Weg zur Versöhnung in Bosnien?
Gemeinsam der Opfer gedenken
von Werner Wintersteiner
Kriege wirken nach – lange. Wunden werden nicht nur physisch geschlagen, sondern auch psychisch. Eine schwer aufzulösende Hinterlassenschaft von Kriegen sind der Hass und das anhaltende Misstrauen zwischen den ehemaligen Kriegsparteien. Dieser Artikel schildert die Reise des Autors nach Bosnien und wie Kriegsveteranen aller drei Lager des Bosnienkrieges durch gemeinsames Opfergedenken einen Weg der Versöhnung beschreiten.
Es ist ein frühsommerlich warmer Tag, Mitte Mai, als wir uns nach Zavidovici aufmachen, ein Städtchen am Rande des stark bewaldeten Ozren-Gebirges, zwei Stunden nördlich von Sararajevo. Wir, das ist ein ganzer Reisebus von Friedens- und Konfliktexpert*innen verschiedener Länder. Was wir hier sehen und zu hören bekommen, ist bei aller Traurigkeit erstaunlich und ermutigend.
Wir steigen zum »Site 715«, dem »Hügel des Todes« hinauf, eine Bergkuppe, die – wie uns erklärt wird – eine der am meisten umkämpften Positionen in der ganzen Region war. Rund 500 Soldaten, Serben und Bosniaken, haben hier ihr Leben gelassen. Die Gegend ist bis heute noch vermint, überall warnen rote Schilder mit Totenkopf davor, die Wege zu verlassen. Auf der Anhöhe befindet sich eine schlichte polierte Granitplatte, wie ein Grabstein, flach auf dem Boden angebracht. Ihre Form bildet die Umrisse von Bosnien und Herzegowina nach. Darauf steht: „All jenen, die diesen Platz mit ihrem Blut tränkten“ – eine Formulierung, die jede Parteinahme und Bewertung vermeidet und einfach Trauer ausdrückt.
„Die einzige Hoffnung ist Versöhnung“
Hier treffen wir Kriegsveteranen aller drei Parteien, die sich im Krieg von 1992 bis 1995 bekämpften – Bosniaken, Serben und Kroaten. Sie haben sich, und das ist fast 25 Jahre nach Ende der Kämpfe immer noch außergewöhnlich, zu einer gemeinsamen Trauerfeier und Kranzniederlegung eingefunden. Mehrere von ihnen hat der Krieg zu Invaliden gemacht, sie tragen Beinprothesen. Einer nach dem anderen ergreift das Wort, erzählt seine persönliche Geschichte.
Trotz aller Unterschiede der Erzählungen gibt es einen gemeinsamen Tenor: Alle bekennen offen ein, dass nicht nur der Gegner, sondern auch ihre eigene Seite Kriegsverbrechen begangen hat. „Die einzige Hoffnung für das Land ist Versöhnung“, ist unisono die Schlussfolgerung dieser Männer. „Ich habe gekämpft, um meine Familie zu verteidigen“, sagt der Kroate Mirko, „nicht für mein Land“. Und er fügt hinzu: „Wir Veteranen müssen ein Vorbild sein und zeigen, dass wir wieder in Frieden zusammenleben können.“ Und Ðoko, serbischer Veteran, fügt hinzu: „Alle Opfer verdienen Respekt, egal, auf welcher Seite sie kämpften. Wir haben diesen Krieg nicht gebraucht. Und es haben auch nur die einfachen Leute, Arbeiter und Bauern, den Preis dafür bezahlt. Deswegen müssen sich heute gerade die einfachen Leute zusammentun, damit es nie wieder zum Krieg kommt!“ Ganz ähnlich drückt es auch Edin Ramulic aus, ein Veteran der bosniakischen Armee aus Prijedor, der heute Friedensaktivist ist: „Wir sind gekommen, um alle Opfer zu ehren und die Botschaft zu verbreiten, dass sich dieser Horror nie mehr wiederholen darf!“ – „Ich hatte von allen, die hier anwesend sind, den höchsten militärischen Rang, also bin ich auch am meisten zur Verantwortung zu ziehen“, bekennt offen Enes Bajric, ehemaliger Berufsoffizier der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), der in Slowenien stationiert war und sich bei Kriegsbeginn der bosniakischen Armee anschloss. Immer wieder, so Bajric, frage er sich noch heute: „Hätten wir den Krieg verhindern können?“
Die ehemaligen Soldaten kritisieren heftig, dass die Politiker solche Gedenkfeiern ausnützen, um ihre Machtspiele zu spielen und damit die Opfer missbrauchen. „Schließlich haben nicht die Politiker, sondern die Kriegsveteranen das meiste Recht, über die Vergangenheit zu sprechen“, meint Asim.
