W&F 1999/1

Von Bretton Woods zum »Casino-Kapitalismus« – und zurück?

Zur Reform der internationalen Finanzarchitektur

von Rainer Falk

Das Thema dieses Beitrags verweist auf die entscheidende Zäsur in der Entwicklung des internationalen
Finanzsystems nach dem Zweiten Weltkrieg: den Zusammenbruch des sogenannten Systems von Bretton Woods Anfang der 70er Jahre, also jenes Systems der zum US-Dollar fest fixierten Wechselkurse, das 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods in den USA aus der Taufe gehoben worden war. Seither, d.h. seit Beginn der 70er Jahre, hat sich faktisch ein Laissez-faire der Währungs- und der Geldmärkte etabliert, verbunden mit einer quantitativen Explosion dieser Märkte und einer Spaltung des Finanzsektors in ein nichtstaatliches Segment und ein mit den nationalen Ökonomien verflochtenes Segment.1

In seinem World Economic Outlook vom Frühjahr 1997 bezeichnete der Internationale Währungsfonds (IWF) den Finanzsektor als den Bereich, in dem die Globalisierung der Weltwirtschaft wahrscheinlich am weitesten fortgeschritten sei. In unmittelbarer Reaktion auf politische Veränderungen könne das Geld heute schnell in ein gegebenes Land hinein- und genauso schnell wieder aus diesem herausfließen und auf diese Weise einen viel größeren Druck auf die Regierungen als früher ausüben, damit diese ihre Politik in Ordnung bringen (“to get policies right“). Der IWF begrüßte diese Entwicklung, weil die Welt dadurch noch näher an sein eigenes Ideal der fiskalischen Sparsamkeit und der Marktliberalisierung herangeführt werden könne.2

Das Beispiel illustriert recht plastisch eine Dimension des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, die in der Diskussion über Globalisierung und (tatsächliche oder vermeintliche) weltwirtschaftliche Sachzwänge oft vergessen wird: Wenn wir die IWF-Autoren richtig verstehen, so betrachten sie die globale Liberalisierung der Kapitalmärkte keineswegs nur als Zustand, sondern als willkommenen Hebel, um in aller Welt Gesetze durchzusetzen, die als volkswirtschaftliche Sachgesetze ausgegeben werden, in Wirklichkeit aber die Gesetze des Kapitalmarkts sind. Wer diese nicht befolgt, wird von den Kapitalmärkten »bestraft«.

Die Medaille hat jedoch noch eine andere Seite: Die weltweit liberalisierten Kapitalmärkte von heute sind kein per se gegebener Naturzustand, sondern Ergebnis eines politischen Prozesses seit Beginn der 70er Jahre, der von den herrschenden politischen Akteuren, den G7-Regierungen und nicht zuletzt dem IWF selbst, zielstrebig vorangetrieben wurde. Die Geschichte dieser Entwicklung ist zugleich die Geschichte der politischen und institutionellen Herstellung eines wahren Treibhausklimas der neoliberalen Globalisierung. Gerade bei der Betrachtung des Finanzsektors und seiner institutionellen Entwicklungsbedingungen wird klar, wie radikal sich diese Ordnung (oder besser: Unordnung) von den Verhältnissen der durch die Beschlüsse von Bretton Woods geprägten Nachkriegsordnung unterscheidet.

Das Bretton Woods-System …

Als Keynes und sein amerikanischer Kollege Harry Dexter White sich daran machten, das Design für die internationale finanzielle Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwerfen, herrschte – ungeachtet aller späteren Meinungsdifferenzen – insofern Übereinstimmung zwischen ihnen, als die Kontrolle der internationalen Kapitalbewegungen eine notwendige Voraussetzung für ökonomische Prosperität in der Nachkriegswelt sei. Das Instrument der Kapitalverkehrskontrollen fand so schließlich Eingang in das Bretton-Woods-Abkommen.

