Vom Nichtverbreitungsvertrag zur Nuklearwaffenkonvention
Schritte zur atomwaffenfreien Welt
von Wolfgang Liebert
Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) für Kernwaffen steht nach 25-jähriger Laufzeit zur Verlängerung an. Die Frage muß gestellt werden, ob dieser Vertrag tatsächlich sein Ziel erreicht, zur nuklearen Abrüstung zu führen sowie die Weiterverbreitung der Atomwaffentechnologie wirksam zu verhindern. Weiterhin ist zu fragen, welche Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung bestehen.
Auch wenn seit Aushandlung des NVV in den sechziger Jahren »nur« Israel, Indien, Pakistan und Südafrika neu zu Kernwaffenstaaten wurden, so bleiben doch gewichtige Mängel des Vertrages zu konstatieren, die langfristig kontraproduktiv wirken1.
Der Vertrag ist de-jure und in seiner Praxis de-facto diskriminatorisch. Er schreibt fünf Atommächte auf Dauer fest, läßt eine Fortentwicklung der nuklearen Arsenale in diesen Staaten zu und sieht dort keinerlei Kontrollen vor. Einer zweiten Gruppe von Staaten, zu der im wesentlichen hochentwickelte Industrieländer zählen, ist zwar der Zugriff auf Atomwaffen verwehrt, aber alle sensitiven Nukleartechnologien mit Relevanz für mögliche Kernwaffenprogramme können in diesen Ländern genutzt und innerhalb dieser und der erstgenannten Gruppe exportiert werden. Einer dritten Gruppe von Staaten ist sowohl der Zugriff auf Atomwaffen als auch auf bestimmte sensitive Nukleartechnologie verwehrt, die hier als Ausdruck einer Kernwaffenoption interpretiert wird. Unterstützt durch einseitige Exportkontrolle wichtiger Lieferländer für Nukleartechnologie und -material kann dieses Mehrklassensystem notdürftig aufrechterhalten werden. Einerseits immer in der Gefahr, unzureichend durchgeführt zu werden, steht Exportkontrolle auf der anderen Seite immer in dem Ruch, ein »Technologie-Embargo« des Nordens gegen den Süden darzustellen, was entsprechende vehemente Kritik von Vertretern der sogenannten Dritten Welt heraufbeschwört.
Eine weitere herausragende Schwachstelle des NVV ist, daß er in Artikel VI und in seiner Präambel zwar baldige Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung – und sogar zur vollständigen Abrüstung – fordert, aber keine verbindlichen Wege dorthin festschreibt. Die Nichtbeachtung der zivil-militärischen Ambivalenz der Nuklearforschung und -technologie2 ist ein weiterer zentraler Mangel des NVV. Zivile Nuklearprogramme senken die Schwelle zu Waffenprogrammen. Die in der Präambel und im Artikel IV erfolgende Propagierung der weltweiten zivilen Nutzung der Kernenergie und ihre ungebremste Fortentwicklung kann nicht losgelöst betrachtet werden von der damit immer auch erfolgenden Weiterverbreitung, Beibehaltung oder Verbesserung wissenschaftlich-technischer Grundlagen für Kernwaffenoptionen.
Die nukleare Wirklichkeit
Der NVV war eigentlich gedacht als ein erster Schritt in einer Kette von Abrüstungsmaßnahmen, die auf dem besonders dringlichen Feld der nuklearen Abrüstung beginnen und dabei die als sehr bedrohlich empfundene nukleare Weiterverbreitung in den Blick nehmen sollte. Dies belegen zahlreiche Dokumente der Generalversammlung der Vereinten Nationen.3 Die Wirklichkeit der letzen 25 Jahre spricht eine andere Sprache. Der technologisch dominierte Rüstungswettlauf zwischen dem westlichen und östlichen Block, angeführt von den beiden damaligen Supermächten, wurde nach 1970 noch weiter intensiviert. Die vertikale Proliferation, also die Weiterentwicklung und Vergrößerung von Kernwaffenarsenalen, ging verstärkt weiter.
