W&F 1998/4

Von der kämpfenden Truppe zur zivilen Ordnungsmacht

von Werner Dierlamm

Die deutsche Übersetzung der 1993 in London und New York veröffentlichten »History of Warfare« des britischen Militärhistorikers John Keegan nimmt Werner Dierlamm, Diskussionspartner unserer Pazifismusdebatte (Dierlamm 1995), zum Anlaß, sein zentrales, von seinem Kontrahenten (Fuchs 1996) vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Anliegen erneut zur Sprache zu bringen. Dieses Anliegen heißt: von einer pazifistischen Position aus im Gespräch bleiben bzw. ins Gespräch kommen mit dem Gegenüber; mit Staat, Militär und Kirche, mit der herrschenden Politik. Dierlamms Stellungnahme beinhaltet einen referierenden Teil und einen kritisch-kommentierenden. Wir veröffentlichen hier den kommentierenden Teil, redaktionell geringfügig überarbeitet, als weiteren Beitrag zur Pazifismusdebatte.

Die New York Times beurteilte John Keegans (1993) »A History of Warfare« als „die wohl bemerkenswerteste Darstellung der Kriegführung, die je geschrieben wurde“. Was immer man von solchen Urteilen halten mag, Keegan nimmt als Kenner der Materie zu zentralen Fragen, die Pazifisten heute bewegen, in einer Weise Stellung, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Es sei versucht, die Bedeutung seiner Arbeit für die Friedensbewegung in Thesenform auf den Punkt zu bringen.

1. Zunächst werden wir durch Keegans Buch nachdrücklich daran erinnert, daß es Kriege gegeben hat, seit Geschichte aufgezeichnet wurde, d.h. seit 5.000 Jahren. Es ist also ein außerordentlich anspruchsvolles Vorhaben, wenn wir in unserer Zeit die »Institution des Krieges« überwinden wollen.

2. Bei aller Vielgestaltigkeit der Kriegführung sind nach Keegan zwei wichtige Unterscheidungen zu treffen: a) Mit dem Theologen Aurelius Augustinus (354-430) und dem Rechtsgelehrten Hugo Grotius (1583-1645) ist zwischen »gerechten« und »ungerechten« Kriegen zu unterscheiden. b) Ebenso deutlich ist zwischen Kriegen bei »Primitiven« oder bei den »Orientalen«, die durch verschiedene Faktoren wie Rituale und Überlebenswillen begrenzt werden, und dem »westlichen«, »modernen« und »absoluten« Krieg, der in der Logik von Clausewitz (1994) die totale Vernichtung des Gegners mit unbegrenzten Gewaltmitteln anstrebt (vgl. Erster und Zweiter Weltkrieg), zu unterscheiden.

3. Trotz dieser Differenzierungen ist John Keegan weit davon entfernt, den Krieg zu verherrlichen. Er wünscht sich, daß er abgeschafft wird, wie die Sklaverei abgeschafft wurde. Dieses deutliche Nein zur Institution des Krieges verbindet er mit einem klaren Ja zum „gut ausgebildeten und disziplinierten“ Soldaten. Seine Aufgabe sei es nicht, Vernichtungskriege zu führen, sondern Vernichtungskriege zu verhindern oder zu begrenzen. Keegan sieht in ihnen „Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft“. Sie sollen daher „gerechterweise als Beschützer der Zivilisation und nicht als deren Feinde betrachtet werden“ (a.a.O., S. 553).

4. Die Position von John Keegan deckt sich m.E. mit dem Selbstverständnis der UNO, wie sie in der UN-Charta zum Ausdruck kommt. Die Vereinten Nationen wollen der Präambel zufolge „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges bewahren“; der Sicherheitsrat kann aber auch „mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen“ (Art. 42 UN-Charta).