Für unsere heutige Debatte ist es interessant, dass die ursprünglichen, weitreichendsten Vorschläge auch damals schon auf die wütende Opposition der (New Yorker) Bankenwelt stießen. Verbindliche Kontrollvorschriften, so argumentierten sie, liefen auf die Einmischung in einen profitablen Geschäftszweig hinaus, der sich mit der Aufnahme internationalen Fluchtkapitals in New York seit den 30er Jahren herausgebildet hatte. Zwar gelang ihnen die Durchsetzung weniger scharfer Formulierungen; aber immerhin war dann das gesamte »Goldene Zeitalter«, also die Zeitspanne bis Anfang der 70er Jahre, dadurch gekennzeichnet, dass buchstäblich alle Staaten außer den USA intensive Kapitalverkehrskontrollen praktizierten.3

Ähnlich wie in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen, war das auf der Konferenz von Bretton Woods beschlossene Finanzsystem insgesamt – gemessen an den ursprünglichen Intentionen von Keynes und seinen Freunden – ein bereits um wesentliche Elemente amputiertes Gebilde. Statt des von Keynes als Weltgeld geforderten »Bancor« wurde ein System etabliert, in dessen Zentrum der US-Dollar stand, der seinerseits durch Gold gedeckt war. Die Wechselkurse aller anderen Währungen waren in einer festen Relation zum US-Dollar definiert, die nur mit Zustimmung des IWF geändert werden durfte. Erst mit der Schaffung der Sonderziehungsrechte Ende der 60er Jahre, einer Art internationalem Kunstgeld, wurde die ursprüngliche Weltgeldidee doch noch verwirklicht, allerdings nur in höchst verkrüppelter Form.

Bereits mit dem Stabilierungsfonds-Konzept des amerikanischen Delegierten White, das mit der Gründung des IWF verwirklicht wurde, war nicht jenes Maß an internationaler Liquidität geschaffen worden, das Keynes in seiner Clearing-Union-Idee für erforderlich gehalten hatte, um künftige Zahlungskrisen zu vermeiden. Die faktische Struktur und Größe des IWF lief vielmehr auf eine glatte Verkehrung der ursprünglichen Pläne von Keynes hinaus. Hatte dieser für einen großen Fonds mit (wenn überhaupt) »weicher« Konditionalität plädiert, so hatte die Welt jetzt einen kleinen Fonds mit harter Konditionalität bekommen (was vor allem später im Zeitalter der Strukturanpassungspolitik verhängnisvolle Konsequenzen haben sollte). Und dieser Fonds konnte obendrein – aufgrund des Dollar-Leitwährungsmodells – zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der US-Hegemonie in der Weltwirtschaft genutzt und instrumentalisiert werden.

Das in Bretton Woods errichtete System der festen Wechselkurse wurde schon nach relativ kurzer Zeit wieder abgelöst; streng genommen existierte es nur eine historisch kurze Spanne von 15 Jahren, von der Herstellung voller Konvertibilität 1958 bis zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973. Immerhin jedoch war dies eine Periode beispielloser Prosperität in der Geschichte des Kapitalismus, mit hohen Wachstumsraten, relativer oder annähernder Vollbeschäftigung und beachtlichen sozialen Sicherungssystemen in den Zentren, was eben viele erst im Nachhinein zur Rede vom »Goldenen Zeitalter« veranlasst hat.

… und sein Zusammenbruch

Bei vielen Autoren herrscht Einigkeit darüber, dass wir seit den 70er Jahren in einer bis heute anhaltenden globalen Strukturkrise leben, deren Herausbildung einem Bruch in der kapitalistischen Entwicklung, einem tiefen Einschnitt in der Nachkriegsentwicklung, gleichkam. Es ist keineswegs zufällig, dass dieser Einschnitt eng mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems verknüpft war, der seinerseits durch diverse Währungskrisen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre vorangekündigt wurde.4 Seither wird die Entwicklung durch zwei zentrale Widerspruchskomplexe geprägt:

