W&F 2010/4

Wege zur Gewaltfreiheit

Eine Praxisstudie zur Friedensarbeit

von Ilona Auer-Frege

Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um den leicht überarbeiteten Einleitungsbeitrag zu einer Studie, die 31 Fallbeispiele der Zivilen Konfliktbearbeitung systematisch dokumentiert. Die Studie erscheint im November im Büttner-Verlag unter dem Titel »Wege zur Gewaltfreiheit«.

Der Zivile Friedensdienst (ZFD)

Ausgehend von Pilotprojekten und unterstützt durch die nordrhein-westfälische Landesregierung richtete die 1998 neu gewählte rot-grüne Bundesregierung im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung BMZ die neue Förderlinie »Ziviler Friedensdienst« (ZFD) ein. Unter diesem Siegel werden heute Projekte der anerkannten Entsendedienste Deutscher Entwicklungsdienst (DED), Arbeitsgemeinschaft Entwicklungshilfe (AGEH), Evangelischer Entwicklungsdienst (EED), Weltfriedensdienst (WFD), EIRENE – Internationaler Christlicher Friedensdienst e.V., Dienste in Übersee (DÜ), KURVE Wustrow/Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) sowie peace brigades international (pbi) finanziell gefördert – Projekte, die ausdrücklich Friedensförderung und gewaltfreie Konfliktbearbeitung mit nicht-militärischen Mitteln durch entsandte europäische Friedensfachkräfte zum Inhalt haben. In den zehn Jahren seines Bestehens (1999-2009) entsandte der ZFD nach eigenen Angaben 570 Fachkräfte in 50 Länder. Derzeit sind 241 Friedensfachkräfte in 44 Ländern im Einsatz. Im Haushaltsjahr 2009 ist die Jahresfördersumme von 19 Mio. Euro (2008) auf über 30 Mio. Euro angestiegen.

Siehe auch:
www.ziviler-friedensdienst.org.

Das Spektrum der Friedensarbeit in Deutschland ist weit gefächert. Dies gilt nicht allein für die Organisations- und Kooperationsformen und die Komplexität der Aufgabenfelder, sondern auch für die ethisch-religiöse bzw. politisch-moralische Ausrichtung der Akteure. So liegt die Friedensarbeit nicht nur in den Händen von Institutionen unter staatlicher Trägerschaft, sie wird auch von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen vorangebracht: Kirchliche Organisationen, politische Parteien und Stiftungen sowie privat geführte zivilgesellschaftliche Institutionen geben den Ton an.

Gegenwärtig setzt die innergesellschaftliche Friedensarbeit in Deutschland selbst ihre Schwerpunkte bei Bildungs- und Jugendprojekten, Versöhnungsinitiativen, der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Anti-Gewalt-Trainings. Zudem geht es darum, die interkulturelle Kommunikation und die Integration von Migrantinnen und Migranten zu fördern. Die nicht-militärische Friedensarbeit im Ausland ist größtenteils an Projekte und Träger der Entwicklungszusammenarbeit gekoppelt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges brachen neue internationale Konfliktszenarien hervor, wie zum Beispiel die Balkankriege, die Golfkriege und die andauernden Brennpunkte der Gewalt in Afrika (Sudan, Angola, Liberia, Kongo, Äthiopien). Damit stand die Friedensarbeit auch Deutschlands vor gewaltigen Herausforderungen. Seit dem Völkermord in Ruanda, der 1994 innerhalb von drei Monaten ca. 800.000 Menschen das Leben kostete, war die gesamte westliche Entwicklungszusammenarbeit um ihr bis dahin unangefochtenes Selbstverständnis gebracht. In Deutschland, den USA und Skandinavien setzte sich die Szene daraufhin intensiv mit der Frage auseinander, inwieweit ihre Förderungsanstrengungen in Krisenregionen sogar Konflikte verschärfend oder verlängernd gewirkt haben könnte.

