W&F 2000/1

Von Suttner zu Orwell

Oder: Nennen wir den Krieg Frieden

von Gerhard Zwerenz

Für ihr Buch »Die Waffen nieder« erhielt Bertha von Suttner 1905 den Friedensnobelpreis. Als sie neun Jahre später starb, steuerte Deutschland auf den Ersten Weltkrieg zu und Felix Dahn dichtete: Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten hat das Weib zu schweigen!“
Gerhard Zwerenz über das Jahrhundert, an dessen Beginn eine erste internationale Friedenskonferenz stand, das durch zwei Weltkriege gezeichnet wurde und an dessen Ende wieder einmal Deutschland Krieg führte.

Im August, im August blüh' n die Rosen… Im August 1914 blühten die Kanonen. Pünktlich am 1.8. erklärte Deutschland Russland den Krieg. Am 3.8. folgte die Kriegserklärung an Frankreich. Am 4.8. sagte WiIhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dankbar bewilligte der Reichstag sofort einstimmig die Kriegskredite. Motto: Nach innen Burgfrieden – nach außen Eroberungskrieg. Das Volk von 1914 jubelte. Vermochte auch nur eine oder einer sich vorzustellen was vier Jahre später, 1918, geschehen würde? Blinde patriotische Leidenschaft und vollkommene Ahnungslosigkeit Richtung Zukunft bestimmen den Zeitgeist.

Begann der l. Weltkrieg am 1. August, verlegte Hitler den Beginn des Nachfolgekrieges 1939 auf den 1. September, vermied jedoch in seiner Rundfunkansprache um 10 Uhr das Wort Krieg, denn die Deutschen jubeln diesmal nicht. Hat Schaden klug gemacht? Ergriff das Volk eine Ahnung davon was ihm blühte? Ließ der September 1939 klarer blicken als der August 1914?

Wenn ja, war die Klarsicht von kurzer Dauer: Schon am 27. 9. kapitulierte Warschau, ein knapper Monat September genügte für den großen Sieg, das Volk der Deutschen holte den unterlassenen Jubel umgehend nach – 1914 war es der Jubel des aggressiven Übermuts, fehlender Information und kritischer Selbsteinschätzung gewesen, jetzt verloren die Menschen im Siegesrausch ihre Ängste.

Ab 1943 blieben die Siege aus. Am 18.2. 1943 fragte Goebbels im Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das versammelte Volk bejahte berauscht. Es folgten totaler Luftkrieg, totaler Rückzug und die Endniederlage vom 8. Mai 1945.

Der ausbleibende Jubel vom 1. September gründete nicht in bösen Vorahnungen, sondern in unguten Erinnerungen an 1914-1918. Seither waren erst zwei Jahrzehnte vergangen. Erinnerte Erfahrung ängstigte das Volk, nicht begründete, reale Zukunftsangst. Erschaudernd blickte es zurück, nicht voran. Ist das Kommende etwa stets unbekannt und verriegelt? Hatte auch nur einer am ersten Neujahrstag, mit dem das 20. Jahrhundert begann, einen blassen Schimmer von dem, was bevorstand? Ahnte einer der Militärs, die 1914 die deutschen Armeen befehligten, was der baldige Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg bedeutete? Konnte sich jemand 1918 die Geschehnisse von 1933, 1939, 1945 vorstellen? Sah einer im Mai 1945 voraus, dass Hitlers geschlagene Generäle kein Jahrzehnt später ein neues deutsches Heer aufstellen würden? Wer vermutete 1945, dass die siegreiche Sowjetarmee ab 1990 in schwächliche Restbestände zerfiele? Wer hätte 1989/90 geglaubt, ein Jahrzehnt später zählten deutsche Soldaten zu den Besiegern und Besetzern Jugoslawiens, dieser Siegernation von 1945 – ganz wie die Sowjetunion?