  • Erstens durch einen wachsenden Überschuss an Kapital im Verhältnis zu profitablen Investitionsmöglichkeiten im produktiven Sektor; und
  • zweitens durch eine zunehmende Inkonsistenz zwischen wachsender Internationalisierung einerseits und der (zum großen Teil politisch erzeugten und erwünschten) Beschränkung nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten gegenüber der Ökonomie andererseits.5

Der erste Widerspruchskomplex findet seinen Ausdruck in einem deutlichen Wandel des privatwirtschaftlichen Investitionsverhaltens: Gewinnsteigerungen werden zum einen immer stärker über Rationalisierungen, Kostensenkungen und Flexibilisierungen angestrebt (demgegenüber nimmt die Bedeutung echter Erweiterungsinvestitionen relativ ab). Auch die Vornahme von Direktinvestitionen im Ausland sowie der Übergang zu neuen Formen der internationalen Unternehmensorganisation werden zur Gewinnmaximierung immer wichtiger, sei es durch Expansion auf bislang unerschlossenen Märkten, sei es zur Einsparung von (Lohn-) Kosten durch Produktionsverlagerungen.

Zum anderen nimmt das überschüssige Kapital in dem schnell wachsenden Sektor der internationalen Finanzinvestitionen Zuflucht (Spekulation und Kreditgeschäfte). Auch wenn es dort eine außerordentliche internationale Mobilität (mit exorbitanten Akkumulationsraten) entwickelt und zu einer »Spaltung des Finanzsektors« in ein nichtstaatliches und ein mit den nationalen Ökonomien verflochtenes Segment geführt hat, bleibt es doch, wie der Hamburger Ökonom Joachim Bischoff argumentiert, „auf die Rückverwandlung in gesamtwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge der diversen Nationalkapitale angewiesen“.6

Zur Krisentendenz des heutigen Finanzsystems

Viele Merkmale der empirischen Entwicklung sprechen für die u.a. von Rudolf Hickel vertretene These, dass wir es bei der Internationalisierung der Finanzmärkte mit einem Quantensprung zu tun haben, aus dem sich beträchtliche Gefahren für Produktion und Arbeitsplätze ergeben.7 Seit Ende der 70er Jahre und einhergehend mit der Durchsetzung einschlägiger Maßnahmen der Kapitalmarktliberalisierung, sind die Kapitalmärkte in der Tat geradezu explodiert. Wie die verfügbaren empirischen Daten zeigen, hat sich der Devisenumsatz allein zwischen Ende der 70er und Ende der 80er Jahre mehr als verzehnfacht; die Expansion hielt aber auch in den 90er Jahren mit unvermindert hohem Tempo an. Eine Gegenüberstellung der Umsätze an den internationalen Finanzmärkten mit den Umsätzen im Welthandel macht deutlich, dass tatsächlich lediglich ein Bruchteil der Finanzumsätze erforderlich wäre, um den internationalen Handel zu finanzieren. Nach den zuletzt verfügbaren Angaben für Anfang 1995 betrug der im Handel mit den sog. Finanzderivaten sowie mit Devisen- und Zinsdifferenzgeschäften erzielte Umsatz nahezu zwei Billionen US-Dollar täglich – gegenüber noch rund einer Billion vor etwa zwei Jahren (zwei Billionen, das ist eine Zahl mit zwölf Nullen: 2.000.000.000.000). Davon wurden am Stichtag 1,1 Billionen offiziell an den Börsen und 839 Milliarden im sogenannten Freiverkehr (OTC) gehandelt – in der Tat eine beeindruckende Summe.8

