W&F 1991/3

Vor den Karren der Kriegsforschung gespannt

Naturwissenschaftlich-technische Wehr- und Kriegsforschung und -entwicklung an der Technischen Hochschule Braunschweig in der NS-Zeit

von Helmut Maier

In der Wissenschafts- und Hochschulgeschichtsschreibung ist die Einbindung von Natur- und Ingenieurwissenschaftlern an Universitäten und Technischen Hochschulen (TH) in die Wehr- und Kriegsforschung1 zwischen 1933 und 1945 bislang allenfalls an besonders bedeutenden Beispielen dokumentiert worden. Dies gilt gleichermaßen für die Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig2 . Was aber »Professor Normalverbraucher« auf seinem Gebiet leistete und welche Bedeutung sein Engagement innerhalb der ganz speziellen Wissenschaftswelt im Nationalsozialismus erlangte, ist nach wie vor offen. Dies hat sicher auch mit der personellen Situation der deutschen Wissenschaftsgeschichte zu tun.

Eine ganz durchschnittliche TH auf dem flachen Lande wie die Carolo-Wilhelmina kann, wie im folgenden gezeigt, exemplarisch einen Umriß der Wehr- und Kriegsforschung an Technischen Hochschulen des Deutschen Reiches liefern, wobei es sich sicher um ein vorläufiges Ergebnis handelt. In Diskussionen über die Beteiligung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren an kriegswichtigen Projekten stößt man häufig auf die Ansicht, die Naturwissenschaftler seien ja für die reine Grundlagenforschung zuständig gewesen, während die Ingenieure die kriegswichtigen Entwicklungen in Hochschulen, staatlichen Forschungseinrichtungen und Rüstungsindustrie durchgeführt hätten. Meine These für die ns-Zeit – und dies verstärkt für die Kriegszeit – ist, daß Natur- und Technikwissenschaften von den Nationalsozialisten gleichermaßen vor den Karren der Wehr- und Kriegsforschung gespannt wurden.

Die Frage, inwieweit an einer Hochschule Wehr- und Kriegsforschung betrieben wurde und welche Bedeutung sie erlangte, läßt sich natürlich nur beantworten und das ist banal, wenn man weiß, wer eigentlich was und in wessen Auftrag forschte und entwickelte. Erst dann wird erkennbar, ob Kriegsforschung als Überlebensstrategie im totalen Krieg verstanden wurde. D.h., ob ein Institut durch Übernahme angeblich kriegswichtiger Projekte zum Schein seine Gefolgschaft vor dem Fronterlebnis bewahren konnte. Oder ob andererseits die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches durch Forschung und Entwicklung nicht gesteigert worden ist. Der Blick auf die Auftraggeber läßt außerdem erkennen, wie das einzelne Hochschulinstitut in ein ganz bestimmtes Forschungs- und Entwicklungskonzept eingebunden war. Dessen Zielrichtung wiederum dokumentiert, daß hier an den entscheidenden Problempunkten der deutschen Rüstungs- und Waffentechnik gearbeitet wurde, wie später deutlich werden wird.

Kooperation zwischen Hochschule und Wehrmacht

In der Festschrift der TH Berlin von 19793 wurde das Thema der Wehr- und Kriegsforschung in den Kapiteln Naturwissenschaften und Nationalsozialismus 4 sowie Technische Wissenschaft und Rüstungspolitik 5 aufgegriffen. Mehrtens sowie Ebert und Rupieper mußten sich jedoch auf die Betrachtung forschungspolitischer Strukturen und Maßnahmen jener Zeit beschränken. Mehrtens wünschte sich zwar in seinem Beitrag über die Naturwissenschaften einen Überblick über die Forschungsaktivitäten der verschiedenen Institutionen. Aber, wie er formulierte, sei die Literatur so spärlich, daß dieser Überblick nicht zu liefern gewesen sei.6 Ebert und Rupieper beschränkten sich bei ihrem Beitrag über die Wehrtechnische Fakultät der TH Charlottenburg auf den Hinweis:

„Die militärische Bedeutung dieser Forschungsergebnisse für Wehrmacht und Rüstungswirtschaft ist nur schwer einzuschätzen, da jegliche Unterlagen über die Verwendung … in der Praxis fehlen. Andererseits ist davon auszugehen, daß … nur Dissertationsprojekte gefördert wurden, die entweder zur Grundlagenforschung beitrugen, … , oder konkrete Auftragsforschung für das Heereswaffenamt sowie anderer Wehrmachtsteile beinhalteten.“ 7

