W&F 2013/4

Vorwärts ins 19. Jahrhundert?

Japan soll interventionsfähig werden

von Eiichi Kido

Nach der Wahl zum Unterhaus im Dezember 2012 gewann die Liberal-Demokratische Partei in Japan im Juli 2013 auch die Wahl zum Oberhaus mit deutlichem Vorsprung. Ministerpräsident Shinzô Abe hat damit für die nächsten drei Jahre eine klare Mehrheit in beiden Häusern, und der Rechtsnationalist will diese nicht nur nutzen, um Sozialleistungen zu kürzen; ihm geht es vor allem um eine Verfassungsänderung, damit Japan auch offiziell weltweit militärisch operieren kann.

Die von Ministerpräsident Abe angekündigte Politik hat, wenn sie denn wie geplant durchgesetzt wird, weitgehende Folgen nicht nur für die japanische Bevölkerung, sondern auch für die gesamte Region:

  • Da geht es zum Ersten um die Wiederaufnahme des Betriebs von Atomkraftwerken im Land und um den Export japanischer AKW-Modelle ins Ausland. Und das, obwohl aus dem Kernkraftwerk Fukushima Daiichi noch immer hoch radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer läuft, die Ursache der Katastrophe weiterhin nicht vollständig geklärt ist und etwa 150.000 Menschen auf absehbare Zeit weit weg von ihrer Heimat leben müssen. Völlig unbeeindruckt davon macht Abe in anderen Ländern Reklame für japanische AKWs. Außerdem verständigte er sich am 7. Juni 2013 mit dem französischen Präsidenten François Hollande über eine nukleare Zusammenarbeit.
  • Die Regierung beabsichtigt einen bisher beispiellosen Sozialabbau. So sollen die Sozialhilfe drastisch gekürzt und weitere Sozialleistungen abgebaut werden. Der Arbeitsmarkt soll noch stärker dereguliert werden, mit der Folge, dass die prekäre Erwerbstätigkeit weiter anwachsen wird. Die Mehrwertsteuer soll erhöht werden, und Japan soll am TPP-Freihandelsabkommen (Trans-Pacific Strategic Economic Partnership Agreement) teilnehmen. Dabei weisen Kritiker des TPP darauf hin, dass dieses Abkommen ausschließlich den (ursprünglich US-amerikanischen) multinationalen Unternehmen dient. Mit dem »Investor-State Dispute Settlement« würden diese die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit – die z.B. US-Konzernen Klagen gegen die japanische Regierung aufgrund der von ihr erlassenen sozialen und ökologischen Standards ermöglicht – in ihre Hände bekommen, die nationale Souveränität würde dadurch weitgehend eingeschränkt.
  • Größten Wert legt die Regierung Abe auf eine Verfassungsänderung, die die bisher festgeschriebene militärische Zurückhaltung beseitigt.

Abschied vom modernen Konstitutionalismus

Anders als in seiner ersten Regierungszeit von September 2006 bis September 2007 muss Abe sich nicht beeilen, sein Ziel, die Abschaffung des pazifistischen Verfassungsartikels 9, zu erreichen.1 Er plädiert dafür, man solle zuerst Artikel 96 ändern. Dieser bestimmt das Verfahren zu einer Verfassungsänderung. Eine Änderung der Verfassung bedarf nämlich bisher der Initiative des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Haus. Die Änderung ist dann dem Volk vorzulegen und bedarf dessen Zustimmung. Abe hat die Absicht, die Zustimmung für die Parlamentsinitiative auf eine einfache Mehrheit abzusenken, um eine Verfassungsänderung wesentlich leichter durchsetzen zu können.