Verbunden mit dieser internationalen Aufblähung des Finanzsektors ist die Entstehung einer internationalen »Rentiers-Klasse«, also einer gesellschaftlichen Gruppe, die im wesentlichen von der Verzinsung ihres Geldvermögens leben, woraus sich ihrerseits wachsende Ansprüche an die Politik entwickeln: „Mit den Geldvermögensbesitzern“, schreibt Elmar Altvater, „ist neben Lohnarbeit und Kapital eine (neue) Klasse entstanden, die im wesentlichen von Zinseinkünften lebt. Der Anteil der Vermögenseinkommen an den Einkommen aus Unternehmertätigkeit ist in der Bundesrepublik von 7% im Jahre 1960 über 41% in 1980 auf 50% in 1990 angestiegen. Mehr als 10% der Einnahmen der öffentlichen Haushalte gehen inzwischen für Zinszahlungen an Geldvermögensbesitzer drauf.“9 Die beiden englischen Theoretiker James Crotty und Gerald Epstein interpretieren diese Entwicklung als Neuauflage der Allianz einer erstarkten Rentiers-Klasse mit dem Industriekapital bei Dominanz ersterer. Das erste Anzeichen für ihr Erstarken sei die Entstehung des Euro-Dollarmarkts seit den 60er Jahren am Finanzplatz London gewesen; er gestattete Banken und Industriekapitalen gleichermaßen den Zugang zu Marktkapital, ohne die Zahlungsbilanz der USA zu belasten. Mit ihm entschwand das »Gespenst der Globalisierung« aus der Flasche und machte sich in Form der neoliberalen Deregulierungspolitik in der 70er und 80er Jahren überall an die Arbeit.10

Die Tendenz zur »Monetarisierung« ist zugleich selbst noch als Ausdruck und Modus eines kapitalistischen Krisenmanagements zu begreifen, das allerdings keine Lösung der Krise bedeutet, sondern diese in ziemlich weite Ferne rückt.11 Den neuen Dimensionen der Finanzmarktentwicklung sind destabilisierende Rückwirkungen eigen, die in wachsendem Maße die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gefährden. Zwar sind die modernen Finanzgeschäfte zum Teil eine notwendige Folge der zunehmenden Währungsschwankungen, die Absicherungsgeschäfte (z.B. hedging) in größerem Ausmaß erforderlich machen als zur Zeit fixer Wechselkurse. Unabweisbar ist jedoch, dass mit der Zeit aus dem Risikoschutz eine Vermehrung von Risiken geworden ist. Schon Karl Marx schrieb (im 3. Band des Kapitals): „Der Marktwert dieser Papiere ist zum Teil spekulativ, da er nicht nur durch die wirkliche Einnahme, sondern durch die erwartete, vorweg berechnete bestimmt ist.“12

So hat sich denn die Entwicklung der Finanzmärkte von heute als eine ausgesprochen janusköpfige Angelegenheit herausgestellt: „Derivate ermöglichen nicht nur eine bessere Verteilung der Risiken, sie sind selbst zum Grund von spekulativen Entwicklungen geworden und tragen zum Überschießen der Anpassungsprozesse auf den Finanzmärkten bei. Der Gedanke ist nicht mehr wegzuwischen, dass die Derivate ein Gewicht erreicht haben, das zu einer weiteren Gefährdung der Weltfinanzen führt. So heißt es in einer Kapitalmarktstudie der G-10-Notenbankchefs: »So willkommen das Wachstum der internationalen Finanzmärkte im Hinblick auf ihre Größe, Integration und Beweglichkeit gesamtwirtschaftlich auch sein mag, so hat es doch zu einem Anwachsen des Drucks geführt, der auf einen Wechselkurs ausgeübt werden kann, wenn sich die Stimmung ändert.«“13

Was dies im einzelnen konkret bedeuten kann, zeigte sich in der mexikanischen Pesokrise Ende 1994/Anfang 1995, die die G-7-Chefs und den IWF fast zwei Jahre lang in Atem hielt und zu einer »fieberhaften Suche« (FT) nach geeigneten Daten für ein Frühwarnsystem führte, um aktuelle und künftige Finanzkrisen einzudämmen – wie man heute weiß, ohne Erfolg. Inzwischen ist die Mexikokrise in ihrer Dimension und internationalen Bedeutung durch die Asienkrise weit übertroffen worden. Dies hat sich nicht zuletzt im Umfang der Finanzmittel niedergeschlagen, die in kürzester Zeit zu ihrer Bewältigung aufgebracht wurden und die die Dimension der mexikanischen »Rettungsaktion« bei weitem übertreffen.

