W&F 2001/1

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Plädoyer für ein europäisches »DiplomatieZuerst!«-Konzept

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Memorandum

Am 16. November 2000 haben auf Einladung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Persönlichkeiten aus der Friedensforschung die Raketenabwehrpläne der USA diskutiert und ein Memorandum »Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!-Konzept« beschlossen. Zu den Unterzeichnern gehören: Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Prof. Dr. Horst Fischer, Bochum, Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Wolfgang Liebert, Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS), Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Götz Neuneck, Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), Dr. Ulrich Ratsch, Stellvertreter des Leiters der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Dr. Jürgen Scheffran, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS) und Dr. Herbert Wulf, Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC). Das Memorandum hat folgenden Wortlaut:

1. Unser Anliegen – unser Vorschlag im Überblick

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) entscheiden. Wir sind besorgt, dass ein solcher Beschluss zu einer neuen Runde des Wettrüstens führt – und damit weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schafft. Davon ist auch die Bundesrepublik Deutschland gravierend betroffen. Darum melden wir uns zu Wort.

Mit unserer Besorgnis über die Einführung eines umfangreichen Abwehrsystems stehen wir nicht allein, wie die Reaktionen auf die Pläne der Vereinigten Staaten weltweit zeigen. Auch innerhalb der USA stoßen die Vorhaben auf Kritik. Wir sehen die Gefahr, dass politische Maßnahmen gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die Proliferation (Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen) wirksam zu bekämpfen. Bei den militärischen Vorhaben geht es nicht nur um die Pläne zum Aufbau eines Nationalen Verteidigungsgürtels, sondern auch um vorschnell aufgestellte regionale Abwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD). Sie können leicht zu regionalen Rüstungswettläufen führen.

Vor diesem Hintergrund zielt unser »Diplomatie Zuerst!«-Vorschlag darauf ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den Vorrang einzuräumen. Die »Diplomatie Zuerst!-Initiative« richten wir insbesondere an den deutschen Außenminister und an die Mitglieder der verantwortlichen Parlamentsausschüsse.

Unser Vorschlag hat drei Dimensionen:

  • Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre diplomatischen Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das Hauptziel gegenüber der neuen US-Administration und dem neuen Kongress muss es sein, ein Nationales Raketenabwehrsystem wegen der absehbaren negativen Folgen zu verhindern. Der nach wie vor wichtige Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten, dass die Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der letzten Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre nachhaltig gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen. Washington ist auch in erster Linie angesprochen, wenn es darum geht, eine weitere Militarisierung des Weltraums zu beschränken. Aber auch Moskau und Beijing müssen stärker dazu gebracht werden, dass sie glaubwürdiger als bisher unter Beweis stellen, es ernst mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu meinen.
  • Zweitens drängen wir im Rahmen der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative darauf, durch den Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen eine präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu betreiben. Zu denken ist hier zum einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und Risikominderung, wie z.B. die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Bedeutsam sind zum anderen eine Beschränkung oder gar ein Teststopp von bestimmten ballistischen Raketen sowie ein globales oder regionales Aufstellungsverbot für neue Raketen. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Forderung aus gegenwärtiger Sicht nur schwer zu verwirklichen ist. Dies muss jedoch nicht für erste gezielte Schritte gelten.
  • Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf, auf diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine »Diplomatie Zuerst!«-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu starten. Länder wie Iran, Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell nach Süden zu erweiternden »Sphäre europäischer Verantwortung«. Eine solche Initiative dürfte insbesondere gegenüber Iran gute Chancen haben, zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. Mit Blick auf den EU-Gipfel im Dezember in Nizza empfehlen wir, ein solches Konzept zu einem Kernelement der viel beschworenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen.

2. Lagebericht: Stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung

Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite Verminderung der Rüstungspotenziale hat sich in einigen Bereichen deutlich verlangsamt, in anderen ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der amerikanische Senat den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht ratifiziert, auch die Umsetzung der Chemiewaffen-Konvention kommt nur schleppend voran. Ein Abkommen zur weiteren Reduktion der strategischen Nukleararsenale in den Vereinigten Staaten und Russland auf rund je 1500 Sprengköpfe (START III) ist derzeit genauso wenig in Sicht wie ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von atomwaffenfähigen Materialien (»Fissile Material Cut-off«) oder die Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen in den Abrüstungsprozess. Die russische Duma hat zwar den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten gekoppelt. Dieses Abkommen haben die damalige Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1972 abgeschlossen, um ein politisch wie finanziell kostspieliges Wettrüsten zwischen Raketen und Abwehrraketen zu vermeiden.

Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln hinzu. Die Nukleartests in Indien und Pakistan von 1998 und die Folgeentwicklung zeigen, dass diese zusätzlichen Kernwaffenstaaten im Begriff sind, ihre Potenziale auszubauen. Die Erprobungen der iranischen Shahab-Rakete verdeutlichen beispielhaft, dass einige Dritt-Welt-Länder dabei sind, ein Arsenal von Trägersystemen für Massenvernichtungswaffen zu entwickeln; große Teile der Türkei und andere Nachbarländer des Iran liegen bereits in der Reichweite der iranischen Shahab, die sich noch im Teststadium befindet.

Zum Gegentrend der Aufrüstung gehören auch die amerikanischen Pläne, ein landesweites Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet das Ende des ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form. Denn sein zentrales Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems und die Vorbereitungen hierfür zu verbieten. Mit dem geplanten NMD-Abwehrschirm soll das gesamte Staatsgebiet der Vereinigten Staaten vor einem begrenzten Raketenangriff geschützt werden – also vor einer Attacke mit einigen wenigen Langstreckenraketen, die entweder versehentlich von russischem Boden aus oder absichtlich von einem der Risikostaaten, wie beispielsweise Nordkorea, abgeschossen werden könnten. Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die Vertragsinhalte gravierend zu verändern. Dabei ging vielen Republikanern in beiden Häusern des Kongresses bereits die Gesprächsbereitschaft der Clinton-Regierung zu weit. Sie forderten eine einseitige Aufkündigung des Vertrages, den auch die scheidende US-Administration als »Eckstein strategischer Stabilität« bezeichnet hat.

Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden weltweite Folgen haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann. Ein weiterer Rüstungsschub droht. Denn die amerikanischen Rüstungspläne haben zu heftigen internationalen Reaktionen geführt. Russland und China haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren Kernwaffenarsenalen gedroht. Das NMD-Programm, das für die Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat globale Auswirkungen und führte zu einer Belastung der transatlantischen Beziehungen, da die meisten europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben weitgehend ablehnen. Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen betreffen die Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm involviert sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht, dass die Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird.

3. Nach der amerikanischen Wahl: Optionen

US-Präsident Clinton hat am 1. September 2000 bekanntgegeben, dass er seinem Nachfolger die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen Systems überlässt. Clintons Beschluss, nichts zu beschließen, bedeutet aus heutiger Sicht nur eine begrenzte Hinauszögerung der historischen Entscheidung, ein Nationales Abwehrsystem aufzustellen. Denn die beiden Präsidentschaftskandidaten Al Gore und George W. Bush haben sich – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – für den Aufbau eines Abwehrsystems ausgesprochen.

Setzt der Demokrat Gore seine Wahlkampf-Rhetorik um, dann kommt es zu einem eher begrenzten System. Ein US-Präsident Gore würde wie sein Amtsvorgänger versuchen, die notwendigen Veränderungen des ABM-Vertrages möglichst einvernehmlich mit Russland zu erzielen. Macht der republikanische Kandidat George W. Bush seine Wahlkampf-Äußerungen wahr, dann ist mit einem umfassenderen Abwehrsystem zu rechnen. Er will einen mehrschichtigen Gürtel aufbauen und die US-Alliierten einbeziehen; Bush will weniger Rücksicht auf die Sorgen Russlands nehmen. In jedem Falle bleibt die Gefährdung des Raketenabwehr-Vertrages weiterhin real.

Von entscheidender Bedeutung wird die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Kongresses bleiben. Die entschlossenen NMD-Stationierer vor allem im Senat waren in den vergangenen Jahren der Motor der militärischen Abwehrpläne. Diese ideologische Gruppierung von Senatoren ist auch im neuen Kongress unvermindert stark vertreten. Es ist daher zweifelhaft, dass sich die geschrumpften Mehrheiten der Republikaner in Senat und Repräsentantenhaus automatisch auf eine rüstungskontrollpolitisch wünschenswerte Verlangsamung der amerikanischen Raketenabwehrpolitik auswirken. In jedem Falle wird es sich auch der 107. Kongress nicht nehmen lassen, die Politik des neuen Präsidenten und seiner Administration in diesem Bereich maßgeblich mitzubestimmen.