Nietzsche starb, nur 55 Jahre alt, am 25. August 1900 – er hätte hervorragend ins 20. Jahrhundert gepasst mit seiner herrenhaften Enthemmungsphilosophie. Auch der Dionysiker erfasste nicht, was da nahte, sonst wäre er geblieben. Vielleicht bewahrte ihn der gnädige Irrsinn, der ihn besetzt hielt, vor dem analytischen Blick ins anbrechende Jahrhundert.

Die Weltkriegsanfänge vom 1. August 1914 und 1. September 1939 bezeugen, dass eine Institution nicht zukunftsblind blieb: Seit 1905 lag der Schlieffen-Plan vor, den Deutschland 1914 in leicht modifizierter Weise zu realisieren versuchte, was den deutschen Militärs künftiges Verhalten diktierte, vom Angriff 1914 bis zur Niederlage 1918. Von jetzt an verwirklichten die Kriegsgegner ihre Ziele, inklusive Vertrag von Versailles. Im Wiederholungskrieg ab 1939 betrieb dann das faschistische Dritte Reich die Umsetzung seiner Zukunftsvisionen, wobei es auf die Planungen der Reichswehr zurückgreifen konnte, denn das Szenarium für Wiederaufrüstung und Revanchekrieg war insgeheim und bis ins Detail schon zu frühen Zeiten der Weimarer Republik ausgearbeitet worden. Zwar besitzen die Militärs, wie wir sehen, auch nicht die Fähigkeit der Vorausschau, doch greifen sie strategisch, taktisch und rüstungstechnisch vor und produzieren damit die ihnen gemäße Zukunft wie die Spinne, die einen Faden hinter sich lässt, den sie fleißig verwebt, auf dass darin die Opfer sich fangen. Fragt sich nur, wer Spinne ist und wer gefangen wird.

Das Modell büßte 1945 seine Vorbildfunktion und Wirksamkeit keineswegs ein. Wobei zwei Phasen deutlich zu unterscheiden sind: Phase a läuft durchweg streng geheim, mindestens intern und getarnt ab. Phase b, die Realisation, tritt dann plötzlich und überraschend zu Tage, die Öffentlichkeit staunt, reagiert begeistert, ungläubig oder entsetzt. Doch der Fall ist nun unübersehbar in der Welt und der August 1914 wie der September 1939 waren solche Geschichtsphasen. Nach kürzerer oder längerer Inkubationszeit ist das Ei geborsten und der alte Krieger neu geboren.

1914 brauste ihm ein Ruf wie Donnerhall entgegen. 1939 blieb das Volk in erinnerter Erfahrung befangen still – der Siegesjubel folgte später um so lauter. Am 24. März 1999 rieb das Volk sich wieder mal erstaunt die Augen: Bomben auf Jugoland? Man befand sich doch gar nicht in den Erntemonaten August/ September. Musste denn schon wieder gesiegt werden?

Die Oberen versicherten den Verunsicherten, diesmal sei man auf der Seite der Morallegitimierten und Stärkeren und könne gar nichts anderes als siegen. In der Tat hatten die Generäle vorsorgend wie immer Zukunft produziert.