Trotz der fehlenden Übersicht, was an naturwissenschaftlichen Instituten geforscht wurde, und der Unmöglichkeit, die praktische Relevanz von Forschungen und Entwicklungen abzuschätzen, kamen Ebert und Rupieper zu der klaren Aussage:

„Die Entwicklung der Wehrtechnischen Fakultät der TH als Forschungsanstalt des Heereswaffenamtes verdeutlicht nicht nur das Eindringen militärisch-technischer Rüstungsforschung in die Hochschulen …, sondern sie zeigt auch die Kooperation zwischen Hochschule, Ministerialbürokratie und Wehrmacht zur militärischen Vorbereitung und Durchsetzung nationalsozialistischer Weltmachtpläne und die kritiklose Unterordnung der Forschung unter die Anforderungen nationalsozialistischer Herrschaft.“ 8

Dieses Ergebnis deutet sich auch für die Geschichte der Carolo-Wilhelmina in der ns-Zeit an, wobei speziell zur Braunschweiger Hochschulgeschichte umfangreiches Aktenmaterial vorhanden ist. Offensichtlich konnte man 1979 in Berlin noch nicht auf Akten des Reichsforschungsrates (RFR) zurückgreifen, die bis 1985 aus den USA nach Koblenz gekommen sind. Diese Akten geben zumindest bruchstückhaft einen Überblick über die Kriegsforschung im Deutschen Reich von Mitte 1943 bis Anfang 1945.9

Die folgenden Bemerkungen zu Gleichschaltung und Berufungspraxis seit 1933, die für das Verständnis der Situation der Carolo-Wilhelmina im Nationalsozialismus wichtig sind, beruhen im wesentlichen auf einem Vortrag von Thomas Stolle, Braunschweig.10

Die Gleichschaltung der TU Braunschweig

Die Machtergreifung erfolgte an der Carolo-Wilhelmina durch die Ernennung eines ns-Rektors durch das Volksbildungsministerium und die Einführung des Führerprinzips. Der Rektor ernannte die Dekane, die bis dahin gewählt worden waren. In Senat und Konzil fanden keine Abstimmungen mehr statt. Bis spätestens 1935 war die Länderhoheit in der Hochschulpolitik beseitigt, alle Hochschulen unterstanden direkt dem Reichsministerium für Wissenschaft, Volksbildung und Erziehung in Berlin, dem sog. »Ministerium Rust«. Die personelle Gleichschaltung sollte durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erreicht werden, das nichts weiter als die Handhabe gegen politisch mißliebige und jüdische Hochschulangehörige darstellte. Auf Grund dieses Gesetzes wurden von der TH Braunschweig insgesamt 22 Hochschullehrer entlassen. Dies entsprach etwa 20% des Lehrkörpers.11 An der TH Charlottenburg waren es knapp 25%.12

Wie veränderte sich die Berufungspraxis? Das Beispiel der TH Braunschweig zeigt, daß das Kriterium der geeigneten Gesinnung der Bewerber am stärksten in den Geistes- und Sozialwissenschaften, dann in den Naturwissenschaften war. Am geringsten scheint die politische Anforderung bei den Ingenieurwissenschaften gewesen zu sein. Gerade aber die Ingenieure waren eine Berufsgruppe, die sich selbst ganz unpolitisch verstand und sich eher dem Prinzip des Gemeinwohls verpflichtet sah. Insofern hatten sie eben doch ein politisches Selbstverständnis, was, wie Karl-Heinz Ludwig gezeigt hat13, von den Nationalsozialisten geschickt genutzt wurde. Auf jeden Fall hatten bei Berufungen neben dem Volksbildungsministerium und dem Reichsminister zahlreiche Stellen ein Mitspracherecht wie:

  • der lokale Dozentenbundsführer,
  • die Reichsleitung des NS-Dozentenbundes,
  • der Gauleiter,
  • diverse Führer von Parteigliederungen
  • bis zum Stellvertreter des Führers.