Das bedeutet praktisch den Abschied vom modernen Konstitutionalismus, der den Regierenden Willkür verbietet und sie bei der Ausübung der Staatsgewalt den Bindungen der Verfassung unterwirft. Seit den bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert (Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg und Französische Revolution) ist das ein wesentliches Prinzip für die Verfassung eines hoch entwickelten Staates. In der japanischen Verfassung, die auf dem Konstitutionalismus basiert, sind Volkssouveränität, Menschenrechte und Gewaltenteilung entsprechend deutlich formuliert, um die Staatsmacht einzuschränken. Auch Artikel 99, der den Tennô oder Regenten, die Minister, die Parlamentsmitglieder, die Richter und die übrigen öffentlichen Bediensteten verpflichtet, diese Verfassung zu achten und zu schützen, zeugt von der Absicht, die Menschenrechte vor willkürlicher Herrschaft der Machthaber zu schützen.

Die Art und Weise, wie Abe & Co das Prinzip des Konstitutionalismus aushöhlen wollen, um eine Verfassungsänderung in ihrem Sinne zu erleichtern, erinnert an das NS-Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das es möglich machte, dass die von der Regierung beschlossenen Gesetze von der Verfassung abweichen konnten.2

Laut Victor Klemperer soll Adolf Hitler im März 1936 gesagt haben: „Ich bin kein Diktator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht.“ 3 Eine solche Vereinfachung der Demokratie fordert vor allem Tôru Hashimoto, einer der Ko-Vorsitzenden der Restaurationspartei Japans. Diese Partei wurde im September 2012 von der Regionalpartei »Verein zur Restauration Osakas« gegründet. Eine federführende Rolle spielte dabei Hashimoto, ehemaliger Gouverneur von Osaka und amtierender Oberbürgermeister der Stadt Osaka, der die Parteigründung zusammen mit Abgeordneten des nationalen Parlaments betrieb. Neben Hashimoto ist Shintarô Ishihara, ehemaliger Gouverneur von Tokio, Parteivorsitzender. Im Parteiprogramm vom 30. März 2013 wird die japanische Verfassung beschimpft als „Wurzel allen Übels, die Japan zur Isolation und zum Gegenstand der Geringschätzung verdammt und ihm die unrealistische Kollektivillusion des absoluten Friedens aufgezwungen hat“. Die ideologische Position der Restaurationspartei ist derjenigen von Abe damit sehr ähnlich. Für eine Verfassungsänderung hat der rechtsnationale Ministerpräsident also auch in der »Opposition« Verbündete.4

Menschenrechte als Gnade der Obrigkeit

Im April 2012 veröffentlichte die LDP ihren Verfassungsentwurf. Seit ihrer Gründung fordert die Partei, dass Japan von der durch die Alliierten »aufgezwungenen« Verfassung befreit werden und eine »eigene« bekommen muss. Wenig überrascht daher, dass im LDP-Entwurf eine international-universale Sichtweise gänzlich fehlt. In der Präambel der heutigen Verfassung steht z.B. „Wir erkennen an, dass die Völker auf der ganzen Welt das Recht haben, ohne Unterschied frei von Furcht und Not in Frieden zu leben“ und „Wir glauben, dass keine Nation sich nur ihren eigenen Angelegenheiten widmen und die anderen Nationen unbeachtet lassen darf“. Der LDP-Verfassungsentwurf widmet sich hingegen gerade nur den eigenen Angelegenheiten und definiert Japan narzisstisch als einen „Staat, der eine lange Geschichte und ganz eigene Kultur hat und dankenswerterweise den Tennô als Symbol des nationalen Zusammenhaltes“.

Der Fokus der Verfassungsänderung liegt natürlich auf Artikel 9, der auf die »Abschaffung des Krieges« abzielt. Die LDP hat die Absicht, die »Abschaffung des Krieges« abzuschaffen und stattdessen die »Sicherheit« in den Vordergrund zu stellen. Laut der heutigen Verfassung ist es dem japanischen Staat untersagt, Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel zu unterhalten. Die LDP will die faktische Existenz der Landesverteidigungstruppen (Kokubô-Gun) verfassungsrechtlich klar festschreiben.5