4. Nationale Raketenabwehrsysteme: Wenig wirksam und doch gefährlich

Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung aussehen werden: Auch diese amerikanische Regierung muss die technischen Probleme, die bereits durch die Tests in der Clinton-Ära ans Tageslicht kamen, bewältigen. Im Falle eines umfassenderen und anspruchsvolleren Systems, das stärker als bisher Weltraumkomponenten einschließt, dürften die technischen Schwierigkeiten noch wachsen. In den USA sind bislang bereits deutlich mehr als 100 Milliarden Dollar für Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen des Jahres 1983 rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System stationiert. Zur Zeit werden jährlich etwa 4 Milliarden Dollar in Forschung, Entwicklung und Erprobung investiert. Nach Angaben des Congressional Budget Office werden für die NMD-Pläne der Clinton-Administration 60 Milliarden Dollar – ohne Weltraum-Konzepte – bis 2011 benötigt. Trotz der ausgegebenen großen Summen sind die technischen Ergebnisse kläglich. Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen waren nur zwei erfolgreich – und das, obwohl sie unter extrem günstigen Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.

Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der NMD-Technologie veranlasste den Präsidenten, seinen Stationierungsbeschluss zu verschieben. Kein militärischer Planer in den USA würde sich in einem Ernstfall auf einen derartig unzuverlässigen Abwehrschirm verlassen können. Unabhängig davon, wie erfolgreich die unter der neuen Regierung in Washington durchgeführten Versuche sein werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden Herausforderungen von anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von amerikanischen Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u.a. drei verhältnismäßig einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein Abwehrsystem »überlisten« und »täuschen« lässt. Dies ist deshalb möglich, weil das Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist:

  • Die betreffenden Länder können Bio- und Chemiewaffen, die in vielen kleinen Behältern (»submunition«) im Kopf der Rakete transportiert werden, einsetzen. Gegen diese vielen kleinen Ziele sind sowohl der landesweite Abwehrschirm als auch die regional aufzustellenden Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) machtlos. Ob andere Konzeptionen (etwa zum Abfangen in der Startphase durch seegestützte Waffen) dieses Problem lösen, lässt sich heute noch nicht sagen.
  • Im Innern von metallbeschichteten Ballons lassen sich Kernsprengköpfe unterbringen, die das Abwehrsystem nicht zu erkennen vermag. Diese Gefechtsköpfe können gemeinsam mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden, die die amerikanischen Abfangwaffen auf sich lenken.
  • Wird der Gefechtskopf innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden freigesetzt, lässt sich eine genaue Ortung durch das Radar verhindern.

Bei diesen Gegenmaßnahmen handelt es sich, anders als bei den Abfangtechnologien, nicht um Reißbrett-Phantasien. Länder, die in der Lage sind, Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu bauen, können auch derartige technische Gegenmittel verwirklichen. Hinzu kommt – und dies wird in der Diskussion oft übersehen –, dass Regierungen oder terroristische Vereinigungen, die die Vereinigten Staaten erpressen wollen, eine große Bandbreite von Möglichkeiten zur Verfügung hätten, gegen die Raketenabwehrsysteme nichts auszurichten vermögen. Hierzu gehören:

  • Die Stationierung von Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern auf Frachtschiffen oder U-Booten in der Nähe des amerikanischen Territoriums, die mit A-, B- oder C-Sprengköpfen ausgerüstet sind,
  • deponierte Sprengladungen mit Massenvernichtungsmitteln auf Schiffen, die in amerikanischen Häfen zur Explosion gebracht werden können und
  • das Einschmuggeln dieser Waffen auf US-Gebiet.

Mit ihren grundsätzlichen Zweifeln an den NMD-Fähigkeiten und der Effizienz von Gegenmaßnahmen stehen unsere Naturwissenschaftler-Kollegen in den Vereinigten Staaten nicht allein. Auch die öffentlich zugänglichen Bedrohungsanalysen aller amerikanischen Geheimdienste (»National Intelligence Estimates«) weisen neuerdings auf die Bedeutung und die Machbarkeit derartiger Gegenmaßnahmen hin. Darüber hinaus betonen die Geheimdienstberichte die beträchtlichen Möglichkeiten, über die (sub-)staatliche Akteure mit Erpressungsabsichten verfügen.

Trotz der relativ leichten Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gehört es zu den Paradoxien der Militärpolitik, dass in einer Reihe von Ländern die langfristig kalkulierenden Militärplaner und Politiker von Szenarien des »schlimmsten Falles« ausgehen – sie bauen also in ihre Überlegungen ein, dass die Nuklearkapazitäten ihrer Länder, wenn nicht heute oder morgen, so doch übermorgen durch ein NMD-System bedroht sein könnten. Diese Praxis hat aber ein fortschreitendes Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zur Folge.