Ende 1994, also fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges waren die strategischen Nuklearpotentiale der USA und der GUS/Sowjetunion mit je 8380 bzw. etwa 9650 Sprengköpfen noch immer deutlich höher als im Jahr des Inkrafttretens des NVV mit geschätzt je 4200-5240 bzw. unter 2000 bis 2210 strategischen Atomwaffen (exakte Zahlen sind nicht bekannt). Mehr als 22.000 Sprengköpfe, deren Sprengkraft mehr als einer halben Million Hiroshimabomben entspricht, waren Ende 1994 in den einsatzfähigen Arsenalen der fünf offiziellen und der zur Zeit sechs De-facto-Atommächte (vergl. Karte S. 25). Noch immer sind 45.000 intakte Atomsprengköpfe in der Welt, denn die Demontage geht in den USA und in Rußland nur langsam vonstatten (nur etwa 1500 bzw. 2500 Sprengköpfe jährlich) und eine in seiner Größenordnung nicht öffentlich bezifferte »nukleare Reserve« soll zusätzlich bestehen bleiben.
Während klar ist, daß die für das Jahr 2003 angekündigten Abrüstungsschritte der beiden alten Supermächte dort offiziell insgesamt etwa 10.000 Sprengköpfe belassen werden und die kleineren Atommächte ihre Arsenale eher modernisieren und erweitern und gar nicht an Abrüstung denken, versuchen die Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten die horizontale Proliferation, also die Weiterverbreitungsgefahr, allein ins Zentrum der Debatte um den NVV zu schieben. Sie fordern gemeinsam mit ihren Verbündeten eine unbegrenzte Verlängerung des Vertrages. Gleichzeitig beharren die etablierten Atommächte auf der Rationalität ihres Kernwaffenbesitzes. In Südostasien vertreten die »Falken« die These, ein System nuklearer Abschreckung könne dort den Frieden sichern.
Tatsächlich sind die Abschreckungsdoktrinen nach Beendigung der Blockkonfrontation nicht beseitigt. Nukleare Abschreckung war ursprünglich gedacht als eine wechselseitige Abschreckung zwischen Atommächten gegen den möglichen Gebrauch durch die jeweils andere Seite. Diese ursprüngliche Konzeption wurde erweitert durch den »Schutz« von Verbündeten gegen mögliche Kernwaffenangriffe und entsprechende »Sicherheitsgarantien«, ausgesprochen gegenüber weiteren Staaten. Der Aufbau »gesicherter Zweitschlagskapazitäten« setzte eine Spirale der nuklearen Aufrüstung in Gang. In einer zweiten Stufe wurden Kernwaffen als letztes Mittel interpretiert (Weapons of Last Resort), die notfalls beispielsweise gegen einen konventionell überlegenen Angreifer eingesetzt werden sollten, ohne daß ein Nuklearangriff der »anderen Seite« vorausgehen müßte. Dies wurde die bis heute gültige NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz lebt.
Eine dritte Stufe der »Abschreckungslogik« wird im alten westlichen Bündnis diskutiert. Hier wird geglaubt, Atomwaffenbesitz und die Drohung mit seinem Einsatz könne (oder solle) vor dem Gebrauch anderer sogenannter Massenvernichtungswaffen abschrecken. Eine vierte und fünfte Stufe »neuer Aufgaben« für Kernwaffen werden in NATO-Kreisen, aber vorrangig in den USA, vorgeschlagen. Die Möglichkeit einer Abschreckung gegen die Entwicklung von Atomwaffen mit der eigenen Einsatzdrohung wird postuliert, sowie eine regionale Einsatzmöglichkeit oder eine begrenzte Verwendung gegen verbunkerte Ziele. Für die letztere neuartige Mission wird die Fortentwicklung von Kernwaffen zu kleineren, einsatzfähigeren Typen diskutiert4.