Der Krieg ab 1. August 1914 war vom deutschen Generalstab und vom lieben Gott exakt terminiert worden: Die einheimische Landwirtschaft konnte die Felder noch in aller Ruhe abernten, die Feindfeldereien in Luxemburg, Belgien, Frankreich wurden bei reifenden Halmen in Besitz genommen – von Ostpreußen abgesehen, hier störten die eindringenden russischen Barbaren die Einbringung der Frucht. So kam es zur Schlacht von Tannenberg – seither ernteten von Hindenburg und von Ludendorff auf russisch-polnischer Scholle. Ihr Nachfolger als Oberbefehlshaber deutscher Soldaten wartete 1939 das Erntefest ab. So war die Scheuer daheim gut gefüllt als er aufbrach, die gut gefüllte polnische Scheuer einzusacken. Derart gestaltete sich des einen August zum September des anderen. Liebhaber von Spätsommer/Frühherbst waren beide, doch der September-Fan wandte bald seine ganze Liebe dem Juni zu. Wie vor ihm Napoleon fiel er an einem 22. Juni nach Russland ein – mit der erklärten Absicht, in der Ukraine, auf der Krim und bis zum Kaukasus hin die goldenen Weizenfelder abzuernten, woraus sich ergibt, dass er die beiden Monate zu seinen Favoriten erkor. Allerdings hatte der »Führer« ursprünglich nicht wie Bonaparte am 22. Juni losschlagen wollen, sondern 2-3 Wochen früher, da kamen ihm die JugoslawInnen in die Quere indem sie Revolution spielten. Belgrad wurde gebombt und kapitulierte nach 11 Tagen, 4 Tage später gab das besetzte Griechenland auf. Nochmal 12 Tage brauchte es zur Eroberung Kretas. Alles im Lot, nur musste der Beginn des Russlandfeldzuges verschoben werden. Das machte nichts, meinen die Militärhistoriker, allerdings fehlten die Tage dann im Herbst, der in Russland schon als Winter auftritt. Statt dass die Wehrmacht in der Ukraine erntete, senste General Winter erst auf riesigen Schlamm- , dann auf Schneefeldern herum. Also: Wer nach Moskau, Leningrad, Stalingrad marschieren will, darf nicht erst an einem 22. Juni aufbrechen, da hat er sich bereits uneinholbar verspätet. Das sind so eherne Kalenderfragen. Die Wehrmacht, die am 6. April 1941 gegen Jugoslawien losschlug, befand sich bereits jetzt in einem nicht wieder gutzumachenden Rückstand, was zu erkennen heutzutage nicht schwer fällt und was gewiss einer der guten Gründe dafür ist, dass die NATO schon am 24. März 1999 Jugoslawien zu bomben begann. Weil: Wer den Endsieg unbedingt erringen will, der muss einfach früh genug damit beginnen.

Die heutigen Feldherren und PolitikerInnen entstammen nicht mehr Landadel, Rinderherden-Schweinemassen- Schlächtern. Unsere westliche Wertegemeinschaft ist im kulturellen Fortgang verstädtert. Als Blüten des Asphaltdschungels jener Mega-Stadt, die von Bonn bis Berlin und Passau bis Kiel reicht, wissen diese modernen Machtübernahmemenschen gar nicht mehr, wie vaterländisch sich gute Feldkrume unter der Stiefelsohle anschmiegt. So kommt es zu den kalendarischen Verschiebungen, die den klassischen Erntemonaten August und September nicht mehr die frühere Bedeutung zubilligen. Die Kriege fangen früher im Jahr an, dafür hören sie auch nie mehr auf. Notfalls wird eine kurze Pause eingelegt, damit die Rüstungsindustrie Zeit zum Aufholen gewinnt. Auch hat das Abernten der Felder nicht mehr die einstige Bedeutung. An Fress- und Saufwaren ist schließlich kein Mangel. Kompliziert ist lediglich die Verteilung, weil garantiert bleiben muss, dass wir immer genug kriegen und die anderen hinreichend Not leiden. Sonst verfallen zu viele auf dumme Gedanken und zwingen uns, den nächsten Krieg schon Neujahr zu beginnen, während der vorige erst zu Silvester beendet wurde.

Hitlers frühe Juni-Planung für den Überfall auf die Sowjetunion resultierte füglich aus der militärmetereologischen Einsicht, dass August/September diesmal zu spät wären. Die Verzögerungen wegen der widerspenstigen JugoslawInnen, die das Losschlagen gegen Moskau auf den 22. Juni verschieben ließen, rächten sich im Winter vor Moskau, als der siegreichen Wehrmacht der Arsch abfror.