Denn China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20 Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die US-Raketenabwehrsysteme zum Anlass nehmen, um sein Atomarsenal auszubauen. Denn, so das Kalkül in Beijing, selbst ein begrenztes Abwehrsystem der USA wird die eigenen Nuklearwaffen entwerten. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren nuklearen Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen könnte, ist zu befürchten.

China dürfte in der amerikanischen Raketenabwehrpolitik die zentrale Rolle spielen, auch wenn es in den offiziellen Begründungen kaum vorkommt. Die Vereinigten Staaten, die das »Reich der Mitte« mit beiden Abwehrvarianten offenbar militärisch eindämmen wollen, versprechen sich von NMD und TMD zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, etwa im Konflikt zwischen der Volksrepublik und Taiwan. Wir sind der Auffassung, dass ein solcher erhöhter Aktionsspielraum zweifelhaft ist, denn der Zugewinn an Handlungsspielraum könnte durch die Gefährdung der regionalen Stabilität wieder zunichte gemacht werden.

5. Wesentlich: Der Erhalt des ABM-Vertrages

Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag aufgekündigt oder beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei Jahrzehnten in Kraft und begrenzt die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr drastisch. Die Vertragspartner Vereinigte Staaten und Russland haben sich verpflichtet, „keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für solch eine Verteidigung vorzusehen.“ Der bilaterale Vertrag hat eine präventive Funktion, da er beide Vertragsparteien laut Artikel V (1) verpflichtet „keine ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder aufzubauen, die see-, luft- oder weltraumgestützt sind oder als bewegliches System landgestützt sind.“

Der ABM-Vertrag ist auch unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen ein wesentlicher Baustein im komplizierten Geflecht internationaler Abmachungen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher weiterhin von substanzieller und politisch-symbolischer Bedeutung.

Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen Verhältnis, sondern auch im Hinblick auf China. Die Vertragskritiker, die das Abkommen für ein Überbleibsel aus der Zeit des ideologischen Antagonismus halten, übersehen diese Ungleichzeitigkeit. Insbesondere auf der Ebene der operativen Zielplanung haben sich Moskau und Washington (so unzeitgemäß dies ist) einander nach wie vor im Visier.

Selbst unter den stark veränderten internationalen Bedingungen lässt sich das gegenwärtige Abschreckungssystem noch verschlechtern. Eine »Kostprobe« hierfür enthalten die unlängst bekannt gewordenen US-Verhandlungsvorschläge gegenüber Moskau (so gen. Talking Points des amerikanischen Verhandlungsleiters John Holum). Befolgte Moskau die dort enthaltenen Empfehlungen, würde nicht nur der Prozess der Rüstungsverminderung ins Stocken geraten. Denn die Amerikaner legten ihren Verhandlungspartnern ferner nahe, ihre Atomwaffen im Zustand hoher Alarmbereitschaft zu halten. Für eine Krisensituation könnte sich diese Empfehlung als fatal erweisen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im Gegensatz zu den Gegnern des ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass Moskau als Reaktion auf ein amerikanisches NMD-System finanzierbare Aufrüstungsmaßnahmen trifft. Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur finanziell erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst problematisch. Sie bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages. Damit wird das in ihm enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen – ein Meilenstein in der Geschichte der Rüstungskontrolle – ausgehebelt.

Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere Abkommen entwertet werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einhegen wollen. Angesprochen ist hier insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Die zunehmende Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert eine sich verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer Bedeutung (wenn auch in der Diskussion weitgehend ignoriert) ist in diesem Zusammenhang der Ausbau des Nationalen Abwehrsystems mit dem Ziel, Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. Weltraumgestützte Komponenten können Zielscheiben von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) werden, die wiederum militärische Gegenmaßnahmen herausfordern. Dies bedeutet ein Wettrüsten auch im Weltraum.

Die Konsequenzen einer Kündigung oder weitgehenden Aufweichung des ABM-Vertrags können als Einstieg in einen kontinuierlichen Aufbau von Raketenabwehrsystemen angesehen werden. Eine stetige quantitative und qualitative Weiterentwicklung ist absehbar. Nach der in den USA bislang geplanten letzten Aufbaustufe für das Jahr 2011 wären im Weltraum stationierte Waffensysteme der nächste Schritt.