Gegen alle diese Stufen der Abschreckungslogik lassen sich sehr rationale Gegenargumente vortragen5. Insbesondere die letzten drei erscheinen äußerst fragwürdig; sie würden eher einen weiteren Anreiz für die Beschaffung von entsprechenden Drohpotentialen durch diejenigen bieten, die eigentlich »abgeschreckt« werden sollen. Dies gilt auch für die Ersteinsatzdoktrin. Das erschreckende Argument, man müsse eine letzte vernichtende Waffe in der Hand haben, um für jede Eventualität gerüstet zu sein, sollte nach Ende des Kalten Krieges endgültig obsolet geworden sein. übrig bliebe allenfalls – solange Kernwaffen existieren – der alte Kern der Abschreckung, der durch den eigenen Atomwaffenbesitz den Gebrauch von Atomwaffen durch andere existierende Kernwaffenstaaten verhindern will.
Weiterverbreitung im zivilen Bereich
Die Hoffnung, durch »Überwachungsmaßnahmen« der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die eindeutige Abgrenzung gegen die mögliche militärische Nutzung ziviler Programme sicherzustellen, ist nicht in Erfüllung gegangen. In zunehmendem Maße sind Mitgliedsländer des NVV in Verdacht geraten, geheime Kernwaffenprogramme zu verfolgen, die in Zusammenhang mit angeblich »rein zivilen« Aktivitäten zu bringen sind. Das Konzept und die Praxis der IAEO-Sicherungsmaßnahmen hat einige deutlich aufzeigbare Schwächen6. Bei gutem Willen aller Beteiligten wäre mit entsprechenden Reformen einiges behebbar, aber es bleiben aus technischen Gründen auch prinzipielle Lücken der Überwachung bestehen, die direkt die Nichtentdeckbarkeit einer möglichen Abzweigung waffengrädiger Nuklearmaterialien aus zivilen Programmen betreffen.
Der Zugriff auf waffengrädiges Material, insbesondere Plutonium und hochangereichertes Uran7, ist eines der wichtigsten Indizien für die Atomwaffenfähigkeit eines Landes. Mehr als 20 Länder beherrschen inzwischen entsprechende Produktionstechnologien (Urananreicherung und Wiederaufarbeitung von Reaktorbrennstoffen) oder besitzen Lager waffengrädigen Materials, das direkt eine Bombenproduktion ermöglichen würde. Die Bandbreite des »nuklearen Status« reicht vom gegenwärtigen Atomwaffenbesitz bis zu einer Zugriffsmöglichkeit, die eine über einige Jahre erfolgende geheime Spaltmaterialproduktion erforderlich machen würde. (Vergl. Karte S. 25)
Direkt für den Gebrauch in Atomwaffenprogrammen sind etwa 270 Tonnen Plutonium und über 2.200 Tonnen hochangereichertes Uran (HEU) produziert worden8. Im zivilen Bereich werden jährlich etwa 70 Tonnen Plutonium in den weltweit mehr als 400 Leistungsreaktoren produziert. Mehr als 100 Tonnen sogenannten »Reaktorplutoniums«, das gleichwohl waffentauglich ist9, wird in abgetrennter Form in einer Reihe von Ländern gelagert, ohne daß klar wäre, ob es jemals wieder genutzt wird. Es ist allgemein anerkannt, daß die Verwendung von Plutonium in Mischoxid-Brennelementen (MOX) heute unwirtschaftlich ist. Ähnliches gilt für eine zukünftige Nutzung von Plutonium in Schnellen Brutreaktoren, deren Weiterentwicklung immer unwahrscheinlicher wird. Es wird erwartet, daß die auf Lager befindlichen »zivilen Plutoniummengen« schon zu Beginn des nächsten Jahrhunderts die Mengen im militärischen Bereich übersteigen werden.
Die Nutzung von HEU im zivilen Bereich ist heute beschränkt auf die Verwendung als Brennstoff für Forschungsreaktoren, die Neutronen für die Forschung zur Verfügung stellen. Internationale Umstellungsprogramme bemühen sich seit 1978, den HEU-Reaktorbrennstoff überflüssig zu machen durch Bereitstellung von neuen hochdichten Brennstoffen, die unter Verwendung von nicht waffentauglichem schwach angereichertem Brennstoff ähnliche Neutronenflüsse wie unter HEU-Nutzung ermöglichen. Noch haben 30 von knapp 300 weltweit betriebenen Forschungsreaktoren HEU-Beladungsmengen von mehr als 5 Kilogramm. Dies ist aber im Prinzip unnötig geworden.