Der LDP-Verfassungsentwurf beinhaltet darüber hinaus eine grundlegende Einschränkung der modernen Volkssouveränität und der Menschenrechte. Symbolisch ist, dass der vorgeschlagene Text den heutigen Verfassungsartikel 97 („Die Grundrechte der Menschen, die diese Verfassung dem japanischen Volk gewährleistet, sind der Erfolg des jahrhundertelangen Kampfes der Menschheit um die Erlangung der Freiheit: Diese Rechte haben in der Vergangenheit vielfache Proben bestanden und sind dieser und künftigen Generationen des Volkes als unverletzliche ewige Rechte anvertraut.“) überhaupt nicht mehr enthält. Der Begriff »natürliche und unveräußerliche Menschenrechte« ist der LDP offensichtlich völlig fremd.

Stattdessen sind im LDP-Entwurf verschiedene Pflichten des Volks festgeschrieben, wie „Das japanische Volk verteidigt selber mit Stolz und Mut das Land und die Heimat“ (Präambel), „Das japanische Volk muss die Nationalflagge und die Nationalhymne achten“ (Art. 3), „Die Familienmitglieder müssen einander helfen“ (Art. 24), „Jeder muss bei einer Erklärung des Ausnahmezustands […] den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“ (Art. 99-3) und „Jeder Staatsbürger muss diese Verfassung achten“ (Art. 102).

Man muss die Aufmerksamkeit darauf richten, dass dabei auch das »Individuum« verschwindet. Artikel 13 der geltenden Verfassung lautet: „Jeder Bürger wird als Einzelpersönlichkeit geachtet.“ Jedes Individuum gilt als gleichwertig. Es hat das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Das ist der Grundtenor der Verfassung. Deshalb muss die Staatsgewalt die Menschenrechte der Individuen möglichst weitgehend achten. Natürlich darf kein Bürger Freiheiten und Rechte missbrauchen; jeder ist ständig verpflichtet, sie zum allgemeinen Wohl zu nutzen (Art. 12). Aber das bedeutet nicht, dass der Staat wesentliche Vorrechte vor dem Individuum besitzt.

Im LDP-Verfassungsentwurf heißt es: „Jeder Bürger wird als Mensch geachtet.“ Die Bürger werden nicht mehr als Individuen mit all ihren Unterschieden, sondern als Ganzes behandelt. Es geht um die Homogenität der Menschen. Überdies wird das Recht des Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück geachtet, „soweit es den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung nicht entgegen steht“. Offensichtlich denkt die LDP, dass »die öffentlichen Interessen und die öffentliche Ordnung« über den Menschenrechten und der Staat über dem Individuum steht.

Wenn die Obrigkeit der Auffassung ist, dass Äußerungen »den öffentlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung« entgegen stehen, wird die Äußerungs- und Meinungsfreiheit des Individuums nicht mehr erlaubt. So könnten die für die LDP unbequemen Bewegungen gegen AKWs und Militärstützpunkte mundtot gemacht werden.

Das erinnert an die Meiji-Verfassung von 1889. Damals konnten japanische Untertanen nur „im Rahmen des Gesetzes“ die Freiheit der Rede, der schriftlichen Äußerung, der Veröffentlichung, der Versammlung und der Vereinsbildung genießen. Unter dieser Verfassung wurden verschiedene Freiheiten eingeschränkt und unterdrückt. Für die geschichtsrevisionistische LDP, die den japanischen Angriffskrieg bis 1945 als „Selbstverteidigung“ und „Befreiung Asiens“ rechtfertigt, scheint es attraktiv zu sein, die Verfassung als Mittel zur Kontrolle des Volkes zu instrumentalisieren.

Diese Top-Down-Kommunikation gilt auch für die lokale Selbstverwaltung. Der LDP-Entwurf reduziert ihren Zweck auf die „bevölkerungsnahe Verwaltung“ (Art. 92). Es wäre einer lokalen Selbstverwaltung dann nicht mehr möglich, einen Beschluss zu fassen, der den Richtlinien der Regierung zuwider läuft. Sie müsste vielmehr brav Militärstützpunkte der US-Amerikaner oder der Landesverteidigungstruppen, AKW-Anlagen oder Atommülllager aufnehmen.