Die immer noch aktuelle Debatte kreist(e) um den so genannten »Do No Harm«-Ansatz, den Mary B. Anderson in ihrem wegweisenden gleich lautenden Buch (1996) entwickelt hatte. Fortan suchten die Akteure der professionellen Entwicklungszusammenarbeit nach konfliktsensitiveren Instrumentarien.

Diese notwendige Selbstreflexion innerhalb der internationalen zivilen »Friedensszene« brachte auch für die deutsche Friedensarbeit ein fundamental neues Selbstverständnis. Zahlreiche Förderprogramme zur zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung wurden und werden seither von staatlicher Seite initiiert. Ein Erfolg versprechendes Beispiel ist der Zivile Friedensdienst, der seit 1999 besteht und Fachkräfte in internationale Projekte zu Gewaltfreiheit und konstruktiver Konfliktbearbeitung einbindet.

Die Friedensarbeit in Deutschland geht neue Wege

Bis zur Jahrtausendwende wurden Friedensinitiativen staatlicherseits fast ausschließlich als diplomatische oder militärische Aufgaben, z.B. im Rahmen der Unterstützung von NATO, Vereinten Nationen oder OSZE-Missionen, interpretiert. Das Auswärtige Amt setzt seit 1998 mit dem Projekt »zivik – Zivile Konfliktbearbeitung«1 neue Akzente. Mit einem, gemessen an militärischen Ausgaben, kleinen Fonds werden Initiativen in Krisenregionen gefördert und dabei auch die programmatischen Linien der zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung, Krisenprävention und Friedensförderung verfolgt.

In noch größerem Ausmaß als das Auswärtige Amt engagiert sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) für die staatliche Förderung von Friedensprojekten, allen voran der bereits erwähnte Zivile Friedensdienst, der sich ausdrücklich als „neues Instrument der Entwicklungszusammenarbeit“ versteht.

Friedensarbeit in Deutschland hat mit der Einrichtung staatlich-zivilgesellschaftlicher Strukturen und Förderinstrumentarien einen starken Aufschwung und eine enorme Professionalisierung erfahren. Schon vor diesem Zeitpunkt hatten Kirchen und Bürgerinitiativen innerhalb Deutschlands methodische Grundsteine gelegt und Wissen angesammelt und so die Grundlagen für eine ausgedehnte Projektarbeit im Ausland aufgebaut. Einen guten Überblick über die konkrete Friedensarbeit der in Deutschland tätigen Organisationen, Stiftungen und Bürgerinitiativen bietet die Website der »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung» (www.konfliktbearbeitung.net). Als Netzwerk der Nichtregierungsorganisationen (NRO) und einzelner Akteure übernimmt sie seit 1998 die Aufgabe, den Informationsaustausch untereinander, die Öffentlichkeitsarbeit, die politische Vertretung und das Lobbying für die gewaltfreie Zivile Konfliktbearbeitung zu befördern.

Die Studie »Wege zur Gewaltfreiheit«

Trotz aller Erfolge der Implementierung ist das methodische Instrumentarium der Zivilen Konfliktbearbeitung längst nicht ausgereift. Wie so oft entwickelt sich das zivilgesellschaftliche Handeln eher diffus, dezentral an vielen kleinen Orten, mit unterschiedlichsten Anknüpfungspunkten und Wirkungsbezügen. Umso sinnvoller ist es, den Akteuren der Friedensarbeit bei ihrer konkreten Projektarbeit über die Schulter zu schauen und dabei konkret zu lernen, welche Methoden praxistauglich sind und im Sinne einer nachhaltigen Friedens- und Entwicklungsförderung funktionieren können.

Es erschien mir daher nahe liegend und notwendig, die sich ausdifferenzierte Praxiserfahrung mittels einer vorstrukturierten Methodenstudie zu erörtern. Hieraus ist eine für Kenner und Nichtkenner der Friedensszene hoffentlich lesenswerte Publikation entstanden, geschuldet meinem durch vielfältige Tätigkeit in der Zivilen Konfliktbearbeitung hervorgerufenen Wunsch, das Thema stärker ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.