Die Weiterentwicklung von ziviler Kerntechnologie unter Nutzung waffengrädiger Stoffe wird durch den Nichtverbreitungsvertrag nicht berührt. Entsprechende Bereiche sollen überwacht, aber mitnichten beschränkt werden. Die prinzipielle Lückenhaftigkeit der Überwachungsmaßnahmen und die quantitative Zunahme der »rein zivilen« Nuklearaktivitäten haben eine wachsende Proliferationsgefahr zur Folge.
Transformation des Nichtweiterverbreitungsregimes
Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) war ein Kind des Kalten Krieges und der Kernenergieeuphorie der sechziger Jahre. Die Welt hat sich seither gewandelt und eine kritische Einschätzung der möglichen Zukunft für die Kernenergie hat Überhand genommen. In der Praxis hat sich lediglich ein unvollständiges und teilweise in sich widersprüchliches Nichtweiterverbreitungsregime für Kernwaffen entwickelt, in dessen Zentrum der NVV steht. Dieser Vertrag wird nicht für veränderbar gehalten. Bereits seine diesbezüglichen Bestimmungen in Artikel VIII sprechen für eine solche Einschätzung. Gleichzeitig ist offensichtlich, daß der Vertrag und das Non-Proliferation-Regime in seiner bestehenden Form das Problem der Kernwaffenverbreitung nicht löst.
Der Glaube an die Rationalität von Atomwaffen war schon in den Zeiten der Blockkonfrontation mehr als fragwürdig. Solange bei uns angeblich rationale, alte oder neue Nukleardoktrinen Gültigkeit besitzen, solange werden Atomwaffen auch begehrlich bleiben für bestimmte Staatenlenker in anderen Regionen der Welt. Begegnet man der drohenden Weiterverbreitung von Kernwaffen wirklich damit am Besten, daß man die angebliche Sinnhaftigkeit von Sicherheitskonzeptionen auf der Basis von Kernwaffenbesitz fortschreibt oder gar erweitert? Wäre es nicht viel rationaler, eine baldige globale Eliminierung dieser Waffen anzustreben? Die fortgesetzte Drohung mit dem Ersteinsatz ist jedenfalls der größte Widerspruch zu einer offiziell verlautbarten strikten Nichtverbreitungpolitik, die im Deklamatorischen stehen zu bleiben droht.10
Eine Alternative wäre die Transformation des existierenden Regimes zu einem Nichtverbreitungsregime für Kernwaffen, das diesen Namen auch verdient11. Daher sollte unter Beibehaltung des Nichtverbreitungsvertrages auf Zeit ein neues Regime der atomwaffenfreien Welt angesteuert werden. Dafür können zwei Grundannahmen gemacht werden. Erstens: Die Weiterverbreitung kann auf Dauer nur gestoppt werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Zweitens: Die Vermeidung einer Aufrechterhaltung wissenschaftlich-technologischer Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme auch im zivilen Bereich ist auf lange Sicht entscheidend.
Im Zentrum dieses für alle Staaten ungeteilt und gleichermaßen verbindlichen Regimes sollte eine Kernwaffenkonvention stehen – nach dem Vorbild der bereits existierenden C- und B-Waffen Konventionen. Wesentlich ist die Organisierung eines schrittweisen Veränderungsprozesses, der die positiven Seiten des existierenden Nichtweiterverbeitungsregimes nicht gefährdet. Solche Transformationsschritte, die die genannten Mängel des NVV ausgleichen müssen, könnten sein:
- einseitige (völkerrechtlich verbindliche) Erklärungen in Bezug zum NVV und Selbstbeschränkungen, die über Bestimmungen des NVV hinausgehen;
- multilaterale Vereinbarungen, die den NVV neu einbetten und fortdauernde Gültigkeit für das angestrebte echte Nichtverbreitungsregime haben können;
- neue global gültige Verträge, die den Übergang in die atomwaffenfreie Welt sichern.