Ein neues Bretton Woods als Alternative?

Seit der Mexikokrise und verstärkt noch seit dem Ausbruch der Asienkrise im Sommer 1997 wurde eine Fülle von Maßnahmen erwogen oder beschlossen, mit denen den zunehmenden Erschütterungen im internationalen Finanzsystem begegnet werden sollte. Doch keine dieser Maßnahmen zielte auf die Beseitigung der von den Finanzmärkten ausgehenden Destabilisierungsgefahren bzw. auf die Bekämpfung der Ursachen der Krise, die in der hohen Volatilität des Geldkapitals auf den internationalen Finanzmärkte liegen. Finanzielle Interventionen nach Art der bail-outs für Mexiko oder die asiatischen Krisenländer fanden immer erst dann statt, wenn die Krise offen ausgebrochen war und nicht mehr vertuscht werden konnte. Die Finanzmittel, die für dieses ex-post-Krisenmanagement erforderlich sind, – wenn man so will: die Kosten der Systemstabilsierung – werden immer höher, während der Erfolg ihres Einsatzes umstritten bleibt.14

Auch bessere Informationssysteme, eine andere Ebene, auf die sich die offiziellen Anstrengungen konzentrierten, können Krisen grundsätzlich allenfalls abkürzen oder in ihrem Verlauf abmildern. Die diesbezüglichen Bemühungen zielen bislang zudem ausschließlich auf die makro-ökonomische Politik der Länder und gehen davon aus, dass den internationalen Finanzmärkten die Rolle eines legitimen »Abstrafungs- und Disziplinierungsmechanismus« gegenüber den Ländern zukommt. Dabei haben selbst die exzellentesten Informationssysteme keine per se spekulationsvermeidende Wirkung: Sie verschieben lediglich den Zeitpunkt, an dem die spekulativen Blasen platzen und die Herde der Spekulanten in einer Richtung davon läuft.

So notwendig und unumstritten eine Verbesserung des Aufsichtswesens im Bankensektor der Krisenländer ist, um die Banken vom Eingehen außergewöhnlicher Risiken abzuhalten, so unzureichend ist dies: Weder kann sich ein Land ohne zusätzliche aussenwirtschaftliche Steuerungsmöglichkeiten (z.B. Kapitalverkehrskontrollen) gegen die negativen Auswirkungen übermäßiger Kapitalzuflüsse aus dem Ausland schützen, noch greift die interne Bankenaufsicht, wenn (wie in den Krisenländern Asiens der Fall) die Industriekonzerne direkt zur Kreditaufnahme im Ausland übergehen können.15

Einige der derzeit diskutierten oder eingeleiteten Schritte waren zudem eher zur Programmierung künftiger Krisen als zu ihrer Verhinderung geeignet. So sollte dem IWF – trotz Erfahrungen der Asienkrise – das zusätzliche Mandat zugesprochen werden, auf die schrittweise Beseitigung nationaler Kapitalverkehrskontrollen, also die weitere Deregulierung der Finanzmärkte, zu drängen (capital account liberalisation). Dies mutete so an, als wollte man die Krankheit mit demselben Mittel bekämpfen, das maßgeblich zu ihrem Ausbruch beigetragen hat.16

Zu lange bestand die in den G7-Ländern vorherrschende Reaktionsweise darin, die potentiellen Vorteile »freier« internationaler Kapitalmärkte zu loben, statt deren Regulierungsdefizite ins Visier zu nehmen. Nicht zuletzt deshalb ist der IWF zu Recht ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Für ihn stellte sich die Asienkrise als »goldene Gelegenheit« dar, sein eigenes Machtpotential weiter zu stärken und seine neoliberalen Standard-Rezepturen auch in solchen Ländern durchzusetzen, die bis dahin einen eigenen und eigenständigen wirtschaftspolitischen Kurs verfolgt haben:

  • Statt sich auf die kurzfristige Überbrückung von Zahlungsproblemen und eine schnelle Stabilisierung der Situation zu konzentrieren, hat der IWF die Bereitstellung von Finanzmitteln mit makro-ökonomischen »Reformprogrammen« verknüpft, deren rezessiver Charakter zu einer Verschärfung der Krise beigetragen hat.
  • Statt dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Krise vor allem Ausdruck eines Versagens der in- und ausländischen Märkte ist, wurden die Regierungen zu einschneidenden wirtschaftspolitischen Kursveränderungen gezwungen (Importliberalisierung, Privatisierung, Zulassung von Auslandskapital in bis dahin Einheimischen vorbehaltenen Industriezweigen, Zulassung von ausländischen Banken im Finanzsektor).

Trotz (oder gerade wegen) dieser Unzulänglichkeiten hat die Asienkrise insgesamt ein neues Kapitel in der Diskussion um eine Re-Regulierung der Weltwirtschaft und insbesondere zur Stabilisierung und Reform des internationalen Finanzsystems aufgestoßen. Dazu mangelt es nicht an sinnvollen Vorschlägen. Ihre Umsetzung scheitert meistens nicht an mangelnder Praktikabilität, sondern an mangelndem politischen Willen. Ob es jedoch zu der von vielen Seiten geforderten »Neuen Internationalen Finanzarchitektur« kommt, muss als offen gelten. Neben dem objektiv bestehenden Problem- und Handlungsdruck kann nicht übersehen werden, wie stark die Interessen und wie tief verankert die (neoliberale) Ideologie sind, die den Widerstand gegen fundamentale Reformen des internationalen Finanzsystems speisen und am Leben erhalten.

Angesichts der bislang praktizierten Politik der Ergebenheit gegenüber den Kapitalmärkten nehmen sich einige Vorschläge zur Re-Regulierung des internationalen Finanzsystems, die derzeit zur Diskussion stehen, geradezu wohltuend aus. So plädiert die französische Regierung für die partielle Rückkehr zu Kapitalverkehrskontrollen. Der neue deutsche Finanzminister Lafontaine hält die Einrichtung von währungspolitischen Zielzonen für ein geeignetes Mittel zur Stabilisierung des Finanzsystems. Der britische Premier Blair ist hingegen vor allem für eine Effektivierung und Stärkung des Internationalen Währungsfonds.

Die Crux besteht freilich gerade darin, dass zwei sehr unterschiedliche Aufgaben fast gleichzeitig erledigt werden müssen: effektive Feuerwehraktionen, um eine weitere Ausbreitung der aktuellen Krisen zu stoppen, und eine gründliche und radikale Neudefinition der Rolle der internationalen Finanzinstitutionen, insbesondere des IWF. Gerade im Bereich des IWF sind die bisherigen Vorschläge von offizieller Seite jedoch besonders dürftig.

Wie bereits angedeutet, müssen die aktuellen Reformvorschläge letztlich daran gemessen werden, ob sie sich auf die Bekämpfung der Ursachen der Finanzkrisen, die in der hohen Volatilität des Geldkapitals zu suchen sind, konzentrieren oder aber ob sie lediglich auf eine modifizierte Fortschreibung des bisherigen Krisenmanagements hinauslaufen. Von zentraler Bedeutung dürften zunächst die folgenden vier Maßnahmekomplexe sein:

  • Wenn Länder sich gegen den Aufbau spekulativer Blasen wirklich schützen wollen, muss ihnen ermöglicht werden, im Zweifelsfall auf Kapitalverkehrskontrollen zurückzugreifen. Es wäre besonders verhängnisvoll, wenn man – wie geplant – dem IWF auch noch das Mandat zur Durchsetzung der völligen Liberalisierung des Kapitalverkehrs gäbe.
  • Nach wie vor gibt es starke Argumente für die Besteuerung grenzüberschreitender Kapitalflüsse (Tobin Tax), um das hohe Tempo internationaler Kapitalbewegungen zu entschleunigen und die kurzfristige Arbitrage-Spekulation zu entmutigen.
  • Bis auf weiteres werden kurzfristige Umschuldungen und zügige Entschuldungsmaßnahmen notwendig sein. Diese dürfen jedoch nicht wie bisher mit den neoliberalen Auflagen der IWF-Strukturanpassungspolitik verknüpft werden, sondern müssen schnell und unbürokratisch erfolgen.
  • Für bestimmte Fälle bedarf es darüber hinaus eines internationalen Insolvenzmechanismus, um überschuldeten Ländern einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen.

Vieles läuft angesichts der aktuellen Finanzkrisen auf das Projekt eines »neuen Bretton Woods« hinaus.17 Entscheidend wird jedoch sein, ob ein solches Abkommen unter gleichberechtigter Teilnahme aller Betroffenen oder in einem undemokratischen und exklusiven Club wie den G7 oder G8 ausgehandelt werden wird. Entscheidend wird ferner sein, ob ein solches Abkommen gleiche Regeln für Gläubiger und Schuldner festlegt oder ob die bisherige Asymmetrie, die stets einseitig die (privaten) Gläubiger bevorzugte, beibehalten wird.

Der IWF steht in diesem Zusammenhang für ein veraltetes System, das – wenn überhaupt – nur auf Kosten der schwächeren Glieder der Weltwirtschaft funktionierte. Sicher wären vom Fonds mehr Transparenz bei der Durchführung seiner Operationen oder eine Aufwertung der Position von armen und Schwellenländern zu verlangen. Dennoch lassen sich die grundlegenden Zweifel an der Reformierbarkeit des IWF – gerade angesichts seines Agierens in den jüngsten Finanzkrisen – wahrscheinlich nicht ausräumen. Sollte der IWF also schlicht abgeschafft werden, wie heute selbst Vertreter des wirtschaftspolitischen Mainstreams häufig fordern?

Es wäre kein Fehler, den IWF selber »gesundzuschrumpfen«, wie seine Vertreter regelmäßig von den krisengebeutelten Ländern fordern. Dennoch wäre es der falsche Weg, ihm einfach neue Finanzmittel oder die Weiterfinanzierung schlechthin zu verweigern, wie es bis vor kurzem die Rechte im US-Kongreß versucht hat. Dies verkennt den Liquiditätsbedarf, den es angesichts der Steuerungserfordernisse in der Weltwirtschaft gibt. Auf der anderen Seite wäre jedoch auch eine finanzielle Bestandsgarantie für den IWF nicht angemessen.

Nichtregierungsorganisationen wie WEED (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) haben deshalb anläßlich der Jahrestagung der Bretton-Woods-Institutionen im Oktober 1998 die Auflösung des IWF in ein System dezentraler Regionalfonds ins Gespräch gebracht.18 Dies wäre den Regionalisierungstendenzen der Weltwirtschaft angemessener als ein zentralistischer Moloch. Regionalfonds könnten den Interessen der einzelnen Länder mehr Berücksichtigung schenken und darüber hinaus flexibler als die derzeitigen Mechanismen auf Krisentendenzen reagieren.