Ein wesentlicher Einschnitt für Forschung und Entwicklung für alle deutschen Hochschulen war die Gleichschaltung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der zunächst noch wichtigsten Institution zur Förderung der deutschen Hochschulforschung. Neuer Präsident wurde 1934 der Nationalsozialist Johannes Stark. Stark war als ausgewiesener Gegner der theoretischen Physik bekannt und verfolgte diese Gegnerschaft in seiner Förderungspraxis.14 Die Notgemeinschaft bezeichnete sich seit Mitte der 30er Jahre wieder als Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Spätestens 1937 schlugen die ns-Interessen voll auf die DFG durch. Sie wurde zum Instrument der Autarkie- und Rüstungspolitik degradiert. Der gesamte Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung wurde aus der DFG herausgenommen und dem neu gebildeten RFR unterstellt. Die Einsetzung des RFR durch das Ministerium Rust15 stand in Zusammenhang mit dem Vierjahresplan von 1936, mit dem Hitler Wehrmacht und Wirtschaft kriegsfähig machen wollte. Naturwissenschaft und Technik waren dabei für die Wehrmachtrüstung und in besonderem Maße für die Autarkiesierungspläne von Bedeutung, weil riesige Industrien geplant waren, die mit naturwissenschaftlich-technischen Methoden die Abhängigkeit Deutschlands bei bestimmten Rohstoffen beseitigen sollten. Die deutsche Wissenschaft sollte für Autarkisierung und Aufrüstung, so der Erlaß des Wissenschaftsministers, „einheitlich zusammengefaßt und planmäßig eingesetzt werden.“ 16 Der RFR war in sog. »Fachgliederungen« – später »Fachsparten« – gegliedert und nach dem Führerprinzip organisiert. D.h., „die Leiter der Fachgliederungen entschieden über alle Anträge souverän.“ 17

Die Bedeutung der NS-Mitgliedschaft

An dieser Stelle ist eine Aussage von Kurt Zierold zumindest in Frage zu stellen, die in der Hochschulgeschichtsschreibung immer wieder übernommen wurde18: Die Leiter der Fachgliederungen seien, so Zierold sinngemäß, ohne Bekenntnis zum Nationalsozialismus berufen worden. Insofern stimmen auch Stolle und Zierold überein. Betrachtet man dagegen die Liste der Fachspartenleiter, kann man schon allein ohne größere Recherchen feststellen, daß zum Zeitpunkt der Berufung mindestens vier von 13 (Thiessen, Chemie und organische Werkstoffe; Marx, Elektrotechnik; Meyer, Landbauwissenschaft und allg. Biologie; Sauerbruch, Medizin;) ns-Organisationen angehörten oder bekanntermaßen nahestanden. Führt man sich weiterhin vor Augen, daß schon auf Hochschulebene bei Berufungen Zugehörigkeit und Engagement in Organisationen der NSDAP in vielen Fällen entscheidend waren, ist nicht einsichtig, daß ausgerechnet das Instrument der Forschungslenkung des ns-Wissenschaftsministers ohne Blick auf die Parteizugehörigkeit berufen wurde. Ich möchte folgende These formulieren: Auf jeden Fall war die Parteinähe ein Auswahlkriterium, nur ging man bei diesem wichtigen Lenkungsinstrument nicht die Gefahr ein, einen in seiner Disziplin zweitklassigen Wissenschaftler zu berufen. Diese Frage ließe sich möglicherweise mit Hilfe der RFR-Akten klären, die bis Mitte der 80er Jahre nach Koblenz gekommen sind.

Der erste Präsident des RFR war der Dekan der »Wehrtechnischen Fakultät« der TH Charlottenburg, General Karl Becker19, der kurze Zeit später auch Chef des Heereswaffenamtes wurde. Damit war die Verbindung zwischen Wehrmacht und RFR eindeutig hergestellt und seine Intention offensichtlich. Bei einer Befragung während der Nürnberger Prozesse charakterisierte Hermann Göring dementsprechend die Aufgabe des 1942 neu organisierten RFR mit den Worten: „Im Vordergrund stand selbstverständlich bei sämtlichen Forschungen die Anwendung für die Kriegsnotwendigkeiten. … hierfür waren besondere Männer berufen.“ 20

Die TH Braunschweig war im RFR durch den Fachspartenleiter für Elektrotechnik Prof. Erwin Marx vertreten. In einem programmatischen Vortrag von 1938 mit dem Titel „Die Hochschule im Dienste der Forschung“ stellte auch Marx den Zusammenhang der Aufgaben des RFR mit der Wehrmacht her. Die Forschungen im Rahmen des Vierjahresplans dienten, so Marx,