Zudem könnten weitere Staaten versucht sein – gewissermaßen noch rechtzeitig – in eigene Nuklearpotenziale zu investieren, denn die beste Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten – oder gar nicht – wirksamen Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten.

Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung reagieren würde oder könnte, wäre die schrittweise nukleare Abrüstung bedroht. Russland wird insbesondere aufgrund ökonomischer Gründe zwar gezwungen sein, seine Nukleararsenale weiter zu reduzieren, die untere Grenze der Nukleararsenale wird aber wesentlich bestimmt durch die Bedrohungspotenziale der nuklearen Konkurrenten. Jeder Kernwaffenstaat muss seine Zweitschlagsfähigkeit erhalten, um eine stabile Abschreckung zu gewährleisten. Bei Einführung von umfassender Raketenabwehr wird somit die schrittweise und tiefgreifende nukleare Abrüstung bedroht. Das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt rückt in weite Ferne. Ein Prozess der vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung globaler strategischer Stabilität ist weit schwerer, bei der Existenz umfangreicherer Raketenabwehr vielleicht gar nicht organisierbar.

Deshalb plädieren wir entschieden dafür, den ABM-Vertrag in seiner jetzigen Substanz zu erhalten.

6. Das vernachlässigte Problem: Aufrüstung durch regionale Abwehrsysteme

Es wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausreichend gesehen, dass es sich beim kontroversen National Missile Defense System nur um eine Variante der Raketenabwehr – und damit um eine Form der Aufrüstung – handelt. Erst ab der Jahreswende 1998/99 betonte die Clinton-Administration den Aufbau eines Nationalen Abwehrsystems. Sie tat dies aufgrund des Drucks von Seiten der Republikaner im Kongress. Er war nach dem Test der nordkoreanischen Rakete am 31. August 1998 beträchtlich angewachsen. Bis dahin hatte der Schwerpunkt der Clinton-Administration auf der zweiten Variante, den regional aufzustellenden Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) gelegen. Sie sind gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen ausgelegt. Beide Varianten können nicht isoliert voneinander gesehen werden.

Auch mit diesen regionalen Abfangraketen sind perspektivisch beträchtliche rüstungskontrollpolitische Probleme verbunden. Sie betreffen einerseits den ABM-Vertrag (und damit das amerikanisch-russische Verhältnis). Andererseits – und diese Gefahr ist einer der blinden Flecken der Debatte – können sie regionale Rüstungswettläufe anheizen, die Europa (und damit die Bundesrepublik) unmittelbar angehen.

Regionale Abfangsysteme (TMD), von denen die Vereinigten Staaten derzeit mehrere entwickeln, verletzen den ABM-Vertrag »im Prinzip« nicht. Denn das Abkommen von 1972 verbietet nur Abwehrwaffen, die sich gegen strategische Trägersysteme mit einer großen Reichweite richten. Allerdings besteht das Manko des Vertrages darin, dass er nicht definiert, was unter »strategisch« zu verstehen ist. In jahrelangen Verhandlungen einigten sich Moskau und Washington im September 1997 auf eine Definition, die die Grauzone teilweise schließt. Beide Seiten legten fest, welche Waffen als strategisch und damit als verboten gelten und welche Systeme als sub-strategisch (taktisch) bezeichnet werden können und damit erlaubt sind (so gen. Demarcation Agreement, das im Übrigen nur die russische Duma ratifiziert hat und das dem US-Senat zur Verabschiedung bisher nicht vorliegt).

Allerdings konnten sich beide Seiten nicht auf die Kategorisierung der so genannten seegestützten Navy Theater Wide-Systeme einigen. Die Russen sehen sie wegen ihrer Reichweite als strategisch und damit als nicht erlaubt an; aus der Sicht der Amerikaner sind diese seegestützten Potenziale als taktisch einzustufen und verstoßen damit nicht gegen den ABM-Vertrag. Ein weiteres Problem kommt hinzu, das der Streit um dieses Theater Wide System der amerikanischen Marine beispielhaft deutlich macht. Die Unterscheidung zwischen taktisch und strategisch verschwimmt – und zwar in dem Ausmaß, in dem die ursprünglich gegen Mittelstreckenraketen einzusetzenden Abfangwaffen im Laufe der Zeit so verbessert werden, dass sie auch strategische Systeme vernichten können. Perspektivisch – und dies ist die auch von China geäußerte Sorge – ließen sich die landesweite NMD-Variante und die regionalen TMD-Varianten zu einem umfassenden System integrieren.