„Ein Ort der Schande“
Unsere nächste Station ist »Kilometer 13« (auf der von der k.u.k. Monarchie erbauten Bahnstrecke, gerechnet ab dem Bahnhof Zavidovici). Eine unscheinbare, idyllisch gelegene Wiese am Waldrand, daneben die Ruinen eines längst verfallenen serbischen Klosters. Hier gibt es kein Denkmal, und erst seit Kurzem, nach jahrelangen Bemühungen von Friedensaktivist*innen, hat die Gemeinde es gestattet, eine Tafel auf einem mobilen Ständer aufzustellen. Sie erinnert in kyrillischer Schrift an die »feindlichen« serbischen Soldaten, die hier von einer Mujaheddin-Einheit, die auf Seiten der bosniakischen Regierung kämpfte, bestialisch massakriert wurden. Es waren rund 50 Kriegsgefangene, die im Sommer 1994 auf ihrem Transport von den Mujaheddins den regulären bosniakischen Truppen abgenommen wurden, um sie hier grausam zu töten und zu enthaupten. Die Fakten sind seit Langem bekannt, denn die Kämpfer haben die Morde genau dokumentiert und gefilmt. „Für uns ist das ein Ort der Schande“, erklären uns die bosniakischen Veteranen.
Dritte Station: das große zentrale Denkmal in der Stadt Zavidovici für die über 1.000 „Shahids [Märtyrer], gefallenen Kämpfer und zivilen Opfer des defensiven Befreiungskrieges von ‘92-‘95“, wie die Inschrift lautet. Während wir auch hier einen Kranz niederlegen, denke ich darüber nach, was ein »defensiver Befreiungskrieg« sein könnte.
In der Forellenschenke von Kamenica, an einem kleinen Gebirgsbach, geht die Diskussion mit den Veteranen weiter. Ihre Aussagen bleiben lange im Gedächtnis, auch wenn wir schon vergessen haben, wer genau was gesagt hat: „Jeder lang anhaltende Kampf führt zu kollektivem Wahn.“ – „Wir können nur am Frieden bauen, wenn wir persönlich zusammenkommen.“ – „Wir können nicht vergessen, aber wir können verzeihen.“ Adnan, der inzwischen zum Friedensaktivisten geworden ist, wagt sich persönlich am weitesten vor. Er erzählt, wie er selbst Hassgefühle auf den serbischen Feind entwickelt hatte. „Ich entdeckte den Krieger in mir. Ich wollte nur zerstören! Doch als meine Einheit unschuldige Serben getötet hat, war das meine Katharsis.“ Da musste ich an den Satz denken, den ich bei einem anderen Veteranen, dem Dichter Faruk Šehic, gefunden hatte: „Ihr, die ihr den Krieg überlebt habt, lasst alle Hoffnung fahren, daraus jemals wieder lebend herauszukommen.“
Keine Schwarz-Weiß-Malerei
Dass Kriegsveteranen aller drei Parteien gemeinsam Gedenkfeiern besuchen, ist inzwischen schon zu einer kleinen Tradition geworden. Allgemein und selbstverständlich ist es aber in einem zerrissenen Land wie Bosnien-Herzegowina noch längst nicht. Und auch dieser Schritt der Versöhnung wäre nicht möglich gewesen ohne die systematische und geduldige Arbeit des Zentrums für gewaltfreie Aktion (Centar za nenasilnu akciju, CNA), eine Organisation – und auch das ist bemerkenswert –, die ein Büro in Belgrad und eines in Sarajevo hat. Sie haben gleich nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien (1991-1999) ihre Tätigkeit aufgenommen und arbeiten bereits seit über 15 Jahren mit Kriegsveteranen aller drei Lager. Das schien am Anfang eine Unmöglichkeit zu sein und ist heute immer noch schwierig. Sie nehmen gemeinsam an offiziellen Gedenkfeiern teil und knüpfen Kontakte zu Organisationen der Kriegsopferfamilien. In Workshops schaffen die Veteranen untereinander eine Vertrauensbasis, erzählen ihre Erlebnisse und verarbeiten ihre Erfahrungen. Viele von ihnen werden somit zu Botschaftern des Friedens.
Aber das darf man sich nicht allzu harmonisch und freundlich vorstellen. Wenn manche betonen, dass sie selbst ja einen „anständigen Krieg“ geführt hätten, und einer sogar sagt, er sei stolz auf seine Einheit von „ehrenhaften Kämpfern“, dann zuckt der Pazifist in mir zusammen. Das ist nicht der nette, saubere Frieden, von dem wir träumen, denke ich. Er stammt nicht von Friedensengeln, die sich unschuldig durchs Leben bewegen. Dieser Frieden kommt vielmehr von denen, die am besten wissen, was Krieg ist, die selbst blutig gekämpft und getötet haben – und die deshalb umso glaubwürdiger sind, wenn sie der Gewalt abschwören und sich mit ihren früheren Feinden zu einem gemeinsamen „Nie wieder!“ zusammenschließen. Das ist der Frieden, der möglich ist. Und dieser mögliche Frieden ist auch der beste Frieden.
Univ.-Prof. (i.R.) Dr. Werner Wintersteiner ist Gründer des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.