  • der Erzeugung deutscher Roh- und Werkstoffe,
  • Ersparnis oder Ersatz fremder Rohstoffe durch deutsche
  • und der landwirtschaftlichen Erzeugung. Schließlich gebe es „sehr umfangreiche und vielfältige Forschungen im Zusammenhange mit den Bedürfnissen der Wehrmacht.“ 21 Der RFR erreichte jedoch aus verschiedenen Gründen, die der einschlägigen Literatur zu entnehmen sind, das Ziel der Erfassung und Koordination der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung nicht22. Vielmehr existierten etliche Institutionen nebeneinander, die ihre eigene Forschungspolitik verfolgten und dabei u.a. auch Hochschulinstitute für ihre Zwecke beauftragten.

Die Ausrichtung auf die Kriegsbedürfnisse

Forschung und Entwicklung wurden nun in immer stärkerem Maße auf Vierjahresplan und Wehrmachtbedürfnisse ausgerichtet. Beispiele aus Braunschweig zeigen, wie die neue Maxime der Forschungsförderung bereits vor Kriegsbeginn auf die Praxis der naturwissenschaftlich-technischen Forschung und Entwicklung durchschlug: 1. der Aufbau des „ersten und einzigen Luftfahrt-Lehrzentrums“ 23 Deutschlands seit Mitte der 30er Jahre. Es wurden vier Lehrstühle errichtet, die nicht nur den Ingenieur-Nachwuchs für die vehement expandierende Flugzeugindustrie auszubilden hatten. Vielmehr sollte auch zusammen mit der Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« der deutsche Rückstand auf dem Gebiet der Luftfahrttechnik aufgeholt werden. Wichtigste Auftraggeber waren hier das Reichsluftfahrtministerium (RLM) und die Luftfahrtindustrie, die wiederum weitgehend vom RLM abhängig war;

2. die Forschungen und Entwicklungen von Prof. Marx am Hochspannungsinstitut über die Gleichstromübertragung, die aus »wehrtechnischen« Gründen mit umfangreichen Reichsmitteln vom RFR und mit Rückendeckung des RLM gefördert wurden. Diese Arbeiten, die »Wehrhaftmachung« der Elektrizitätsversorgung zum Ziel hatten, standen bereits seit 1935 unter Geheimhaltung24;

3. das Physikalische Institut unter Prof. Cario war vor Kriegsbeginn für die Braunschweiger Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« tätig25, die wiederum eine Forschungs- und Entwicklungsstätte des RLM war;

4. die Arbeiten im Institut für Chemische Technologie von Prof. Schultze waren im Oktober 1939 durch General Becker für „kriegs- und staatswichtig“ erklärt worden26, ebenso wie die Arbeiten von Prof. Marx27. Inwieweit andere Braunschweiger Institute bis Kriegsbeginn bereits mit Waffen- bzw. Rüstungsforschung beschäftigt waren, muß noch untersucht werden.

Auch mit Kriegsbeginn kam keine einheitliche Forschungsführung für die Natur- und Ingenieurwissenschaften zustande. Der RFR selbst verfügte über verhältnismäßig bescheidene Mittel, mit der eine Großforschung gar nicht zu unterhalten war. Der Wissenschaftsminister galt als der schwächste Minister in Hitlers Kabinett. Die Luftfahrtforschung dagegen war in drei bedeutenden Institutionen organisiert, der Lilienthal-Gesellschaft, der Deutschen Akademie für Luftfahrt-Forschung und der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt.

Eine andere große Reichsinstitution förderte besonders Forschung und Entwicklung in der Chemie und chemischen Technologie. Es war das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) unter dem Beauftragten für den Vierjahresplan Hermann Göring. Göring wiederum berief einen ganz erfahrenen Industrie-Manager zum Generalbevollmächtigten für die chemische Erzeugung, den IG-Farben-Vorstandsvorsitzenden und Chemiker Prof. Krauch. Planung, Aufbau und Produktion der deutschen Rohstoffindustrie wurden eben durch das RWA sehr erfolgreich organisiert. Das RWA errichtete u.a. die umfangreichen Industrien zur Produktion von synthetischem Benzin und Gummi, Leichtmetallen und Sprengstoffen. In erheblichem Maße wurden darüberhinaus die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung gefördert, die der Sicherstellung der deutschen Chemieproduktion diente. Hierfür wurden eigene Institute aufgebaut, außerdem zahlreiche Hochschulinstitute mit Forschungsarbeiten auch außerhalb der Chemie beauftragt. 1938 arbeiteten rund 150 Hochschulprofessoren in Deutschland für das RWA.28 Das RWA konkurrierte damit bei der Forschungsförderung mit dem RLM und den Oberkommandos von Marine und Heer. Während die Wehrmachtsteile direkt Waffen- oder Rüstungsforschung betreiben ließen, sorgte das RWA für die Weiterentwicklung der ebenso kriegswichtigen materiellen Basis der Kriegsführung. Die Institute, die für das RWA arbeiteten, betrieben also ebenso Wehr- und Kriegsforschung, wie Institute mit direkten Wehrmachtsaufträgen.