Die LDP will also drei Prinzipien der heutigen Verfassung widerrufen: Volkssouveränität, Menschenrechte und Pazifismus. Artikel 99 der heutigen Verfassung verbietet Politikern und öffentlichen Bediensteten, bei Gesetzgebung und Administration die Rechte des Bürgers zu verletzen. Die LDP sieht es genau umgekehrt: „Jeder Bürger muss diese Verfassung achten.“ Der Tennô soll nun als Staatsoberhaupt von der Pflicht, die Verfassung zu achten, befreit werden. Hat die LDP die Absicht, im Namen des Tennô willkürliche Machtdemonstration und Gewaltanwendung zu unternehmen?

Der Weg zum Kriegsstaat

Laut dem LDP-Verfassungsentwurf ist der Zweck der Erhaltung der Landesverteidigungstruppen nicht nur Selbstverteidigung, sondern auch „Sicherung des Friedens und der Sicherheit der internationalen Gesellschaft in internationaler Zusammenarbeit“ und „Erhalt der öffentlichen Ordnung bzw. Schutz des Lebens und der Freiheit des Volkes“. Das bedeutet praktisch, dass Japan in Zukunft selbst ohne UNO-Mandat an der Seite der USA ständig und global militärisch präsent sein könnte. Außerdem hat die LDP die Absicht, das Militär im Inland einzusetzen.

Für die LDP scheint die zivile Kontrolle über das Militär nicht besonders wichtig zu sein. Nach ihrem Verfassungsentwurf dürften der Ministerpräsident und die Minister nur „keine Militärs im aktiven Dienst“ sein, während die heutige Verfassung regelt, dass sie Zivilisten sein müssen. Theoretisch könnte man Minister werden, wenn man einen Tag vorher aus dem Militär entlassen worden ist.

Im LDP-Verfassungsentwurf ist die Idee des bedingungslosen Gehorsams gegenüber der Befehlsgewalt offensichtlich. Für die Landesverteidigungstruppen soll ein Militärgericht eingerichtet werden. Im Wahlkampf 2013 zum Oberhaus sagte der LDP-Generalsekretär, Shigeru Isawa, unmissverständlich, dass Befehlsverweigerer dann möglicherweise zum Tode verurteilt würden.

In Kapitel 9 hat die LDP den »Notstand« neu definiert. Der Ministerpräsident soll den Notstand erklären können bei „einem bewaffneten Angriff von außen gegen unser Land, Verwirrung der gesellschaftlichen Ordnung, wie Bürgerkrieg, und großen Naturkatastrophen, wie Erdbeben“. Gab es in Japan bei der dreifachen Katastrophe 2011 etwa einen Aufstand gegen die »öffentliche Ordnung«? Ein Bürgerkrieg oder eine bewaffnete Revolution ist in Japan ebenfalls undenkbar. Die Änderung des Pazifismus-Artikels 9 und die Einführung einer Notstandsregelung gemäß Kapitel 9 sollen es Japan ermöglichen, wieder Krieg zu führen.

Die Notstandsregelung bereitet nämlich die Generalmobilisierung vor. Wenn einmal der Notstand erklärt ist, bekommt das Kabinett außerordentlich große Macht. Es kann einen Regierungserlass anordnen, der die gleiche Wirksamkeit hat wie ein Gesetz. Die Obrigkeit kann dann ohne Zustimmung des Parlaments die Rechte der Bürger einschränken. Dabei muss jeder „den Anweisungen des Staates und der anderen öffentlichen Einrichtungen folgen“. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist dann keine grundlose Spekulation.

Fazit

Es ist wohl falsch, den LPD-Verfassungsentwurf nur als anachronistisch zu kritisieren. Die durch die Austeritätspolitik bedingte gesellschaftliche Diskrepanz ist inzwischen so groß geworden, dass die LDP versucht, die Gesellschaft durch den Ausbau der Staatsgewalt zusammen zu halten.