Allerdings berichten die Soldaten der Panzertruppen, die im Sommer durch Weißrussland, die Ukraine und das weite Russland vorausstürmten, von unendlich großen berauschenden Weizenfeldern und Kornkammern, die sie stahlhelmbedeckt durchquerten. Die Erntemonate Juli/August wurden zu brausenden Siegesfeiern im Expresskrieg. Auch der September, an dessen 1. Tag der Überfall auf Polen zwei Jahre zurücklag, erwies sich noch als so wetter- wie kreuzzugsgünstig. Im Oktober freilich kam es zu Verfinsterungen, im November fuhr die launische Kriegsgöttin Schlitten und im Dezember gab es gefrorene Wehrmachts-Kadaver sowie einen Rückzug in Eis und Schnee à la Napoleon.

Im SPIEGEL Nr. 25/99 äußert Rudolf Augstein sich zum Buch »Der falsche Krieg« des 35jährigen Oxford-Professors Niall Ferguson, der die kühne, aber nicht uninteressante These vertritt, die Briten hätten 1914 nicht gegen Deutschland antreten müssen. Augstein ist anderer Ansicht und stapelt die alten geläufigen Schul-Argumente auf, wonach die Kollision unvermeidbar gewesen sei. Nichts davon kann Ferguson unbekannt geblieben sein und beide Seiten haben wahrscheinlich Recht, indem sie die kontroversen Fakten in ihrer jeweiligen Sicht ordnen und gegeneinander in Stellung bringen. Unerörtert bleibt, weshalb sowohl die deutschen wie die britischen Politiker 1914 den Zwängen nachgebend in den Krieg eintraten, was, wenn es als alternativlos gelten sollte, auf eine durchgängige Abwesenheit von Entscheidungsfreiheit schließen ließe. Geschichte ist dann bloßer blinder, blindmachender Zwang, d. h. Abwesenheit von jeder Kultur. Nun interpretiert Augstein seit Jahrzehnten Buchprodukte zu den Themen Jesus, Napoleon, Bismarck, Erster und Zweiter Weltkrieg, und die Historikergilde übt sich in freundlichen Leserbriefen oder schweigender Distanz. Verbindendes Glied aller ist die obligatorische Freiheitsleugnung der Geschichtswissenschaft. Setzten doch bürgerlich-orthodoxe wie marxistische HistorikerInnen die Mär von den „zu früh gekommenen Revolutionären“ in die ungelüfteten Stuben ihrer Hochschulwelt. Die unter disziplinösen Zwängen lebenden LehrerInnen kennen nur erzwungene Geschichtsabläufe, denn als Produkten der verordneten Unfreiheit fehlt ihnen die Vorstellung, ein realer Revolutionär könne nicht an seiner Verfrühung scheitern, jedoch an der Verspätung des vorhandenen Milieus. Nicht Marx/Engels existierten zu früh, sondern die 1848er kamen zu spät. Nicht Luxemburg/Liebknecht waren den Verhältnissen weit voraus, sondern Hindenburg/Ludendorff/Ebert/Noske gehörten in die Eiszeit. Um zu Augstein zurückzukehren, die kriegführenden Briten und Deutschen waren 1914 schlechthin nationale Dinosaurier und diese Spezies starb nie aus. Jeder Krieger des 20. Jahrhunderts zählt zu den groben Knochen der menschlichen Vorgeschichte, die von den stupiden braven ZeithistorikerInnen in den Himmel gehoben werden statt sie wenigstens interpretatorisch zur Hölle fahren zu lassen.