Im Laufe des Krieges wurden die Hochschulinstitute, wenn sie nicht überhaupt schon für Wehrmacht, RFR und RWA arbeiteten, immer mehr für die Kriegsforschung eingespannt. Mit dem Ende der Blitzkriege zur Jahreswende 1941/42 wurde deutlich, daß man sich auf einen längeren Krieg einzustellen hatte. Hier stellte sich auch die Frage, ob man mit den vorhandenen Waffensystemen und Produktionsverfahren in der Rüstungswirtschaft den Krieg weiter durchstehen könnte. Zwar war die Wehrmacht Auftraggeber in der Hochschulforschung, zog indes aber zahlreiche Naturwissenschaftler und Ingenieure zum Kriegsdienst ein. Erst im Dezember 1943 gestattete das Oberkommando der Wehrmacht die Rückbeorderung von rund 5000 Wissenschaftlern aus der Wehrmacht29, was das ambivalente Verhältnis von Wehrmacht und Staat zu Wissenschaft und Forschung verdeutlicht. Indes erreichte im Januar 1943 ein Schnellbrief des Wissenschaftsministers die TH Braunschweig, in dem die Hochschule zum Nachweis der Kriegswichtigkeit der Lehre, aber auch ihrer Forschung und Entwicklung aufgerufen wurden. Hochschulen, die nicht kriegswichtig arbeiteten, seien sogar von der Schließung bedroht:

„Auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung sollen weitere Einschränkungen erfolgen, soweit es sich nicht um unbedingt kriegswichtige Aufgaben handelt. Andererseits muß die kriegswichtige Forschung unter allen Umständen aufrecht erhalten werden und – wo nötig – noch verstärkt werden.“ 30

Der Vorgang hatte zur Folge, daß alle Braunschweiger Hochschulinstitute im Januar und Februar 1943 über ihre Tätigkeiten einen Bericht abzuliefern hatten. Diese Berichte, die im Archiv der TU Braunschweig vorhanden sind, stellen für die Geschichtsschreibung der Carolo-Wilhelmina eine einmalige Quelle dar. Die einzelnen Institute waren nämlich aufgefordert, ganz schematisch u.a. Auftraggeber und Forschungsgegenstand anzugeben. Damit bietet diese Akte einen Querschnitt durch die naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung an der Hochschule, die auf andere Weise nur sehr mühsam zu erforschen wäre, wie ja am Beispiel der TH Charlottenburg deutlich wurde.

Das Ergebnis der Befragung ist im Anhang wiedergegeben. Betrachtet man die Aufgabenstellungen, erkennt man verschiedene Schwerpunkte in den einzelnen Abteilungen, die natürlich disziplinenspezifisch sind. Die Aufgabenstellungen zeigen aber eindeutig, daß die Institute von ihren Auftraggebern genau dort angesetzt waren, wo Vierjahresplandurchführung, Rüstungstechnik und -produktion ihre Probleme hatten, z.B.:

  • Cordes, Physikalische Chemie, in der Fett- und Seifenversorgung;
  • Hartmann, Anorganische Chemie, für die Kautschukindustrie;
  • Kritzler, Metallographisches Versuchsfeld, bei der Kupfereinsparung;
  • Pahlitzsch, Werkzeugmaschinen, für die Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen;
  • Schultze, Chemische Technologie, in der Mineralölchemie;
  • Unger, elektrische Maschinen, bei der Einführung von Aluminium in der Elektrotechnik;

usw.