Besondere Verantwortung haben hier die Kernwaffenstaaten – ob offiziell deklariert oder nicht, spielt hier keine Rolle – und die im Prinzip kernwaffenfähigen Staaten, zu denen Deutschland gehört.
Transformationsschritte und die Nuklearwaffenkonvention
Große Bedeutung hat der alsbaldige Abschluß eines seit Jahrzehnten geforderten vollständigen Teststoppabkommens, das jegliche Weiterentwicklung oder Neuentwicklung von Kernwaffen ausschließt.12 Die nukleare Abrüstung muß über das hinausgehen, was die USA und Rußland bislang vereinbart haben; in weitere Abrüstungsschritte sollten dringlich die weiteren Atommächte einbezogen werden, die bislang immer noch die gegensätzliche Strategie der Erweiterung oder Modernisierung ihrer Arsenale verfolgen. Ein »Fahrplan« der nuklearen Abrüstung auf Null in allen Ländern müßte ausgehandelt und dann unter Angabe zeitlicher Vorgaben verbindlich gemacht werden.13
Das Ende jeglicher Produktion waffengrädiger Nuklearmaterialien (hochangereichertes Uran (HEU), Plutonium in jeglicher Isotopenzusammensetzung und Tritium) in für Atomwaffen relevanten Mengen sollte in einer »Cutoff Convention«14 geregelt werden. Ergänzend könnte der Verzicht auf die Nutzung und Weiterentwicklung sensitiver Nukleartechnologien, die im Prinzip im NVV erlaubt sind, ausgesprochen werden. Parallel sollten die Überwachungsmaßnahmen in allen Ländern verbessert werden und endlich auch sämtliche Anlagen der etablierten Kernwaffenstaaten einbezogen werden. Die Internationalisierung aller Lager waffengrädiger Spaltstoffe (unter Einschluß von Tritium) wäre eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung der Aufrechterhaltung von möglichen Kernwaffenoptionen. Wirksam wäre ebenfalls die Internationalisierung von Anreicherungsanlagen, die Reaktorbrennstoffe produzieren – aber theroetisch auch waffengrädiges HEU herstellen könnten.
Der multilateral ausgesprochene Verzicht auf Ersteinsatz von Atomwaffen (No-first-use Treaty) wäre der erste Schritt zur Aufhebung gültiger Nukleardoktrinen. Ein Abzug aller Atomwaffen von fremden Territorien wäre ein weiteres Signal, das die Rolle der Atomwaffen in der internationalen Politik minimiert.
Als Ersatz für das alte »Geschäft« des NVV (zivile Kerntechnik gegen Verzicht auf die militärische Nutzung) sollte ein neues international wirksames Angebot der Industrieländer entwickelt werden, daß die Verbreitung und Weiterentwicklung nicht-nuklearer Energieträger in offener internationaler Kooperation anstrebt.
Die Etablierung einer kernwaffenfreien Welt15 erfordert schließlich einen internationalen Vertrag, der eine bindende und dauerhafte Struktur vorgibt, damit alle Staaten der Welt dauerhaft einen Status als Nicht-Kernwaffenstaat bekommen und unbegrenzt beibehalten.16 Eine solche Nuklearwaffenkonvention (NWK) sollte unendliche Gültigkeit haben können und keine Sonderrechte für einige wenige sichern. Sie sollte den NVV (sowie weitere Verträge) eines Tages ersetzen und dabei seine Schwachstellen ausgleichen. Die Aushandlung einer NWK wird Jahre dauern, die technische und politische Verwirklichung vielleicht sogar Jahrzehnte. Es wäre ein eindeutiges und begrüßenswertes Signal, wenn sich die NVV Konferenz in ihrem Abschlußdokument für ein entsprechendes Verhandlungsmandat der Genfer Abrüstungskonferenz ausspräche.