Notabene: Kein Kriegsheld ist alternativlos. Jeder entscheidet sich freien Willens zur Unfreiheit. Kein Krieg ist Zwangsvollzug. Jeder vermeidbar. Die promovierten ClaqueurInnen des verstaatlichten Zeitgeistes sehen überall nichts als folgerichtige Notwendigkeit, für sie passt wie der Deckel auf den Topf der Satz: „Die Deutschen befinden sich nur einmal in Gesellschaft der Freiheit. Am Tage ihrer Beerdigung.“ Das stammt allerdings von Karl Marx, der den Deutschen die Entscheidungsfreiheit nicht abspricht, ihren Hang zur Unfreiheit nur sarkastisch notiert. Dabei ist, nebenbei bemerkt, zwischen links und rechts kein Unterschied, ganz wie zwischen den Monaten März, Juni, August, September, wenn sie im Zeichen von Mars und Blutwurst stehen.

Das Ziel des Krieges in Permanenz mit gelegentlichen Pausen erreichten die USA im Himmel über dem Irak, aus dem die Raketen und Bomben aufs Land herniederfahren, weil zum gleichförmigen stillen Embargo-Hungertod von Zeit zu Zeit der explosive Tod hinzutreten soll, damit dem Exitus der notwendige Nachdruck beigesellt werde. Das Schweigen der UNO und unserer westlichen Wertegemeinschaft, das die Mordaktionen stilvoll begleitet, beweist, es gibt längst keinen Unterschied mehr in der Kriegstauglichkeit der Monate. Unsere Kriege heute sind endlos-zeitlos. Der logischen Einsichtigkeit halber nennen wir diesen Krieg Frieden, den wir folglich nicht jeweils extra erklären müssen. Es gibt keine Kriegsausbrüche mehr, wir erklären den Frieden und führen ihn. Denn wie der Julianische Kalender 1582 durch den Gregorianischen abgelöst wurde, so folgte auf den Gregorianischen 1984 der Orwellsche Kalender. Seitdem genießen wir die Segnungen der Turbo-Moderne. Wer also bewusst dem neuen Orwellschen Kalender nach lebt, weiß nicht nur, was die Stunde geschlagen hat, er überwindet zugleich die generelle Zukunftsblindheit und blickt wissend in die kommenden Zeiten des permanenten Friedens auf Erden und im Himmel.

Die fortschreitende Erweiterung des Krieges von einem zeitlichen Kontinuum mit Anfang und Ende zum kalendarischen Kreislauf ohne Anfang und Ende, aber mit Zwischenpausen, hat zwingende Folgen zu denen die Verschnellerung aller Prozesse zählt. Nicht Fukuyamas »Ende der Geschichte« ergibt sich daraus, sondern Nietzsches »Ewige Wiederkehr des Gleichen« im engsten Radius. Stellen wir uns diese Geschichte als Wendeltreppe vor, so führt sie hinauf und hinab ohne Endpunkt. Es sei denn, sie verengt sich, dann sitzen die TreppensteigerInnen endlich fest. Wer daraufhin hinuntergeht, gelangt in die barbarischen Ausgangspositionen der Frühzeiten zurück und wird, falls Darwin recht hat, woran vernünftigerweise nicht gezweifelt werden dürfte, erst zum Raubtier, dann zur Molluske und endlich zur Ursuppe. Wer aber nicht zurückflüchten mag, der erstarrt vor Ort am letzten höchsten Punkt.

Kleists Idee von der Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (Schreiben) enthüllt den Bewusstmachungsprozess, in dem Sachverhalte und Menschenverhalte analysiert, definiert und formuliert werden. Ob es sich um Vorgänge in Vergangenheit oder Gegenwart handelt ist sekundär, primär ist der Vorgriff ins Neue. Soweit es nicht um bloße Konversation, Unterhaltung, blöde Nachplapperei geht, was die Fügung »Verfertigung des Gedankens« bereits ausschließen sollte, ist das Produkt der Verfertigung ein vorher nicht vorhanden gewesener Gewinn – ein Zukunftsvorgriff und Novum also.