Ein Beispiel für den Einsatz eines Hochschulinstituts auf einem Problemfeld der deutschen Rüstungsindustrie aus den Aufträgen der Luftwaffe sei hier näher betrachtet. Schon seit etwa 1940, als gigantische Luftrüstungsprogramme geplant wurden, war Aluminium knapp gewesen. Um dieser Situation zu begegnen, beschloß das RLM im Flugzeugbau wo möglich auf Stahl und Holz auszuweichen. Zu diesem Zweck war eigens ein besonderer Umstellausschuß gegründet worden.31 Die Umstellung auf Holz bedeutete für die Luftfahrtforschung in Braunschweig wiederum ein breites Arbeitsfeld, wie die Forschungstitel im Anhang bei Prof. Winter vom Institut für Flugzeugbau dokumentieren. Dabei ging es sowohl um die Materialentwicklung und -erprobung als auch die Konstruktion von Holzflugzeugen. Dies ist ein besonders trauriges Kapitel der Kriegsforschung, denn die Flugzeugtype Me 328, an der im Auftrag der Firma Jacobs-Schweyer gearbeitet wurde, war vom RLM als Selbstopferungsflugzeug vorgesehen. Bei der erwarteten alliierten Invasion sollte mit je einer Me 328 je ein Landungsboot versenkt werden. Das Projekt mußte aus konstruktiven Gründen abgebrochen werden. Freiwillige hatte man bereits genug gefunden.32

Größter Auftraggeber: das Luftfahrtministerium

Größter Auftraggeber der TH Braunschweig war auf dem Stand von Anfang 1943 eindeutig das RLM mit 40 Aufträgen. Dann folgen das RWA mit 15, das Oberkommando der Marine mit 8, das Oberkommando des Heeres mit 6 Aufträgen. Ganze 2 Aufträge sind durch den RFR erteilt, was die Bedeutungslosigkeit dieser Organisation dokumentiert. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Aussagen von Ludwig bzw. Zierold, wonach der RFR zusammen mit der DFG 1942 ganze 9 Mio. RM zur Verfügung hatte, nur eine Million mehr als die Notgemeinschaft 1929.33 Natürlich ist die Zahl der Aufträge allein nur bedingt aussagefähig, weil Umfang und Bedeutung nicht ersichtlich werden. Über die Frage der praktischen Relevanz der einzelnen Ergebnisse können vorerst nur Vermutungen angestellt werden. Hier müßte jeder Auftrag im Rahmen der disziplinspezifischen Bedingungen betrachtet und eingeschätzt werden. Dies muß eine Aufgabe der weiteren Hochschulgeschichtsschreibung sein, die dann neben den institutionellen eben auch naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge zu analysieren hätte.

Zierold formulierte, daß besonders geschickte Forscher wie Marx verstanden, sich von zwei Institutionen gleichzeitig fördern zu lassen.34 Im Fall von Marx waren dies von 1940 bis 1945 RFR und RWA. Marx war jedoch als Fachspartenleiter insofern in einer besonderen Situation, als er selbst einer Institution angehörte, die für die Mittelbewilligung verantwortlich war. Für die TH Braunschweig kann aber trotzdem formuliert werden, daß immerhin die Hälfte der betrachteten Wissenschaftler von zwei oder mehr verschiedenen Institutionen – auch in Zusammenarbeit mit der Industrie – gefördert wurde. Die Mehrfachförderung erscheint also als durchgängiges Phänomen.

„…mit kriegswichtigen Aufgaben betraut…“

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich die These der Berliner Ebert und Rupieper für die TH Braunschweig bestätigt: die Rüstungsforschung und -entwicklung hielt nicht nur Einzug in die Hochschulen, sondern die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten wurden ganz den Anforderungen der ns-Herrschaft untergeordnet. Dies wird aus dem Schreiben des Braunschweiger Rektors Herzig an den Braunschweigischen Minister für Volksbildung, in dem die Anfrage auf die Kriegswichtigkeit der Arbeit der Hochschule beantwortet wurde, besonders deutlich:

„… von den 45 Instituten der TH (sind) 33 mit kriegswichtigen Aufgaben betraut … . Ungefähr 90% derselben sind zu W.-Betrieben erklärt und werden durch das Rüstungskommando betreut. Die weitaus größte Anzahl der in den Instituten Beschäftigten sind Schlüsselkräfte. Zwischen diesen Instituten und der … Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring« … und den hiesigen großen kriegswichtigen Firmen, wie … Miag, Voigtländer, Lutherwerke, Vereinigte Eisenbahn-Signalwerke …, Büssing-NAG und Wilke-Werke, bestehen intensive wissenschaftliche Verpflichtungen, welche … die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Weiterarbeit der Institute … klar nachweisen.“ 35