Insgesamt ist es uns wichtig, festzustellen: Die Waffensysteme, auf die sich Washington und Moskau im Demarcation Agreement 1997 geeinigt haben, sind nicht per se die »guten«, weil mit dem ABM-Vertrag vereinbar gemachten Systeme. Denn die Aufstellung von taktischen Abwehrwaffen etwa in Asien, im Nahen Osten, Persischen Golf oder in Europa bedeutet ein weiteres Drehen an diesen regionalen Rüstungsspiralen. Dies gilt es durch Initiativen, die den Primat auf die Diplomatie setzen, zu vermeiden.

7. Notwendig und erfolgversprechend: Eine europäische »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Erste Dimension: Vorschläge zur Rüstungsbeschränkung und -verminderung

Die Europäer sollten die Vereinigten Staaten auf den Erhalt des ABM-Vertrages drängen und auch der neuen US-Administration klar machen, wie wichtig es ist, die europäischen Sicherheitsbelange und die Sorgen Moskaus ernst zu nehmen. Dies heißt auf das NMD-Projekt zu verzichten oder ein System zu entwickeln, das mit dem ABM-Vertrag in seiner jetzigen Form vereinbar ist. Ebenso sollte die Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Lasersysteme unterbunden werden, um nicht einer weiteren Militarisierung des Weltraums Vorschub zu leisten. Als Basis für entsprechende deutsche und europäische Initiativen bietet sich die 1999 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig angenommene Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum« an.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer destabilisierender Waffentechnologien, der zunehmenden Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften und der beschleunigten Verbreitung militärisch relevanter Technologie erscheint es nötig zu sein, vorbeugende Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Wichtig ist hierbei die Kontrolle besonders gefährlicher Waffensysteme bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Dabei sollte vor dem Beschaffungsprozess, möglichst in der Phase von Forschung und Entwicklung, angesetzt werden. Ein Gesamtkonzept vorbeugender Rüstungskontrolle, das die technologische Dynamik in den Blick nimmt und in die Rüstungskontrollbemühungen integriert, erscheint notwendig. Der ABM-Vertrag stellt einen Baustein dieses geforderten neuen Konzepts dar.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Kreml-Führung für einen Kompromiss mit der neuen US-Administration entscheidet. Würde der ABM-Vertrag doch gemäß dem Wunsch Washingtons abgeändert und gleichzeitig weitere nukleare Abrüstung vereinbart, so wären einige offensichtliche Probleme auf diplomatischer Ebene möglicherweise gelöst. Andere – insbesondere ein Rüstungsschub in Asien – dürften sich verschärfen. Denn China steht einem solchen US-russischen Kompromiss ablehnend gegenüber, da er das amerikanische Militärvorhaben legitimieren würde.

Zweite Dimension: Vorschläge zum Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen

Die Europäer – und damit die Berliner Regierung – sollten bei der Moskauer Führung nicht nur auf eindeutige Abrüstungsmaßnahmen drängen. Darüber hinaus sollten sie – wie auch gegenüber Beijing – entsprechende aktive Schritte für eine entschiedene und konstruktive Nichtverbreitungspolitik einklagen. Hier ergibt sich zunächst der Befund, dass mit Exportkontrollen der Lieferländer von Raketentechnologie allein (etwa im Rahmen des Missile Technology Control Regime, MTCR) die Verbreitung der Raketentechnik für militärische Zwecke nicht verhindert, sondern allenfalls verlangsamt werden kann. Deshalb sind weitergehende Schritte notwendig.

Zur erforderlichen gemeinsamen Strategie zur internationalen Eindämmung der Raketenproliferation und zur Vertrauensbildung gehören aus unserer Sicht Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenstabilität; gemeinsame Frühwarnsysteme für versehentliche Raketenstarts; die Vorabmeldung von Satellitenstarts und Startanlagen sowie die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Hieran sollten sich weitergehende Maßnahmen anschließen – etwa eine Beschränkung oder gar ein Teststopp bestimmter Raketentypen, oder ein Aufstellungsstopp für neue ballistische Flugkörper. Hierfür könnte der Mittelstreckenraketen-Vertrag von 1987, der eine ganze Waffenkategorie mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km verbot, als Modell dienen. Einige dieser Forderungen sind derzeit möglicherweise schwer zu verwirklichen. Das Fernziel sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren: Die Schaffung raketenfreier Zonen und die hiermit verbundene dauerhafte Etablierung der internationalen Norm gegen ballistische Waffensysteme.

Dritte Dimension: Vorschläge zur Einrichtung eines beständigen Dialogforums mit Problemstaaten

Um in Washington, Moskau und Beijing ernst genommen zu werden, muss sich Europa durch einen eigenständigen, sichtbaren und politisch erfolgversprechenden Beitrag zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Trägersystemen und Sprengköpfen als glaubwürdiger Akteur positionieren. Hier sind die diplomatischen Initiativen Europas gegenüber denjenigen Ländern angesprochen, die in Nordafrika, im Nahen Osten und in der Persischen Golfregion eine Bedrohung darstellen können. Gefragt sind hier langfristige Konzepte im Rahmen einer »Diplomatie Zuerst!«-Initiative. Sie kann gleichermaßen dazu dienen, das Fernziel internationale Abrüstung zu fokussieren und kleinschrittig anzugehen.

Wir fordern die Bundesregierung und die zuständigen Ausschüsse im Bundestag auf, hier mit einer vorbeugenden Politik aktiv zu werden. Die derzeitigen europäischen Rahmenbedingungen sind für die Entwicklung und die Umsetzung eines solchen Konzepts günstig. Denn mit ihrer Kritik an den amerikanischen NMD-Plänen und mit ihrer geäußerten Besorgnis über weitere globale und regionale Rüstungsschübe gibt es einen großen gemeinsamen Nenner unter den europäischen Regierungen. Dies bedeutet gleichzeitig, die offiziellen Gründe der USA für den Ausbau eines Nationalen Verteidigungssystem konstruktiv anzugehen – und sie mit politischen Mitteln gegenstandslos zu machen, zumindest aber sichtlich zu entschärfen.

Die Chancen für einen durch den Primat der Politik ausgezeichneten Ansatz halten wir auch deshalb für groß, weil die offiziellen Bedrohungsanalysen in gewisser Weise Entwarnung geben, was das Tempo der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln anbelangt. Der damalige CIA-Direktor William Webster hatte 1989 für das Jahr 2000 mehr als 15 Staaten mit einem entsprechenden Potenzial von Raketen vorausgesagt. In ihren Einschätzungen aus jüngster Zeit nennen sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch die »National Intelligence Estimates« der USA nur eine Handvoll von Ländern, die auf absehbare Zeit in puncto Massenvernichtungswaffen problematisch sind. Es sind neben Nordkorea vor allem Iran, Irak, Syrien und Libyen. Diese auf wenige Länder konzentrierte – also gerade nicht diffuse – Bedrohung stufen die US-Analysen zudem noch ab („real“, „(höchst) wahrscheinlich“, „möglich“). Die europäische Initiative müsste – und könnte – entsprechend zielgerichtet ausgelegt werden.

Ihr konzeptioneller Kern ist, dass sie auf einen institutionalisierten Dialog mit diesen Staaten setzt. Deshalb ist es erforderlich, im EU-Rahmen ein hierfür zuständiges Forum einzurichten. Es sollte in der Bürokratie der Europäischen Union hoch angesiedelt sein, etwa im Kompetenzbereich von »EU-Außenminister« Javier Solana, der über Aktivitäten, Fortschritte und Probleme in regelmäßigen Abständen öffentlich berichten müsste. Nur so wird die EU als Akteur sichtbar. Gesprächsgegenstand des Forums dürften von europäischer Seite die sicherheitspolitischen Sorgen und von Seiten der Problemstaaten die vorgebrachten (möglicherweise primär regional verursachten) Motive für ihre Aufrüstung sein.

Die folgenden Ergebnisse des Dialogforums sind denkbar:

  • In den Problemstaaten könnte die Motivation für einen Verzicht auf relevante Entwicklungen im Bereich von Massenvernichtungswaffen durch attraktive Kooperationsangebote erhöht werden.
  • Anstreben ließen sich im Sinne eines Tauschhandels nachprüfbar begrenzte Reichweiten der Raketen gegen Wirtschaftshilfe oder einen Ausbau der Handelsbeziehungen.
  • Ein Angebot zur Partizipation an zivilen europäischen Programmen zur Weltraumnutzung könnte den Verzicht auf eigene Anstrengungen zur eigenständigen Entwicklung von Trägersystemen erleichtern, die sich auch militärisch nutzen ließen.
  • Das Angebot zur Kooperation im Bereich regenerativer Energietechnologien könnte mit dem Verzicht auf den Zugriff auf sensitive Nukleartechnologien, die für Atomwaffenprogramme wesentlich sind, gekoppelt werden. Deutschland ist zur Zeit mit einigen anderen europäischen Ländern Vorreiter bei der zunehmenden Entwertung der Rolle der Nuklearenergie als nachhaltiger Zukunftsoption.
  • Weitere gemeinsame Programme im Bereich Wissenschaft und Forschung aber auch im Bereich Landwirtschaft, Stadtplanung, Umweltmonitoring etc. sind auszuloten.