Nun ließe sich der Produktionsvorgang von Gedanken und Wörtern auf die materielle Produktion übertragen, denn in den Betrieben und Forschungs-Einrichtungen entstehen parallele Produkt-Neuerungen. Da sie aber insgesamt zur Waffenherstellung und Kriegführung oder Androhung von Luftschlägen dienen, erweist sich der Krieg als primärer Antreiber bei der Fabrikat-Verfertigung. Der Primat des Krieges und der Krieger führt zur Verfertigung der Vergangenheit als Zukunft, denn wo die Politik nicht weiter weiß, tritt das Militär an. Seine Neuerungen sind waffentechnischer Art, also von gestern, aber modernisiert; seine Siege stabilisieren die Vergangenheit, die als Erneuerung ausgegeben wird, jedoch immer nur die alten Gewaltverhältnisse reproduziert. Die letzte militärische Mega-Macht liquidiert die Zukunft eben dadurch, dass sie sie so nennt und zugleich verhindert. Die Sieger im Krieg sind im postkulturellen Endzeitalter stets dieselben und sie garantieren fortgesetzte Kriege mit immer denselben Siegern.

Selbstverständlich gibt es Aufstände gegen den Welten-Usurpator und vielerlei Subversionen. Seine Übermacht an Waffen, Militärs, Pfaffen, Beamten und Geheimdiensten garantiert den Machterhalt. Nur er selbst könnte sich abschaffen, was er nie wollen wird. Er kann allerdings zusammenbrechen, hat Kapital sich derart organisiert und elektronifiziert, dass die Effizienz keinen Freiraum mehr für Entscheidungen lässt. Die große Maschine steht dann einfach still wie Buridans Esel.

Es kann freilich auch sein, dass die AktionärInnen, die inzwischen die Mehrheit der westlichen Wertegemeinschaft bilden, genüsslich ihre Aktiensammlungen fressen und hernach sich selbst.

Was der Rest der Menschheit tun wird, steht in den Sternen, bei denen Mars die Venus besteigt, welches nahe liegende Bild wir in seinem handgreiflichen Symbolwert nutzen, weil es den für die fernste Zukunft vorausgesagten Kältetod der Erde in kürzere gesellschaftlich-menschliche Maße transportiert. Das Kapital verwirklicht sich selbst, indem es jeden Widerstand eliminiert und alle Qualitäten auf ihren quantitativen Nutzen reduziert. Derart formiert kennt die Welt von morgen nur noch spekulierende AktienjongleurInnen, die sich gegenseitig übers Ohr hauen müssen weil das sonstige Volk, das nicht mitkam, ein Außenseiterdasein fernab von Banken und Börsen führt. Orwell nannte diese unregierbaren, gar unregistrierbaren Wilden »Proles«. Sie gelten nicht mehr als Menschen und dürfen gejagt werden, während der Geldadel sich dem tellurischen Kältetod hingibt, der sich mit dem Verlust von Herzenswärme schon lange Zeit vorher angekündigt hatte.

Wenn der Orwellsche Kalender Tag und Stunde angibt, müssen natürlich auch die zeitlos Oppositionellen und ewig Widerspenstigen diszipliniert werden. Man verpasse ihnen die schönsten rechten Vorbilder.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges dichtete Felix Dahn: „Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen. Doch freilich, Männer gibt's in diesen Tagen - Die sollten lieber Unterröcke tragen.“

Die Parole »Die Waffen hoch!« war gegen Bertha von Suttners Buch »Die Waffen nieder« gerichtet. 1905 hatte die Autorin dafür den Friedensnobelpreis erhalten. 1914 starb sie, als hätte das ein höherer Regisseur so eingerichtet, denn ab 1914 war die kriegerische Seite von Dynamit Nobel gefragt, doch die anschließenden vier Kriegsjahre entließen neben wenigen linken RevolutionärInnen und vielen rechten WiederholungstäterInnen eine Spezies, die inzwischen vergessen gemacht worden ist: pazifistische Offiziere – diese lebenden Widersprüche, von denen NVA wie Bundeswehr keine Kenntnis nehmen durften bzw. dürfen.