Naturwissenschaftlich-technische Kriegsforschung an der TH Braunschweig Januar 1943 nach: Archiv der TU Braunschweig, AI:1491
Forscher Institution
Auftraggeber: Forschungs- bzw. Entwicklungsauftrag
Bruchhausen Staatliche Lebensmitteluntersuchungsanstalt und Laboratorium für Lebensmittelchemie
an sich kriegswichtig, weil Hauptanstalt des Bezirks Braunschweig für die Untersuchung von Kampfstoffen;
Cario Physikalisches Institut
RLM über LFA: 3 Aufträge, keine Angaben;
Cordes Institut für Physikalische Chemie
RWA: Reaktionskinetik der Aliphate in Hinsicht auf die Fett- und Seifenversorgung;
Föppl Wöhler-Institut, Prüfstelle für Werkstoffe
RLM/Focke-Wulf: Dauerhaltbarkeit von Schrauben;
OKH/Hoesch: Drücken von Drehstäben für Panzerwagen;
Friese Institut für Organische Chemie
RLM: Grundlagen für flugzeugtechnische Zwecke;
Forschungsdienst der Landbauwissenschaften: zu Inhaltstoffen von Getreidekeimen;
RWA: unleserlich;
RWA: Schädlingsbekämpfung;
Grundmann Lehrstuhl für Meteorologische Meßtechnik und angewandte Meteorologie
RLM: 3 Aufträge, keine Angaben;
Hartmann Institut für Anorganische Chemie
RWA: Carbid Zwei- und Mehrstoffsysteme und deren Hydrolyseprodukte;
RWA/Fachgruppe Kautschukindustrie: Gewinnung von Tonerdehydrat als Bunafüllstoff aus Schlacken und Nutzung anfallender Metallverbindungen (Mn, Ti, Vd); Versuchsanlage für 1000 kg in Betrieb;
Heinemann Institut für Landwirtschaftliche Technologie
RWA: Energiewirtschaft/Kohleeinsparung;
RMEuL: Ernährung betr. Zucker;
RLM/DAF: Technischer Luftschutz;
Iglisch Mathematisches Institut
RLM/LFA/Aerodynamisches Institut: keine Angaben;
Jaretzky Pharmakognostisch-Botanisches Institut
RWA: laxierend wirkende Extrakte heimischer Pflanzen;
Kangro Versuchsanlage Kangro
RWA/RFR: »Versuchsanlage«;
RWA: geheim;
DAF: streng geheim;
Kern Institut für Angewandte Pharmazie
RWA: Bearbeitung der galenischen Präparate der Heilpflanzen mit abführender Wirkung;
Koeßler Versuchsfeld für Fahrzeugtechnik
OKH,RLM,RMB,RVM: keine Angaben, vermutlich Versuche mit Bremsen;
Koppe Institut für Luftfahrtmeßtechnik
RLM: Überprüfung von Bordgeräten für kriegswichtigen Einsatz;
RLM: Höhenprüfraum für Bordgeräte;
RLM: Bildung von nichttragfähigem Eis im Hinblick auf Winterfeldzug im Osten;
RLM: Kälteempfindlichkeit von Flakvisieren mit Oberst-Ingenieur Kuhlenkamp; besonders wichtig für den Winterfeldzug im Osten;
OKM: Hypsometer für U-Boote;
Junkers: desgleichen für große Höhen;
Kristen Institut für Baustoffkunde und Materialprüfung verbunden mit dem Institut für baulichen Luftschutz
RLM/OKH/RMBuM: Wehrbetontechnische Untersuchungen;37
Kritzler Metallographisches Versuchsfeld und Versuchsfeld f.Schweißtechnik
OKM: Kesselschäden bei Kriegsschiffen;
OKM: Kupfereinsparung;
RMBuM: Beratungsauftrag für Kupfereinsparung;
Leist Institut für Triebwerke der Luftfahrtzeuge
RLM/Daimler Benz: Entwicklungsarbeiten an Flugmotoren;
Löhner Institut für Verbrennungskraftmaschinen
RLM/BMW: Forschungen an luftgekühlten Flugmotoren;
Lübcke Akustisches Laboratorium
RLM: keine Angaben;
Marx Institut für elektrische Meßkunde und Hochspannungstechnik
RWA: 3 Großversuchsanlagen zur Hochspannungs-Gleichstromübertragung;