Deutsche Schritte auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt
Deutschland spielt eine Sonderrolle, was die Atomwaffenfrage angeht. Deutschland hat zwar völkerrechtlich verbindlich auf Atomwaffen verzichtet, aber die deutsche Regierung setzt sich weder für einen baldigen Ausstieg aus den Nuleardoktrinen der Vergangenheit ein, noch erteilt sie einer Erweiterung des Aufgabenkatalogs für Atomwaffen eine Absage, im Gegenteil, sie tut alles, um dies im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« vom deutschen Territorium aus mitvorzubereiten.17 Gleichzeitig hat Deutschland Zugriff auf Technologien, mit denen Bombenstoff hergestellt werden kann; es lagern hier bereits große Mengen waffengrädigen Nuklearmaterials (insbesondere eine öffentlich nicht bekannte Tonnenmenge abgetrennten Plutoniums), das direkt für Atomwaffen verwendbar wäre. Das deutsche technologische Know-how ließe theoretisch eine sehr rasche Herstellung von Atomwaffen zu. Daraus ergibt sich eine besondere deutsche Verantwortung, die Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik, sowie die Forschungs-, Technologie- und Energiepolitik haben sollte.
Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bundesregierung zwar eindeutig für eine Verlängerung des NVV aber genauso eindeutig gegen eine unbegrenzte Verlängerung des NVV ausspräche und auf die Kernwaffenstaaten und weitere Bündnispartner einwirken würde, die weiter oben skizzierten Schritte zu erreichen. Dabei sollten die außerhalb des NVV stehenden De-facto-Kernwaffenstaaten miteinbezogen werden. Auch andere für nicht vertrauenswürdig gehaltene Staaten innerhalb des NVV könnten durch eindeutige Vorbilder bei den hochentwickelten Industriestaaten in Richtung auf einen Verzicht auf Atomwaffenoptionen beeinflußt werden.
Überzeugend würde eine solche deutsche Position allerdings erst, wenn eigene entschiedene Schritte in die anvisierte Richtung ergriffen würden. Wichtig wäre die Erreichung einer maximalen Glaubwürdigkeit durch Übertragbarkeit der Position auf alle Staaten. Hierbei spielt ein eindeutiger Selbstverzicht in Richtung auf maximale Proliferationsresistenz des genutzten Brennstoffkreislaufes eine wesentliche Rolle. Die Wahrnehmung des NVV als diskriminierendes Dokument kann nur aufgehoben werden durch radikale nukleare Abrüstung und konsequente Vermeidung des Erhaltes wissenschaftlich-technologischer Optionen, die für Kernwaffen wesentliche Voraussetzungen sind.
Daraus können eine Reihe von direkten Maßnahmen für die deutsche Exekutive abgeleitet werden. Einige von ihnen hätten deutliche Handlungs-Konsequenzen. Eine völkerrechtlich verbindliche deutsche Erklärung zum NVV könnte abgegeben werden, die ein Desinteresse an der Nutzung ziviler Kernsprengungen dauerhaft festschreibt. Der im NVV ausgedrückten Wertschätzung für »zivile Kernsprengungen«, die weder von militärischen Waffentests zu unterscheiden sind, noch irgendeinen zivilen Sinn machen, zeigt deutlich, daß der NVV als historisches Dokument anzusehen ist, das keine unbefristete Gültigkeit haben sollte. Die Abgabe der Erklärung im direkten Bezug zum NVV hätte keine Handlungskonsequenzen, wäre aber das »Einfallstor« für die Transformationsidee.
Ein klar ausgesprochener Verzicht auf Produktion und Nutzung hochangereicherten Urans (HEU) könnte die weltweiten Bemühungen, diesen Waffenstoff gänzlich aus dem zivilen Bereich zu verbannen, unterstützen. In der Konsequenz müßte auf die gegenwärtige Konzeption des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors (FRM II) verzichtet werden. Ähnliches könnte schrittweise für die Plutoniumproduktion und -nutzung im zivilen Bereich erfolgen. Zunächst könnte der Verzicht auf Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente auf deutschem Boden erklärt werden. Dies hätte nach der Aufgabe der Pläne für Wackersdorf und die Schließung der Karlsruher Versuchsanlage de-facto keine weitere Handlungskonsequenz. Ein genereller Verzicht auf Plutoniumnutzung hätte zur Konsequenz: 1. Kündigung der Wiederaufarbeitungsverträge im Ausland, insbesondere mit der französischen Cogema und der britischen THORP; 2. Ende der Mischoxidnutzung (MOX) in deutschen Reaktoren; 3. Keine Fertigstellung bzw. Inbetriebnahme der im Bau befindlichen neuen Hanauer Brennelementefabrik.