Die Offizierspazifisten, darunter allerhand Generäle, die im 1. Weltkrieg ihr Damaskus-Erlebnis fanden und dem »Schwertglauben« (Friedrich Wilhelm Foerster) abschworen, waren keine Feiglinge, wie ihre unbelehrbaren Kameraden ihnen nachsagten. Im Gegenteil, ihr aufrechter, tapferer Kampf gegen den Krieg forderte von ihnen mehr Opfer, größere Charakterstärke und Zivilenergie als von den nationalen Herren, die, ganz wie befohlen, erst dem Kaiser, dann dem Führer dienten, danach evtl. noch anderen Machthabern.

Das nationale kriegerische Credo lautete: „Der Frieden ist ein Traum und nicht einmal ein schöner (…) der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung.“ (Generalfeldmarschall Moltke d.Ä.) Und: „Wir müssen Macht bekommen und sobald wir diese Macht haben, holen wir uns selbstverständlich alles wieder. Was wir verloren haben.“ (Generaloberst Hans von Seeckt) Dagegen steht: „Wer den großen Krieg nicht nur mitgemacht, sondern auch seelisch erlebt hat und dadurch zum Nachdenken über das wichtigste und zugleich furchtbarste Menschheitsproblem veranlasst worden ist: der ist als Pazifist heimgekehrt.“ (Hauptmann a.D. Willy Meier)1

Selbstverständlich erlitten die aufrechten Offizierspazifisten alle Arten von Verfolgung und Rachetaten, die den deutschen Staatsorganen zur Verfügung stehen. Das reicht von der Verachtung bis zu Zuchthaus, KZ und Mord, denn das Militär als Kaste fordert ewiges Leben. So wurde der Kapitänleutnant und Pazifist Hans Paasche schon 1920 von Freikorpsoffizieren vor den Augen seiner Kinder erschossen. Über Paasche, Schoenaich u.a. schrieb Kurt Tucholsky zahlreiche Artikel. Major Karl Mayr, 1940 von der Gestapo in Paris verhaftet, kam 1945 im KZ Buchenwald ums Leben. Den Hauptmann i.G. Hans-Georg von Beerfelde schlug die SA zum Krüppel. Über den Kapitänleutnant Heinz Kraschutzki, den Franco aus Freundschaft zu Hitler 9 Jahre in Haft hielt, sagte keine Geringerer als Pastor Martin Niemöller: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der 1. Weltkrieg die Augen geöffnet. Bei mir war leider noch ein 2. nötig.“2

Niemöllers »leider« ist natürlich ein unpassend Wort wie er selbst eine auszugrenzende Figur. Nehmen wir die jüngste Kriegsgeschichte noch einmal von vorn durch: Also – Bertha von Suttners berühmter Satz »Die Waffen nieder« verwandelte sich 1914 in »Die Waffen hoch«, 1917 in »Krieg dem Kriege« und endlich in den Aufruf »Dreht die Gewehre um!« Ab 1933 war Deutschland mit den Waffen wieder dran, diesmal ohne SPD, die Gewehre gingen 1939 los, ab 1945 flogen die Flinten ins Kornfeld und alle Hände, die danach griffen, sollten verdorren. Es verdorrten die Köpfe, als ab 1955 die Flinten wieder in Dienst genommen wurden, diesmal mit der SPD unter dem Befehl von Orwell, nun hieß der Friede Krieg oder umgekehrt und die Menschenrechte erlaubten die Friedenskriege der Mächtigen, während den Regierten jede Revolution bei Todesstrafe verboten wurde.