Mitte der 1990er Jahre wurde in Japan der Meilenstein gesetzt für einen neoliberal-neonationalistischen Weg. Die Arbeitgeber gaben damals die Grundsätze des japanischen Nachkriegskapitalismus wie Anstellung auf Lebenszeit und Bezahlung nach (Dienst-) Alter auf. Der Staat hat sich aus bestimmten Politikbereichen wie Sozialfürsorge und Bildung zurückgezogen. Es gab einen kulturellen Rückschlag, nachdem die Regierung, wenn auch zögerlich, versucht hatte, die historische Kriegsschuld anzuerkennen.

Als Folge der Deregulierung des Arbeitsmarkts waren in Japan laut einer Regierungsstatistik, die im Juli 2013 veröffentlicht wurde, im Jahre 2012 20,43 Millionen Menschen prekär beschäftigt. Das waren 38,2% aller Beschäftigten.

Angesichts der verschlechterten Arbeitsverhältnisse wächst die Kluft zwischen Arm und Reich; bittere Armut nimmt stark zu. Laut dem OECD-Bericht »Growing Unequal?« von 2008 lag Japan bei der Armutsquote auf Platz vier, d.h. 14,9% der Japaner lebten in Haushalten mit einem Einkommen unterhalb der Hälfte des Durchschnittseinkommens. Laut einer UNICEF-Studie zur Kinderarmut vom Mai 2012 hat diese ebenfalls auf 14,9% zugenommen – in Deutschland liegt sie bei 8,5%.

Japanische Kinder und Jugendliche sind ohnehin extrem konkurrenzbetonten Lebensumständen und den traditionellen Ansichten, die Kinder nicht als Menschen mit eigenen Rechten respektieren, ausgesetzt.6 Fast die Hälfte der jungen Generation befindet sich in prekären Verhältnissen. Die geringe Arbeitsplatzsicherheit und das niedrige Einkommensniveau macht ihnen eine langfristige Lebensperspektive unmöglich. Aber auch das Arbeitsleben der Vollzeitbeschäftigten ist sehr hart: lange Arbeitszeit, unbezahlte Überstunden usw.

Angesichts der tief greifenden Klassenspaltung in der japanischen Gesellschaft ist der Verlust des Gefühls, Menschen vertrauen zu können, immer spürbarer. Laut einer Umfrage, die 2002/2003 durchgeführt wurde,7 stimmten nur 31,5% der befragten StudentInnen in Japan der These „Die meisten Menschen sind im Grunde aufrichtig und freundlich“ zu (in Finnland waren es 82,6%). 79,7% von ihnen meinen „In dieser Gesellschaft wird man von jemandem ausgenutzt, wenn man nicht aufpasst“ (in Finnland 25,4%).

Die neoliberale Ideologie der Eigenverantwortung hat besonders junge JapanerInnen stark indoktriniert. Wenn bei ihnen etwas schief läuft, meinen sie, sie seien selbst daran schuld. Aber diese Selbstzüchtigung kann man nicht für immer ertragen. Irgendwann braucht man etwas, an dem man die Unzufriedenheit auslassen kann.

Die Feindbilder China und Nordkorea, die z.T. durch Aufrüstung (Chinas) und Raketenschlag-Drohungen (Nordkoreas) befördert werden, sind gut geeignet, um mit Hilfe eines Neonationalismus von den Widersprüchen des Neoliberalismus abzulenken. Auch ist eine wachsende Intoleranz zu verzeichnen, d.h. Versuche, Andersdenkende und Andersartige mit Gewalt zu unterwerfen und das Recht der Stärkeren durchzusetzen.8

Initiativen gegen die (Re-) Barbarisierung des Staates und der Gesellschaft Japans kann man vom Parlament nicht erwarten, die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder ist auf die Änderung der auf Krieg verzichtenden Verfassung fixiert. Für Friedenspolitik bedarf es eines Netzwerkes in der Zivilgesellschaft, und zwar nicht nur in der japanischen, sondern auch der globalen.