8. Zukunftsweisend: Ein europäisches Engagement für die Umsetzung der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, dass eine am Primat der Politik ausgerichtete Initiative konzeptionelle Vorteile gegenüber dem Ansatz der USA hat, die mehr und mehr auf technische Lösungen und Waffen setzen, um das Problem der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln in den Griff zu bekommen. Unsere Vorschläge

  • setzen auf nicht-militärische Kooperation und Einbindung – und nicht auf Unilateralismus und Ausgrenzung;
  • entwerten gerade nicht die durch die Raketenabwehrpolitik der USA bedrohten, mühsam geschaffenen und über Jahrzehnte am Leben erhaltenen bilateralen (ABM-Vertrag) sowie internationalen Abkommen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Raketentechnologie-Kontrollregime);
  • erweitern die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle durch zusätzliche Initiativen zur präventiven Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf der Erde und im Weltraum, anstatt Aufrüstung zu forcieren;
  • sind insofern selbstbewusst, als sie andere Gewichte als die USA setzen. Und doch sind sie gleichzeitig in hohem Maße bündnisverträglich. Denn die diplomatischen Schritte, die wir am Beispiel Iran vorschlagen, führen die Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea bereits mit Erfolg durch (aber eben auf diesen Einzelfall beschränkt, und nicht systematisch und auf breiter Basis). Hinzu kommt, dass ein stärkeres Engagement der Europäer eine glaubwürdige Antwort auf die Forderung vieler moderater US-Senatoren nach einer sichtbaren und glaubwürdigen europäischen Anstrengung im Nonproliferationssektor darstellt. Eine Initiative, die den bisherigen Erfolg der amerikanischen Nordkorea-Politik in der eigenen regionalen »Sphäre europäischer Verantwortung« auslotet, ist daher nicht »anti-amerikanisch«, die Gefahr einer europäischen Abkopplung von den USA ergibt sich ebenfalls nicht. Wohl aber macht sich das Konzept den Wettbewerbsvorteil Europas zu eigen; denn dem Alten Kontinent haftet nicht das Bild des »Großen Satans« an.

Mit seinem Fokus auf den Erhalt existierender Rüstungskontrollabkommen und dem notwendigen Ausbau vor allem präventiv angelegter Maßnahmen übernimmt Europa deutliche Verantwortung in einem Bereich, den die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren vernachlässigt haben. Europa wird dabei nicht zum politischen Lückenbüßer, sondern zum konzeptionellen Mitgestalter. Auch mit dem Blick auf eine »Sphäre der Verantwortung« (Nordafrika, Naher Osten/Persische Golfregion) zeigt sich Europa als sichtbarer Akteur im Politikbereich Nonproliferation und vorbeugender Rüstungskontrolle.

Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, die derzeitigen günstigen Umstände entsprechend zu nutzen. Die Überprüfung der bisherigen Raketenabwehrpolitik durch die neue US-Administration gibt den Europäern noch etwas Zeit. Hinzu kommt, dass der EU-Gipfel im Dezember in Nizza dazu genutzt werden sollte, den von führenden Politikern wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer oft beschworenen deutsch-französischen Motor auf diesem wichtigen Politikfeld in Gang zu setzen. Eine vom Primat der Politik angeleitete Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsstrategie ist über die »Avantgarde-Gruppe« hinaus bündnisfähig. Nach dem NMD-kritischen Bericht des Auswärtigen Ausschusses im britischen Unterhaus lassen sich auch in Großbritannien »inhaltliche Alliierte« finden.

Die Forderung nach gemeinsamen großen Projekten steht auf der europäischen Agenda, inhaltlich ist sie aber bisher weitgehend leer geblieben. Eine gemeinsame »Diplomatie Zuerst!«-Initiative könnte der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Façon und Schwung verleihen. Sie würde Europa als eigenständigem und doch kooperationsbereitem Akteur Profil geben, drohende Rüstungswettläufe konstruktiv anzugehen und zu vermeiden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/1 Von SDI zu NMD, Seite