Von Patrioten, Raketenabwehr und Bündnissolidarität
von Götz Neuneck
Raketenabwehr scheint wieder in Mode zu kommen. Am 4.12.2012 entschieden die NATO-Außenminister auf eine Anfrage der Türkei, die „integrierte NATO-Luftverteidigung“ durch die Stationierung von Abwehrraketen des Typs »Patriot« der USA, der Niederlande und Deutschlands zu stärken und „die Bevölkerung und das Territorium der Türkei zu schützen“. Grundlage ist Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages, der Konsultationen vorsieht, „wenn nach Auffassung eine[s NATO-Mitglieds] die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist“. Zu Recht fragt eine Studie der »Stiftung Wissenschaft und Politik«, „welche dieser drei Dimensionen tatsächlich bedroht ist“.
Wie aber steht es um die Wirksamkeit von Raketenabwehr und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, auch unter dem Aspekt von Massenvernichtungswaffen?
Zwar betonen NATO-Sprecher und Vertreter der türkischen Regierung, die Stationierung sei ausschließlich als defensive Maßnahme zu verstehen und stelle weder auf die Errichtung einer Flugverbotszone noch auf offensive Operationen gegen Syrien ab. Zumindest in der innertürkischen Diskussion ging die Anfrage bei der NATO aber stets mit der Annahme einher, ein militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sei allenfalls eine Frage der Zeit. Patriots haben eine Reichweite zwischen 20 und 160 km und sind daher nur in diesem Radius wirksam gegen anfliegende Flugzeuge oder Raketen. Besteht etwa eine solche Gefahr, solange sich Syrien und die Türkei nicht in einer kriegerischen Auseinandersetzung befinden? Die NATO schuldet ihren Mitgliedern Beistand gegen einen bewaffneten Angriff, nicht aber Rückendeckung für beliebige außenpolitische Ziele. Gegen den Schutz der Bevölkerung und den Erweis von Bündnissolidarität ist im Prinzip wenig einzuwenden. Politische Symbolhandlungen mit militärischen Mitteln, die das Eskalationsrisiko in einer spannungsgeladenen Konfliktregion in die Höhe treiben, sind hingegen kontraproduktiv.
Am 14.12.2012 stimmte der Deutsche Bundestag mit 461 gegen 86 Stimmen für den Antrag der Bundesregierung, zwei Patriot-Abwehrbatterien in die Türkei zu senden. Das Mandat stellt fest: „Die Türkei ist einer potentiellen Bedrohung durch ihren Nachbarn Syrien ausgesetzt.“ Außenminister Westerwelle ergänzte, die NATO wolle gegen alle „Eventualitäten an der Grenze“ gewappnet sein. Es sei „ein klares Signal an das Regime von Assad, mit der Gewalt und Übergriffen auf das Staatsgebiet der Türkei aufzuhören“. Diese Argumentation bezieht sich u.a. auf den Abschuss eines türkischen Flugzeuges am 22.6.2012 über dem Mittelmeer und Granateneinschläge unbekannter Herkunft am 3.10.2012 auf der türkischen Seite der Grenze zu Syrien, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen. Gegen Waffen dieser Art bieten Patriots jedoch keinen Schutz.
Sollte Syrien tatsächlich weiter reichen Raketen auf die Türkei abfeuern, ist allerdings keineswegs sicher, dass es mit den Patriots gelingen würde, diese im Fluge zu zerstören. So könnte eine Rakete zwar getroffen werden, der Sprengkopf aber intakt bleiben und am Boden tödliche Agenzien freisetzen. In diesem Kontext sind insbesondere Meldungen, die syrische Armee hätte ihre Chemiewaffen in Bereitschaft versetzt, Besorgnis erregend. Man spricht von 100 Tonnen Sarin, Senfgas und VX und ca. 100 Mittelstreckenraketen, aber auch von Artillerie. Eskaliert der Bürgerkrieg weiter, muss damit gerechnet werden, dass die Agenzien freigesetzt werden, entweder gegen die Rebellen oder, wenn sie den Aufständischen in die Hände fallen, gegen die Regierungstruppen oder die Zivilbevölkerung. Dies lässt die Befürchtung wachsen, dass es dann auch zu einer direkten Einmischung der NATO kommt.
Die türkische Regierung betrachtet die Patriots als Unterstützung für ihren politischen Syrien-Kurs und als Rückendeckung der westlichen Allianz. Die Frage aber bleibt: Rückendeckung für was? Die Regierung Erdogan plädiert u.a. für die Bewaffnung der oppositionellen Freien Syrischen Armee, für die Bildung einer Übergangsregierung und für die Einrichtung einer Flugverbotszone entlang der syrischen Nordgrenze. Sie setzt auf den Sturz von Assad und sucht den Syrien-Konflikt zu »internationalisieren«. Der Patriot-Einsatz könnte dann dazu beitragen, eine Sicherheitszone im Norden Syriens zu proklamieren und so dem direkten Eingreifen türkischer und/oder amerikanischer Streitkräfte in den syrischen Bürgerkrieg den Boden zu bereiten.
Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.