Ganz verschwinden müßte der heutige IWF freilich nicht von der internationalen Bühne: Er könnte die Regionalfonds koordinieren und die Finanzmittel für sie aufbringen, und er könnte sich ansonsten zu einem politischen Mechanismus weiterentwickeln, der die wirtschafts- und finanzpolitische Zusammenarbeit der Mitgliedsländer organisiert. Letzteres ist übrigens auch eine Funktion, die die »Gründungsväter« dem Fonds zugedacht hatten, die er aber nie ausgefüllt hat. Wer künftig ausschließen will, dass sich das internationale Karussell der Finanzkrisen stets von neuem dreht, wird nicht zuletzt im Norden ansetzen müssen. Er wird die von hier aus agierenden Banken einer stärkeren internationalen Kontrolle unterwerfen, die Finanz- und Investitionsströme wieder verstärkt auf die Realökonomie orientieren und die Ökonomie insgesamt wieder dem Primat der Politik unterwerfen müssen.

Anmerkungen

1) Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Juni 1998 an der Universität Trier gehalten hat.

2) Zit. nach: Financial Times (FT), 24.4.1997.

3) Zur Problematik der Kapitalverkehrskontrollen siehe auch: Jörg Huffschmid, Kapitalverkehrskontrollen: Die Realität hinter der Rhetorik, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), 09/1998.

4) Vgl. dazu: Elmar Altvater, Die Weltwährungskrise, Frankfurt/M.-Wien 1969.

5) Vgl. dazu auch: Rainer Falk, Globalisierung, Weltmarktkonkurrenz und Abhängigkeit: Soziale Rutschbahn oder internationale Regulierung?, in: Kai-Eicker-Wolf u.a. (Hg.), Wirtschaftspolitik im theoretischen Vakuum? Zur Pathologie der Politischen Ökonomie, Marburg 1996, S. 205-233,

6) Joachim Bischoff, Globalisierung. Zur Analyse des Strukturwandels der Weltwirtschaft, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Nr. 1/1996,
S. 7.

7) Vgl. Rudolf Hickel, Globalisierung der Finanzmärkte, in: IMSF (Hg.), Internationalisierung, Finanzkapital, Maastricht II, Frankfurt/M. 1996.

8) Vgl. The Economist, 13.1.1996.

9) Elmar Altvater, Wettlauf ohne Sieger. Politische Gestaltung im Zeitalter der Geo-Ökonomie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/195, S. 192-202, hier: S. 199.

10) Vgl. James Crotty/Gerald Epstein, In Defense of Capital Controls, in: Leo Panitch (ed.), Socialist Register 1996 (Are There Alternatives?), Merlin Press: London 1996, S. 118-149; bes.
S. 122ff.

11) Vgl. Samir Amin, Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung, Hamburg 1997, S. 53ff.

12) Karl Marx, Das Kapital, 3. Band, MEW 25,
S. 485.

13) Joachim Bischoff, Globalisierung, a.a.O., S. 27f.

14) Einen etwas anderen Akzent wollte man offensichtlich mit dem jüngsten Hilfspaket für Brasilien setzen, das bewußt schon vor dem Ausbruch der Krise geschnürt wurde. Allerdings konnte auch dieser eher präventiv gedachte Ansatz den Ausbruch einer Finanzkrise (mit einer Währungsabwertung des Real von inzwischen 40%) nicht verhindern.

15) Vgl. dazu vor allem: UNCTAD (ed.), Trade & Development Report 1998: Financial Instability/Growth in Africa, Genf-New York 1998.

16) Inzwischen scheint der Vorschlag allerdings nicht mehr aktuell zu sein, da sich die Durchsetzungschancen angesichts der Dramatik der Asienkrise verringert haben.

17) Vgl. dazu auch: Dirk Messner, Ein »Neues Bretton Woods«. Ein Regelsystem für den Weltmarkt gehört auf die internationale Tagesordnung, in: Entwicklungs und Zusammenarbeit (E + Z), Nr. 12/1998.

18) Vgl. dazu auch: Heribert Dieter, Die Asienkrise. Ursachen, Konsequenzen und die Rolle des Internationalen Währungsfonds, Marburg 1998, S. 111ff.

Rainer Falk, Wirtschaftspublizist, ist verantwortlicher Redakteur des Informationsbriefs Weltwirtschaft und Entwicklung, Bonn.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/1 Risiko Kapital, Seite