»Weg zur Gewaltfreiheit« soll einen Überblick über den aktuellen Stand der deutschen Friedensarbeit im Inland und Ausland bieten und aufzeigen, wie die Projektträger auf Schwerpunktthemen der Konfliktbearbeitung eingehen. Die einzelnen Fallbeispiele sollen auch Anregung für Projektplanerinnen und -planer sowie für Friedensfachkräfte vor Ort bieten, mit dem Ziel, deren Arbeitsinstrumentarium zu bereichern. Dennoch bleibt offensichtlich: Jede Konfliktsituation, jede Zielgruppe, jede Region und jede Organisation ist anders. Dies erfordert maßgeschneiderte Ansätze und kontextabhängige Arbeitsmethoden. Hier werden keine Rezepte vorgestellt, die sich in jeder Umgebung nachahmen lassen. Stattdessen möchte die Studie aufzeigen, wie weit sich die Friedensarbeit deutscher Institutionen in den letzten Jahren entwickelt hat, und damit Inspiration und Reflexionsstoff für die eigene Arbeit bieten.

Auswahl und Dokumentation der Fallbeispiele

Im Jahr 2007 schrieb ich über 40 deutsche Organisationen an, die sich im In- und Ausland in irgendeiner Form professionell für zivile Konfliktbearbeitung, Gewaltfreiheit und Versöhnung einsetzen. Sie wurden gebeten, aus ihrem Arbeitsbereich solche Projektansätze und Methoden auszusuchen, die sie für besonders wirkungsvoll und lehrreich für andere Fachkräfte hielten. Es ging nicht darum, ganz besondere Glanzstücke der eigenen Projektpraxis ins Rampenlicht zu rücken, sondern es sollte deutlich werden, wie stockend, scheiternd und neu beginnend Friedensarbeit sein kann. Viele Projekte haben eine langjährige Vorgeschichte, wurden mehrfach neu konzipiert und immer wieder dem Bedarf ihrer Zielgruppen angepasst, bis sie wirklich funktionierten. Alle beteiligten Organisationen ließen sich darauf ein, auch diese Aspekte ihrer Arbeit offen mitzuteilen, um somit andere von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen.

Über ein Jahr lang wurden schließlich Projektunterlagen, Bilder, Berichte und Evaluierungen zusammengetragen. Dazu kamen Interviews mit Projektleiterinnen und Projektleitern, lokalen Fachkräften, Koordinatorinnen und Koordinatoren und Projektteilnehmenden. Aus diesem Material entstanden die 31 Projekttexte, die jeweils nur ein Schlaglicht auf einen aktuellen Ist-Zustand der Arbeit werfen können. Viele der Projekte haben noch weitaus mehr Facetten und Arbeitsfelder als in diesem begrenzten Rahmen aufgezeigt werden können.

Kategorien der Friedensarbeit

Schwieriger als gedacht gestaltete sich die Aufgabe, die vorgestellten Projekte inhaltlich zu kategorisieren und Kriterien zu finden, welche die jeweiligen Schwerpunkte abbilden. Gilt ein Schulprojekt mit Theaterarbeit als Kunst- oder Bildungsarbeit? Ist Traumabearbeitung bei ehemaligen Kombattanten mit integrierter Berufsausbildung ein medizinisch-psychologischer Ansatz oder geht es dabei eher um Einkommensförderung?

Dennoch ließen sich einige Kategorien finden, die zumindest die Kernaufgaben der heutigen zivilen Friedensarbeit umreißen und ein erstes Angebot zur Systematisierung darstellen:

Reintegration ehemaliger Kombattanten

Demobilisierte Soldaten verkörpern in vielen Krisenregionen ein besonderes Konfliktpotenzial. Oft kennen sie nur die Waffe als Mittel zum Einkommenserwerb, sind durch ihre Vergangenheit traumatisiert und werden von ihrer Herkunftsgemeinde gefürchtet oder abgelehnt. Deshalb geraten viele dieser ehemaligen Kämpfer schnell in die Hände von Sicherheitsfirmen oder finden sich in mafiösen Strukturen, im Drogenhandel oder in anderen paramilitärischen Vereinigungen wieder. Wer ehemalige Kombattanten auffängt, behandelt und ihnen eine positive Zukunftsperspektive ermöglicht, leistet einen wichtigen Beitrag zur Befriedung in besonders von Krieg und Gewalt betroffenen Gesellschaften.

Schutzräume zur Verfügung stellen

In Gesellschaften, die unter staatlicher Repression oder den negativen Begleiterscheinungen eines Bürgerkrieges leiden, können Aktivistinnen und Aktivisten, Menschenrechtsorganisationen, unabhängige Bürgerinitiativen oder Organe der Zivilgesellschaft selten unbehelligt arbeiten. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bedroht, entführt oder ermordet, oft ohne dass die Täterinnen und Täter juristische Konsequenzen befürchten müssten. In dieser Situation können begleitende Organisationen die internationale Aufmerksamkeit für die Bedrohten herstellen und durch persönlichen Schutz deren Arbeit unterstützen.

Medienarbeit

Medien und Journalistinnen und Journalisten haben in Krisenregionen oft einen erheblichen Einfluss auf die Konfliktparteien. Sie können diesen missbrauchen und damit gewollt zur Eskalation beitragen. Sie können aber auch von Friedensorganisationen in einem ethischen und unabhängigen Reportagestil unterstützt werden und damit einen verantwortungsvollen Beitrag zur Informationsvermittlung, zum Abbau von stereotypen Feindbildern und zur Friedenserziehung leisten.

Traumabearbeitung

Durch Gewalterfahrungen traumatisierte Menschen leiden oft lebenslang schwer unter ihren körperlichen und seelischen Wunden. Friedensprojekte können dazu dienen, dass diese Menschen bei der psychologischen Aufarbeitung begleitet werden. Ihnen kann dabei geholfen werden, aus der Opferrolle herauszutreten und den erlebten Konflikt zu bewältigen, eine Arbeit, die sich auch positiv auf ihr gesamtes Umfeld auswirkt. Damit erhält Traumabearbeitung neben der individuellen Hilfe auch eine gesellschaftliche Dimension.

Mediation und Dialog

Wo Justiz nur mangelhaft funktioniert oder Konflikte weniger staatlich-rechtlichen denn kulturellen, ethnischen oder traditionellen Ursprungs sind, können Mediatorinnen und Mediatoren dabei helfen, Gewalt zu vermeiden und Konflikte rasch, unbürokratisch und für alle Parteien befriedigend beizulegen. Mediation ist auf Ausgleich bedacht, allparteilich, kann der Bevölkerung leicht zugänglich gemacht werden und vermittelt eine Kultur der gewaltfreien und konstruktiven Konfliktlösung.

Methodenvermittlung auf Graswurzelebene

In kriegsbetroffenen Gesellschaften gilt oft seit Jahrzehnten das Recht des Stärkeren. Gewalt und Gegengewalt werden zu dominierenden Handlungsmustern in der Bevölkerung. Friedensprojekte helfen dabei, traditionelle Instrumente zur friedlichen Konfliktbeilegung wieder zu beleben und neue Methoden wie Mediation, gewaltfreie Kommunikation oder Ausgleichsmechanismen gesellschaftlich zu integrieren.

Methodenvermittlung auf institutioneller Ebene

Auch in vielen von gewaltsamen Konflikten geprägten Gesellschaften gibt es gewaltfreie Nichtregierungsorganisationen und Friedensgruppen. Diese können dabei unterstützt werden, ihre unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Beiträge zur Friedensförderung zu bündeln, sich zu vernetzen und sich untereinander zu verständigen, um möglichst professionell und effizient zu arbeiten.

Kunst als Friedensmedium

Wo rein intellektuell und kognitiv angelegte Ansätze auf Grenzen stoßen, da können kunst- und insbesondere theaterpädagogische Methoden erstaunliche Erfolge erzielen. Sie öffnen den Zugang zu »schwierigen« Zielgruppen, bauen Hemmschwellen für die Mitarbeit in Friedensprojekten ab und machen die Inhalte der Gewaltfreiheit ganzheitlich erfahrbar.

Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Justiz

Wo Krieg den Alltag bestimmt, entsteht nicht selten eine »Kultur der Gewalt«, in der der Staat als Ordnungsmacht versagt und damit auch die Justiz ihre Aufgaben nicht ausreichend wahrnimmt. Friedensprojekte können dazu beitragen, dass Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte und Gefängnispersonal ausgebildet werden und Gefangene Rechtsbeistand erhalten, Gesetzesreformen eingefordert und Wahrheitskommissionen einberufen werden. Insgesamt geht es im Rahmen der Friedensarbeit darum, eine verbesserte Rechtskultur zu vermitteln.

Jugendarbeit

Mitunter bestehen Konflikte schon seit Jahrzehnten und werden von Generation zu Generation weitergegeben. In vielen Krisenregionen besteht die Bevölkerung zu einem Großteil aus Menschen unter 25 Jahren. Jugendliche Zielgruppen sind oft eher bereit, erlernte Konfliktmuster zu reflektieren und andere Handlungsmöglichkeiten zu finden, die sie später auch an die nächsten Generationen vermitteln. Daher kommt der Jugendpädagogik ein besonderer Stellenwert in der Friedensarbeit zu.

Zivilgesellschaft organisieren

Ohne eine Zivilgesellschaft, in der sich die Menschen organisieren und gemeinsam ihre Interessen formulieren, ist eine gewaltlose Konfliktlösung kaum denkbar. Egal, ob sich das zivilgesellschaftliche Engagement gegen staatliche Maßnahmen oder gegen das Verhalten von Konfliktgruppen richtet, Friedensprojekte tragen dazu bei, dass die Bevölkerung in Krisenregionen in Selbsthilfeinitiativen zusammenfindet. Es geht darum, Strukturen aufzubauen, mit denen Defizite des Staates und der Gesellschaft ausgeglichen werden können: Die Menschen sollen ihre Belange selbst aktiv und dennoch gewaltfrei vertreten und durchsetzen können.

Die Rolle von NROs, Gebern und Fachkräften in der Zivilen Konfliktbearbeitung

In der Friedensarbeit ist, vielleicht noch mehr als in anderen Sparten der Bildungs- oder Entwicklungsarbeit, eine klare Rollendefinition der beteiligten Parteien notwendig. Alle an der Studie teilnehmenden Organisationen betonen, dass sie mit ihren Angeboten nur begleitende und unterstützende Funktionen einnehmen wollen. Gleichwohl wissen sie, dass sie die Verantwortlichkeiten und die Initiative der Zielgruppen zur Selbsthilfe (die so genannte »ownership«) übernehmen oder ersetzen können. Jedoch nur wenn die Betroffenen die Inhalte und Ziele der Projekte annehmen und sich mit diesen so weit identifizieren, dass sie selbst aktiv und engagiert handeln, kann die Projektarbeit tatsächlich zu persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen führen. Konkret bedeutet dieser Ansatz, dass Projekte oft eine lange Vorlaufzeit benötigen, in der die Bedürfnisse der Betroffenen wie auch die Hintergründe und Konstellationen im Konflikt genau analysiert werden müssen. Ohne enge Kontakte zu den Zielgruppen entsteht kein Vertrauensverhältnis, das die Basis für tief greifende Veränderungen darstellt.

Im Projektprozess bemühen sich die meisten Organisationen sehr darum, nicht selbst in den Friedensprozess einzugreifen. Als allparteiliche, unterstützende Institution wollen sie helfen und begleiten – ohne die Richtung zu dominieren. Friedensprojekte stellen Strukturen und Ressourcen zur Verfügung, die es den Menschen leichter machen, alternative Handlungsweisen auszuprobieren und sich zu verändern: Sie schaffen ein konstruktives Umfeld, ein »environment for peace«, stärken die positiven Elemente (connectors) im Konflikt und grenzen sich von den negativen Faktoren (dividers oder spoilers) ab. Für die Friedensfachkräfte bedeutet dies auch, sich immer wieder zurücknehmen zu müssen bzw. sich nicht instrumentalisieren oder vereinnahmen zu lassen. Für sie ist es wichtig, ihr Fachwissen und ihre materiellen Ressourcen mit ihren Partnerorganisationen und Teammitgliedern zu teilen, ohne selbst aktiv in den Konflikt einzugreifen. Dies kann eine schwierige Gratwanderung bedeuten, belässt aber auf jeden Fall die Verantwortung, aber auch die Gewinne aus den Transformationsprozessen bei den Betroffenen.

Erkenntnisse dieser Materialsammlung

Die Analyseergebnisse der Fallbeispiele und die vielen Gespräche mit den Aktiven in den Projekten – den Koordinatorinnen und Koordinatoren, Projektleiterinnen und Projektleitern und Fachkräften – lassen sich in fünf Thesen zusammenfassen. Diese zeigen auf, welche Herausforderungen für Friedensarbeit heute bestehen und an welche Bedingungen sie geknüpft sind:

Friedensarbeit braucht Zeit

Die Förderdauer ist, vor allem bei Projekten in Krisenregionen mit jahrzehntelanger Konfliktgeschichte, oft viel zu kurz bemessen. Die Vertrauensbildung und der Aufbau von Arbeitsstrukturen benötigen mitunter Jahre, bis sie tragfähig sind und Wirkung zeigen. Ohne lokale Partnerorganisationen, die mit den Menschen vor Ort lange Zeit zusammengearbeitet haben und ihre Bedürfnisse kennen, ist es noch schwieriger, einen engen und belastbaren Kontakt herzustellen. Hier sind vor allem die staatlichen Geberstrukturen aufgefordert, diesem Bedarf Rechnung zu tragen. Die übliche Förderdauer für Projekte liegt heute bei einem, maximal drei Kalenderjahren. Damit lassen sich weder langfristige Basisarbeit noch intensive Interventionen finanzieren, die notwendig sind, um tatsächlich nachhaltig zu wirken.

Friedensarbeit ist schwer vergleichbar

Der Versuch, Projektarbeit nach ihrer Wirkung zu beurteilen, ist sinnvoll und legitim. Wenn Steuergelder in Millionenhöhe in die Friedensarbeit fließen, sollte dies auf möglichst effiziente und nutzbringende Weise geschehen. Da jedes Projekt individuell auf seinen ganz besonderen Kontext zugeschnitten ist, fällt es schwer, allgemeingültige und vergleichbare Kriterien aufzustellen. Dennoch sollten im Interesse der Qualitätsförderung Wege zur Messung und Bewertung der Projektarten gefördert werden. PCIA (Peace and Conflict Impact Assessment)2 ist ein langsam an Qualität gewinnender Versuch, dieser Notwendigkeit zu entsprechen.

Friedensarbeit muss lernen dürfen

Das relativ abrupte Einsetzen des Zivilen Friedensdienstes 1999, mit einer sehr hohen Anzahl von Projekten innerhalb von nur wenigen Jahren, bedeutet eine sehr kurze Zeit für das Sammeln von Erfahrungen. Internationale Friedensprojekte, aber auch Bildungs- und Gewaltfreiheitsprojekte in Deutschland, brauchen Zeit und Lernanreize, um ihre Methoden weiterentwickeln zu können.

Wir sind es gewohnt, militärische Methoden der »Friedensschaffung« oder »Friedenssicherung« mit Kosten in Milliardenhöhe scheitern zu sehen. Friedensprojekte, die im Vergleich dazu mit nicht einmal einem Prozent der bundesstaatlichen Fördermittel ausgestattet sind, stehen unter einem viel höheren Erfolgsdruck. Dabei leisten gerade sie einen hochgradig spezialisierten und engagierten Beitrag, indem sie auf ständig wechselnde Umweltfaktoren flexibel reagieren und sich ihren Aufgaben mit immensem persönlichem und institutionellem Einsatz verschreiben. Im Sinne der weiteren Qualitätssteigerung der zivilen Konfliktbearbeitung ist hier noch ein langjähriger Erfahrungsaustausch nötig. Die Erfahrungen aus der Projektarbeit, und dies gilt auch für gescheiterte oder nicht vollständig erfolgreiche Projekte, sollten offen und ohne gegenseitige Schuldzuweisungen diskutiert werden. Innerinstitutionelle Lernprozesse, aber auch Netzwerke und gegenseitiger Austausch, unterstützen das Wachstum von Wissen und Sachkompetenz in der Friedensarbeit.