Niemann Versuchsfeld für Maschinenelemente
OKM: Strahlsand-Schaltkupplung für Kriegsschiffe;
DVL/Blohm&Voss: 2x Schneckentrieb für Torpedos und Flugzeuge;
OKM/Kugelfischer: Längswälzlager für Schiffswellen;
Pahlitzsch Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb/Versuchsfeld für Schleif- und Poliertechnik
OKM: Ermittlung von geeigneten Prüfverfahren für Ziehschleifsteine;
OKH/RWA: Einsparung von Industriediamanten beim Abrichten von Schleifsteinen;
RLM/RMBuM: Standzeiterhöhung von Schneidwerkzeugen zur Leistungssteigerung;
RWA: Bearbeitung von synthetischen Lagersteinen für Uhren;
Pfleiderer Institut für Strömungsmaschinen und Dampferzeuger
RLM: Entwicklung von Flugmotorenladern;
RLM/LFA: Untersuchung einer neuen Ladertype;
Pungs Institut für Fermelde- und Hochfrequenztechnik
OKM: Arbeiten im Rahmen des F.u.M.-Programms des Nachrichtenmittelversuchskommandos der Kriegsmarine;
Raven Versuchsanstalt für Bauingenieurwesen und Forschungsstelle für Straßenbau
RLM/OKH: in 1942 275 kriegswichtige Aufträge;
Rehbock Institut für angewandte Mathematik und darstellende Geometrie
RLM/LFA: Auftrag steht kurz bevor;
Schaefer Institut für Technische Mechanik
RLM/Focke-Wulf: keine Angaben;
Schlichting Aerodynamisches Institut
RLM/LFA: Profiluntersuchungen am Modell P-51 Mustang;
RLM/LFA: desgleichen an Original-Flügel;
RLM: Druckmessung beim Schieben von Flugzeugen;
RLM: Seitenwindeinfluß;RLM: 6-Komponentenmessungen an pfeilförmigen Flugzeugen;
RLM: desgleichen beim Schieben;
RLM: Widerstand und Druck an Laminarprofilen;
RLM: Grenzschichtuntersuchungen mit Anblasen und Absaugen;
Schultze Institut für Chemische Technologie
Bevollmächtigter für die Förderung der Erdölgewinnung:
Steigerung der Ölproduktion;
RWA: Mineralölchemie, Schmieröl- und Butadiensythese;
DVL: Störungen im Flugmotorenbetrieb;
OKH: Güteprüfung von Schmiermitteln;
RFR/Fachsparte Treibstoffe: Kohlenwasserstoffchemie;
Unger Institut für Elektromaschinenbau
RWA: Aluminium in elektrischen Maschinen;
OKM: 6 Aufträge zum U-Programm;
Winter Institut für Flugzeugbau
RLM: Untersuchung an kunstharzgeleimten Schichtholzschalen für den Flugzeugbau;
RLM: Preßschichthölzer im Flugzeugbau;
RLM: Konstruktion und Berechnung von Holzflugzeugen;
RLM: Holz- und Metallschichtstoffe;
Junkers: Versuche an Buchenschichtholz;
Jacobs-Schweyer: Versuchsholm mit Presschichtwerkstoff für Me 328;
DVL: Tragflügelbau für Überschallflug;
Focke-Wulf: Höhenflossenberechnung und Bau;
Wittig Forschungsinstitut für Naturasphalt
RLM: Isolierungen aus Naturasphalt;
HGW: desgleichen säurefest
Abkürzungen:
DAF Deutsche Arbeitsfront
DVL Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt
HGW Reichswerke AG für Erzbergbau und Hüttenwesen »Hermann Göring«
LFA Luftfahrtforschungsanstalt »Hermann Göring«
OKH Oberkommando des Heeres
OKM Oberkommando der Kriegsmarine
RFR Reichsforschungsrat
RLM Reichsluftfahrtministerium
RMB (wahrscheinlich verkürzt RMBuM)
RMBuM Reichsminister für Bewaffnung und Munition
RMEuL Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft
RVM Reichsverkehrsminister
RWA Reichsamt für Wirtschaftausbau

Dr. Helmut Maier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/3 Zukunft der Rüstung, Seite