Abschließend wäre eine allgemeine Erklärung der Nicht-Produktion und Nicht-Nutzung waffengrädigen Nuklearmaterials in für Kernwaffen relevanten Mengen wünschenswert. Damit wäre auch die Nichtnutzung von Tritium eingeschlossen. Zuvor könnten nationale Schritte zur Internationalisierung aller Lager waffenfähigen Materials ergriffen werden, beispielsweise durch die Übergabe der deutschen Plutoniumvorräte an eine internationale Behörde.
Der erklärte Verzicht auf Weiterentwicklung neuer proliferationsträchtiger Nukleartechnologie wäre ein weiteres wünschenswertes international wirksames Signal. Stattdessen könnte Deutschland sein wissenschaftliches und technologisches Know-how einsetzen, um Wege zur Zerstörung von Plutonium zu erforschen.
Eine Aufrechterhaltung der strikter gewordenen Exportkontrolle und ihre ungeteilte Anwendung auf alle Länder ist in einer Übergangszeit dringend notwendig, solange bis das Prinzip »exportiert werden kann, was auch im eigenen Land für unverzichtbar gehalten wird« maßgeblicher werden kann. Demnach darf keine Aufweichung der Gesetzgebung im Dual-use-Bereich (die aber leider bereits erfolgt) oder im Rahmen der anstehenden europäischen »Harmonisierung« der Kontrollrichtlinien stattfinden.
Die deutsche Regierung sollte sich für die Einrichtung einer nuklearwaffenfreien Zone in Mitteleuropa einsetzen. Damit verbunden wäre die Abzugsforderung für die noch immer auf deutschem Boden stationierten Kernwaffen. Vorausgehen müßte ein Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe, d.h. keine Trägersysteme sollten mehr für Atomwaffen bereitgehalten werden. Innerhalb der NATO müßte Deutschland dringlich seinen Einfluß geltend machen für eine schnelle Abkehr von der Doktrin der Flexible Response, die den Ersteinsatz von Atomwaffen ermöglicht. Ebenso könnte die deutsche Regierung für ein Verhandlungsmandat der Abrüstungskonferenz über eine Nuklearwaffenkonvention werben.
Die massive Entwicklung von Alternativen zur Kernenergienutzung insbesondere in Kooperation mit sich entwickelnden Ländern würde der globalen Sicherheit mehr dienen als das Setzen auf neue nukleare Energieoptionen. Eine Initiative für eine entsprechende internationale Behörde wäre wünschenswert. Dabei könnte auch eine Beschränkung der Rolle einer gründlich reformierten IAEO allein auf den Bereich der Überwachung, Kontrolle und Reaktorsicherheit erfolgen.
Dies alles wären eindeutige, glaubwürdige und unumkehrbare Schritte auf dem Weg in eine nuklearwaffenfreie Welt. Eine Umsetzung im nationalen Rahmen könnte die beste Werbung für den internationalen Erfolg einer solchen Neukonzeption im Bereich der Non-Proliferation und Abrüstung darstellen. Eine aktive Wahrnehmung der deutschen Verantwortung für diesen Übergang in die atomwaffenfreie Welt wäre dringend geboten.