Nachdem die erste globale Artikel-9-Konferenz zur Abschaffung des Krieges mit TeilnehmerInnen aus 42 Ländern und Regionen im Mai 2008 stattfand,9, gibt es eine zweite Tagung im Oktober 2013 in Osaka.10

Am 13. Juni 2013 hat sich der UN-Menschenrechtsrat dafür ausgesprochen, das Recht auf Frieden als Menschenrecht anzuerkennen und ihm als internationale Norm Geltung zu verschaffen.11 Die japanische Verfassung hat dabei eine gewisse Rolle gespielt. In einer Welt, in der ein bewaffneter Konflikt nach dem anderen entsteht, Waffen massiv produziert werden und die Umweltzerstörung fortschreitet, ist die Idee des japanischen Verfassungsartikels 9, nämlich »Frieden schaffen ohne Waffen«, hoch aktuell.

Anmerkungen

1) Artikel 9 lautet in dt. Übersetzung laut der Website »Japanische Verfassungsgeschichte« von Prof. Dr. Andreas Kley, Lehrstuhl für Staatsrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Bern: (1) „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. (2) Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“

2) In der Tat lobte Vize-Regierungschef Tarô Asô (Vize-Premier und Finanzminister) acht Tage nach der Wahl zum Oberhaus die politische Taktik der Nationalsozialisten bei der Umsetzung der Verfassungsreformen, was natürlich zu internationaler Kritik geführt hat. Siehe: Simon Wiesenthal Center: Simon Wiesenthal Center to Japanese Vice Prime Minister: Which »Techniques« of the Nazis Can We »Learn From«? July 30, 2013.

3) Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. 8 Bände. Eintrag vom 23. März 1936. Berlin: Aufbau.

4) Obwohl die Restaurationspartei bei der Wahl zum Unterhaus drittstärkste Partei wurde, hatte sie bei der Wahl 2013 keinen sensationellen Erfolg. Schuld daran waren die jüngsten Äußerungen von Hashimoto, der in Bezug auf die »Trostfrauen« im Zweiten Weltkrieg davon sprach, dass Prostitution notwendig gewesen sei, um die Disziplin in der Truppe aufrecht zu erhalten. In diesem Kontext schlug er sogar dem Befehlshaber der in Okinawa stationierten US-Truppen vor, die US-amerikanischen Soldaten auf die Möglichkeiten der Sexindustrie hinzuweisen, „um die sexuelle Energie der starken Marineinfanteristen zu kontrollieren“. Angesichts heftiger Kritik im In- und Ausland schob er anschließend die Schuld den Massenmedien zu, die seine „wahre Absicht“ nicht wiedergegeben hätten.

5) Die japanischen »Selbstverteidigungsstreitkräfte« (Self-Defence Forces), die im Juli 1954 gegründet wurden, verfügen heute über insgesamt 247.172 Mann (Stand 31. März 2013). Nach Angaben von SIPRI stellen sie mit 59,271 Mrd. Dollar etatmäßig die fünftgrößte Streitmacht der Welt dar. Von Januar 2004 bis Ende 2008 waren japanische Truppen ohne UN-Mandat in den Irak entsandt.

6) United Nations Committee on the Rights of the Child, fifty-fourth session: Consideration of reports submitted by States parties under article 44 of the Convention. Concluding observations: Japan. Dokument CRC/C/JPN/CO/3 vom 20. Juni 2010.

7) NIRA policy research, December 2005, S.31.

8) Vgl. Eiichi Kido: Neuer Graswurzel-Chauvinismus in Japan. In: Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 94 (1/2012).

9) Article-9.org/whynot9/index_en.html.

10) 9jou-kansai.com/uttae02.html.

11) Dafür waren 30 Länder, dagegen waren neun (darunter die EU, die USA und Japan); acht Enthaltungen.

Eiichi Kido ist seit 1994 Assistenzprofessor an der Osaka School of International Public Policy (OSIPP), Universität Osaka. Von 2000 bis 2001 war er DAAD-Lektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/4 Der pazifische Raum, Seite 14–17