Das Karussell begann von vorn wie 1912/13 mit diversen Balkankriegen, also schrieb Kafka seinen Prozess-Roman erneut: Jeder ist schuldig, keiner bleibt ohne Anklage, ausgenommen die Gerichtsherren. In der Erstfassung waren sie hochwohlgeboren, heute werden sie gewählt. Was bleibt, stiften die JuristInnen. Wer es wagte, den AnklägerInnen den Schädel zu öffnen, blickte ins Innere des Orwellschen Käfigs: Ratten sitzen darin gefangen.

Kann sein, der kriegerische Wahnsinn ist nur noch in den apokalyptischen Bildern einzufangen, die entstehen, wenn die Köpfe der KriegsministerInnen mit den Dokumenten der TV-Kameras zusammenstoßen und die Lügen multiplizieren. Es gibt nun ein Buch mit dem Titel »Szenen einer Nähe« 3, das die nachprüfbaren Fakten liefert, die von Bildern nicht beigebracht werden, weil die Kamera wie das Gewehr eine verordnete und auswählende Schussrichtung hat. Die Sprache aber geht aufs Einzelne und zugleich aufs Ganze. Wer sich fragt, wie Hitler in der Kürze von 1933 bis 1939 die Hunderttausend-Mann-Reichwehr zur millionenstarken Angriffswehrmacht hochrüsten konnte, muss wissen, die Aufrüstung war schon 1925 zu Zeiten der Weimarer Republik bis ins Detail ausgearbeitet worden.

Gibt es eine Parallele von 1925 zu den Neunziger Jahren? »Szenen einer Nähe« bietet eine überraschend dichte Faktensammlung, die diese Nähe belegt. Manches Material war inzwischen vergessen (gemacht) worden. Andere Informationen werden hier erstmals präsentiert. Wer davon keine Kenntnis nimmt und keinen Nutzen zieht, verharrt in selbstverschuldeter Unmündigkeit und hat zu verantworten, was unverantwortbar sein sollte.

Selbstverständlich wird im Orwellschen Zeitalter das Unverantwortliche protegiert. Der Name der Dame Suttner ist vergessen, obwohl sie, weil von Adel, auf Wiedergutmachung klagen könnte. Schließlich zahlt Biedenkopfs sächsische Landeskasse dem 1918 entlaufenen Königsgeschlecht einige lausige Millionen, und auch des Kaisers Erbonkelschar kann auf die rechtsstaatliche Wiedereinsetzung in vorige Unrechte und Pfründe hoffen. Kurzum, wer fürs Vaterland Kriege führte, darf auf höchste Belohnung rechnen, was will dagegen diese lausige PazifistInnenschar, der am Kreuz angenagelte Christus etwa – was für ein aufwendiger Ritualmord, der tagelang andauern kann. Wo bleibt da die Effizienz? Ein paar Bombenraketen auf ne menschliche Ansiedlung, da gehen hundert kaputt, eine zweite Hundertschaft stirbt, lebendig begraben, das langgezogene Christus-Ende. So rechnet sich's, denn die endverbrauchten Waffen müssen produziert und im Depot ersetzt werden. Oder nehmen wir den letzten Menschenrechtskrieg, da vertrieben und töteten erst die einen die anderen, bis Europa hilfreich eingriff, nun vertreiben und töten die anderen die einen und in Relation zu ihrer Anzahl ergeben sich die gleichen Resultate. Unsere Soldaten und ihre kommandierenden Politiker aber verzeichnen einen Imagegewinn, der glückhaft reziprok zum Imageverlust ihrer engstirnigen KriegsgegnerInnen, dieser ewig quengelnden PazifistInnen steht. Was will ein Oberkommando der höllischen Heerscharen mehr?

Der Beitrag von Gerhard Zwerenz ist ein Vorabdruck aus »Krieg im Glashaus«. Alle Rechte bei Verlag Edition Ost, Berlin.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Pazifistische Offiziere, Donath-Verlag, Bremen 1999

2) ebenda

3) Szenen einer Nähe, Pahl-Rugenstein-Nachfolger, Bonn 1998

Gerhard Zwerenz ist Schriftsteller.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite