zur Rückbildung der offensiven gegenseitigen Bedrohung und zur Rüstungsminderung aussehen könnten.

Wilhelm Nolte

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 61