5. Die Schwäche dieser Position wird deutlich, wenn Keegan im Zweiten Golfkrieg gegen Saddam Hussein „den ersten Sieg der Ethik des gerechten Krieges“ sieht, „seit Grotius auf dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges dessen Prinzipien festgelegt hatte“ (a.a.O., S. 542). Zwar ist unbestreitbar, daß dieser Krieg auf seiten der Alliierten nicht mit dem totalen Vernichtungswillen der beiden Weltkriege geführt wurde – er war in wenigen Monaten beendet, und der fliehende Feind wurde auch nicht bis Bagdad verfolgt. Doch hat dieser Krieg mit seinen Folgelasten große Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert und die Gefahr, die von dem Diktator ausgeht, überhaupt nicht beseitigt. Sollte es zu einem abermaligen »Militärschlag« kommen, würden dadurch die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens erst recht nicht gelöst, sondern noch weiter verschärft.

6. Trotz dieser notwendigen Kritik stellt die Position von John Keegan (und der UNO) eine Herausforderung für Pazifisten dar, in den Dialog mit den Soldaten einzutreten, die sich als »Friedenserhalter und Friedensstifter der Zukunft« verstehen. Dieses Selbstverständnis sollte nicht als Maskierung ironisiert, sondern beim Wort genommen werden. Das heißt aber, Antwort einfordern auf folgende Fragen, u.a.: Wie wollt ihr in Zukunft den Frieden erhalten und stiften? Wie wollt ihr die militärische Gewalt (im Sinne Keegans) begrenzen, wenn ihr sie grundsätzlich bejaht? Glaubt ihr, die B- und die C-Waffen aus der Welt schaffen zu können, wenn ihr an den A-Waffen festhaltet? Wie wollt ihr den Terrorismus überwinden, wenn Eure Fabriken massenhaft Gewehre und alle möglichen Kleinwaffen produzieren?

7. Auch wir Pazifisten wollen den Frieden erhalten und Frieden stiften. Wir schlagen vor, ein „Gesamtkonzept ziviler Konfliktbearbeitung als Perspektive für das 21 Jahrhundert in Theorie und Praxis zu entwickeln“ – wie es in dem Memorandum des Europäischen Friedenskongresses 1998 heißt. Diese Position gilt es auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zu vertreten und umzusetzen, auch und nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Militär.

8. Für Pazifisten, die das Christentum als friedenspolitische Kraft noch nicht abgeschrieben haben, mag von besonderem Interesse sein, daß John Keegan wiederholt die Ambivalenz der Christenheit – im Gegensatz zur Eindeutigkeit des Islam – in der Frage konstatiert, ob militärische Gewalt moralisch zulässig sei oder nicht: „Christen haben sich nie einhellig zu der Ansicht durchringen können, ein Mann des Krieges könne auch eine Mann des Glaubens sein.“ (a.a.O., S. 287). So notwendig die Diskussion mit dem Militär ist, so notwendig ist daher der Dialog mit den christlichen Kirchen. Von ihnen sollten (christliche) Pazifisten unermüdlich die Konsequenzen daraus einfordern, daß Christus – wiederum im Gegensatz zu Mohammed – sich nach allem, was wir darüber wissen, nicht als Krieger, sondern als »Fürst des Friedens« verstanden hat.

All das läuft darauf hinaus, mit Keegan und über Keegan hinaus, an das »Wunder« zu glauben, daß eine »Konversion« der Armee als kämpfende Truppe in eine zivile Ordnungsmacht möglich ist.

Literatur

Clausewitz, C.v. (1994): Vom Kriege, Frankfurt/M. (Original: Vom Kriege, Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Berlin, Dümmler, 1832).

Dierlamm, W. (1995): Gewalt für Frieden? „Eigentlich„ Schutzmacht für die Schwachen, Wissenschaft und Frieden, 13 (3), S. 45.

European Peace Congress Osnabrück ‘98 (1998): Für eine Friedenspolitik ohne Militär, Memorandum anläßlich »350 Jahre Westfälischer Friede«, Osnabrück.

Fuchs, A. (1996): Gewalt für Frieden? Skeptisch-utopischer Nachtrag zu Pfarrer Dierlamms und anderer Vertrauensbekundung gegenüber der Staatsgewalt, Wissenschaft und Frieden, 14 (4), S. 55-58.

Keegan, J. (1997): Die Kultur des Krieges, Reinbek (Original: A History of Warfare. London/New York, 1993).

Werner Dierlamm, Pfarrer i.R., ist Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender von »Ohne Rüstung Leben«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/4 Türkei, Seite