Friedensarbeit muss kohärent sein

Vor allem im Rahmen der internationalen Interventionen fordert die Bundesregierung mit Recht eine »Entwicklungszusammenarbeit aus einem Guss« – ohne Doppelungen oder Lücken im Angebot. Vernetzung ist daher ebenso nötig wie eine ernst gemeinte Zusammenarbeit, in der sich die deutschen und internationalen Organisationen intensiv darüber abstimmen, wo Förderbedarf besteht und wie sie ihre Projektarbeit nutzbringend koordinieren können. Konkurrenzdenken oder schlechte Vorbereitung von Projekten schaden einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur und damit den Betroffenen in den Konfliktregionen. In der internationalen Friedensarbeit hat sich auch die Anbindung an klassische Entwicklungsprogramme bewährt. Statt Friedens- und Ernährungssicherungsprojekte als unabhängige oder gar konkurrierende Ansätze zu verstehen, macht es viel mehr Sinn, Friedensarbeit auch als Querschnittsaufgabe in die konventionelle Entwicklungs- und technische Zusammenarbeit einzubinden. Friedensprojekte können in Konfliktregionen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass weitere Investitionen in Entwicklungsprojekte Erfolg versprechend sind. Umgekehrt ist es sinnvoll, die langjährigen Vertrauensbande, die durch Entwicklungsarbeit entstanden sind, zu nutzen, um mit den gleichen Zielgruppen zusätzlich über Gewaltfreiheit und konstruktive Konfliktlösung ins Gespräch zu kommen.

Auf die Zivilgesellschaft kommt es an

Diese Studie stützt sich auf die Beobachtung, dass es in der Friedensarbeit immer stärker um Bildungsarbeit, Förderung von Nichtregierungsorganisationen und deren Vernetzung geht, wobei gerade die NRO in Krisenregionen einen Gegenpol zu versagender oder zu totalitärer staatlicher Macht darstellen. Das schließt Projekte, die gezielt Regierungen fördern, nicht aus, insofern die NRO diese auch dazu ermutigen, mehr Zivilgesellschaft zuzulassen.

Es wird mit wachsender Erfahrung immer deutlicher, dass in der Friedensarbeit nachhaltige Erfolge dort erzielt werden, wo die Bereitschaft zu Dialog und gegenseitiger Akzeptanz unmittelbar in der Bevölkerung verankert ist. Erst wenn auch das Wissen über gewaltfreie Wege der Konfliktlösung allgemein verbreitet ist, kann Frieden Teil des Alltags werden. Denn eine Gesellschaft, in der die Interessen der Menschen durch selbst gebildete Organisationen, Medien, Vereine oder Interessengruppen vertreten werden, kann auf gewaltsame Mittel zu deren Durchsetzung verzichten. Der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen, innerhalb derer die einzelnen Akteure darin geschult sind, ihre Anliegen konstruktiv und erfolgreich zu vertreten, scheint der Schlüssel für eine nachhaltige Friedensarbeit zu sein.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu http://www.ifa.de/foerderprogramme/zivik sowie den Artikel von Rainer Nolte, »Muss Subsidiarität sein? Optionen der staatlich-zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit« in dieser Ausgabe von W&F.

2) Siehe z.B. den Ansatz von Thania Paffenholz und Luc Reychler oder die »Methodical Guidelines for Peace and Conflict Impact Assessment« der Friedrich- Ebert-Stiftung unter www.Frient.de/downloads/PCIAGuidelines.pdf, 9.11.2009.

Dr. Ilona Auer-Frege ist Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/4 Konflikte zivil bearbeiten, Seite 32–36