Anmerkungen
1) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtverbreitungsvertrag, Wissenschaft und Frieden, 12. Jg, 1/1994, S.57-64. Zurück
2) W. Liebert, Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck (Hrsg.), Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1991, S.147-168. Zurück
3) Vergl. W. Epstein, The Non-Proliferation Treaty and the Review Conferences – 1965 to the Present, in: R.D. Burns (ed.), Encycolpedia of Arms Control and Disarmament, New York: Charles Scribner's Sons, 1993, p.855-875; W. Liebert, Wie weiter mit dem Nichtbverbreitungsvertrag, op.cit. Zurück
4) W. Arkin, Nuclear Junkies: Those Lovable Little Bombs, The Bulletin of the Atomic Scientists, July/August 1993, 22-27. Zurück
5) Vergl. beispielsweise W. Panofsky, G. Bunn, The Doctrine of the Nuclear-Weapon States and the Future of Non-Proliferation, Arms Control Today, July/August 1984, 3-9; M. MccGwire, Is there a future for nuclear weapons?, International Affaires 70,2 (1994), 211-228; aber teilweise auch A. Dregger, Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik, in: Das Parlament, Beilage, 3.1.1995, S.21-26. Zurück
6) Vergl. beispielsweise W. Liebert, M. Kalinowski, Safeguards und Verifikation der Nichtverbreitung von Kernwaffen, antimilitarismus information (ami), 24.Jg., Dez. 1994, 23-32. Zurück
7) Die Nutzung des schweren Wasserstoffisotops Tritium spielt im zivilen Bereich noch eine untergeordnete Rolle, während er für fortgeschrittene Atomwaffenstaaten große Bedeutung hat: Grammengen von Tritium in bestimmte Konzepte von Spaltwaffen eingesetzt kann die Effektivität des verwendeten Spaltmaterials erheblich erhöhen (»Boosting«). Zurück
8) Als Mindestmengen für einen relativen Neuling im Atomwaffenbau lassen sich grob angeben: etwa 20 bis 25 Kilogramm HEU für eine einfache Atomwaffe (Kanonenrohrprinzip); etwa 10 Kilogramm HEU für eine Uranbombe oder etwa 4 Kilogramm Plutonium für eine Bombe, die durch eine konzentrisch angeordnete Sprengladung gezündet wird (Implosionstyp) und bei dessen Konzipierung einige weitere technische Kniffs (wie beispielsweise Neutronenreflektoren) genutzt werden. Zurück
9) E. Kankeleit, C. Küppers, U. Imkeller, Bericht zur Waffentauglichkeit von Reaktorplutonium, Darmstadt, IANUS-Arbeitsbericht 2/1989. Zurück
10) Vergl. beispielsweise K. Kinkel, Deutsche 10-Punkte-Initiative zur Nichtverbreitungspolitik, Auswärtiges Amt, Pressereferat, Bonn, 15.12.1993. Zurück
11) W. Liebert, Improvements around the extension of the nuclear non-proliferation treaty, in: W. Liebert, J. Scheffran (Hrsg.), Against Proliferation – Towards General Disarmament, Münster: agenda Verlag, 1994, S. 112-115. Zurück
12) Verhandlungen für einen Teststopp sind endlich seit gut einem Jahr in Gang, aber ein unterschriftsreifer Vertrag wird erst frühestens für 1996 erwartet. Die »Vollständigkeit« eines Teststopps steht ebenfalls in Frage, da in den Kernwaffenstaaten bereits in Entwicklung und im Aufbau befindliche Ersatztechnologien für unterirdische Tests voraussichtlich erlaubt bleiben werden. Zurück
13) Vergl. W. Epstein, Give more to get more, Bulletin of the Atomic Scientists, Nov./Dez. 1994, S. 15-18. Zurück
14) W. Liebert, M. Kalinowski, Proposal for a Comprehensive Cutoff including civilian weapon-usable material, INESAP Information Bulletin, No.4, Januar 1995, S.11-14. Zurück
15) Vergl. J. Rotblat, J. Steinberger, B. Udgaonkar, A nuclear-weapon-free-world – Desirable? Feasible ?, Oxford: Westview Press, 1993. Zurück
16) Vergl. genauer W. Liebert, Outline substance of a proposal for the Nuclear Weapons Convention to replace the NPT, INESAP Information Bulletin No.4, Jan. 1995, S.5-7. Zurück
17) Vergl. Beitrag von D. Deiseroth in dieser W&F-Ausgabe. Zurück
Dr. Wolfgang Liebert (Physiker) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Hochschule Darmstadt und Mitglied des Koordinationskomitees des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP).