W&F 2020/3

Welt im Aufruhr

Krankheitssymptome der Globalisierung

von Jürgen Scheffran

Die beschleunigte Globalisierung schafft Reichtum für eine wachsende Erdbevölkerung, stößt aber an planetare Grenzen, die zu Krisensymptomen in Natur und Gesellschaft führen. Durch das absehbare Ende des fossilen Kapitalismus, Machtverschiebungen im Nord-Süd-Verhältnis und den Einfluss von sozialen Netzwerken erfährt die neoliberale Weltordnung Aufruhr und Kontrollverlust. Anzeichen für den Umbruch sind Umweltzerstörungen und Krankheiten, zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte, Terrorismus und Massenproteste. Das Überschreiten von Kipppunkten kann katastrophale Folgen mit sich bringen, aber auch Transformationsprozesse anstoßen, die Widerstandskräfte stärken und einen Übergang vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit ermöglichen.

Durch die expansive Globalisierung konnten die westlich geprägten Industriestaaten eine ökonomische Dominanz entwickeln und eine hohe Anziehungskraft ausüben, die durch allgemeine Werte (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Wohlstand, Toleranz, Menschenrechte und Gewaltfreiheit) untermauert wird. Die Akkumulation von Reichtum durch wenige auf Kosten vieler, die daran kaum teilhaben oder die negativen Folgen tragen, steht gleichzeitig im Widerspruch zum propagierten Wertesystem und provoziert Widerstände und Konflikte (Scheffran 2015).

Eine Folge der Ausbeutung von Mensch und Natur in der Geschichte waren Krankheit und Tod. In Zeiten des Kolonialismus verbreiteten die Eroberer und Siedler in der »Neuen Welt« Seuchen, die mehr Menschen töteten als Waffengewalt. Sie schwächten dort die Gesellschaften und ermöglichten so die europäische Expansion (Zimmerer 2020a). In der Industriellen Revolution wurde das Elend der Armen von Thomas Malthus als Element der Bevölkerungsbegrenzung gerechtfertigt, um knappe Ressourcen zu schonen. Für angesehene Wissenschaftler, wie Robert Koch, war Afrika noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Experimentierfeld, um Erkenntnisse über die Bekämpfung von Krankheiten zu gewinnen, ohne Rücksicht auf seine menschlichen Versuchsobjekte (Zimmerer 2020b). Der Wohlstand Europas und des Westens ging auf Kosten des Rests der Welt, und in vieler Hinsicht gilt dies bis heute. Zwar trafen Krankheiten und Seuchen auch wohlhabende Schichten, doch hatten sie meist bessere Schutzmöglichkeiten als weniger wohlhabende. Dies gilt auch in der COVID-19-Pandemie, die zwar die Verwundbarkeit des Globalen Nordens demonstriert (Beispiel USA), aber die Schwächsten am stärksten trifft.

Liberale Weltordnung unter Druck

Konnten die Folgen der Expansion bislang weitgehend an die Peripherien verlagert werden, so wirken mit Erreichen ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Grenzen des Wachstums die Konsequenzen zunehmend auf die Zentren zurück. Dies zeigt sich an den seit der Jahrtausendwende zunehmenden Krisenerscheinungen, allen Versuchen zum Trotz, diese unter Kontrolle zu bekommen. Drei wesentliche Trends sind eine Herausforderung für die liberale Weltordnung:

1. Wurde die industrielle Revolution maßgeblich durch fossile Energieträger befeuert, so werden heute die Grenzen des fossilen Kapitalismus sichtbar. Während billiges Öl und Erdgas weitgehend aufgebraucht sind, werden zunehmend sekundäre Quellen (Offshore, Fracking, Ölsande) mit höheren Kosten und Risiken erschlossen. Aufgrund des Klimawandels steht die Atmosphäre als Kohlenstoff-Deponie nicht mehr zur Verfügung, Widerstände nehmen ebenso zu wie alternative Energieträger, die den fossilen Kapitalismus unter Druck setzen.

2. Demokratisierung und Einflussmöglichkeiten des Globalen Südens schränken dort die weitere Ausbeutung von Mensch und Ressourcen durch den Globalen Norden ein. Hinzu kommt die demographische Entwicklung, derzufolge bisherige Industriestaaten bald nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung ausmachen. Dies zeigt das bevölkerungsreiche China, das vom billigen Produktions­standort und Absatzmarkt zum größten Konkurrenten für den westlichen Kapitalismus avanciert und als strategischer Akteur im Nord-Süd-Verhältnis agiert. Dies macht es schwieriger, die Bevölkerung im Globalen Norden mittels Arbeitsplätzen und billigem Massenkonsum zufriedenzustellen, was sozialen Sprengstoff birgt.

3. Verbunden über soziale Netzwerke meldet sich die Zivilgesellschaft weltweit zu Wort und wird zu einem Faktor, der öffentliche Debatten und politische Entscheidungen beeinflusst. Die Demokratie wird um partizipative Elemente erweitert. Zahlreiche Bewegungen nutzen soziale Medien und Technologien für ihre Zwecke. Der Unmut bricht sich Bahn, gegen versagende Regime, Umweltzerstörung, Krieg, Rassismus und Ausbeutung, für und wider Nationalismus. Innere und äußere Konflikte schaukeln sich auf.

Hätte jeder dieser Trends das Potential zum Epochenwandel, so gilt dies umso mehr für ihre Kombination. In der Geschichte gab es ähnliche Konstel­lationen, die bestehende Ordnungen erschütterten und revolutionäre Umbrüche auslösten, nach der französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder im Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch heute erleben wir eine Welt im Aufruhr. Wie vor hundert Jahren werden die zwanziger Jahre zeigen, ob das alte System (dafür steht Donald Trump) die Welt in eine große Katastrophe stürzt oder ob sich intelligentere Alternativen durchsetzen. Dies hängt auch davon ab, ob es zu sprunghaften Katastrophen kommt: Wirtschafts-Crash, Klimakollaps, Atomkrieg oder verheerende Pandemien.

Zwischen planetaren Grenzen und Systemkollaps

Je mehr die Menschheit planetare Belastungsgrenzen überschreitet, desto mehr ähnelt die Erde einem Patienten auf der Intensivstation. Das Gesundheitswesen bietet Parallelen, aber durchaus auch Rezepte, wie dem kranken Planeten zu helfen ist.

Krankheiten beeinträchtigen die körperliche Leistungsfähigkeit durch Funktionsstörungen von Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus. Kranksein wird gemeinhin mit Schwäche und Gebrechen gleich gesetzt und äußert sich durch Symptome, die zu Beschwerden führen. Ein Syndrom ist ein typisches Krankheitsbild, das mehrere Symptome kombiniert. Die Diagnose beurteilt eine Krankheit aufgrund der in einer Untersuchung erhobenen Befunde. Daraus wird die Therapie abgeleitet, um Beschwerden zu lindern und Krankheiten zu heilen.

Medizinische Begriffe fanden Eingang in die Umweltforschung. Ein Beispiel ist das in den 1990er Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 1996) entwickelte Syndromkonzept, das typische planetare Krankheitsbilder und Kausalbeziehungen bestimmt und analysiert, um Fehlentwicklungen aufzeigen und bewältigen zu können. Etwa 80 Symptome werden in neun Sphären von Natur und Gesellschaft unterteilt, um daraus 16 Syndrome abzuleiten, benannt nach einem jeweils typischen Begriff: Sahel, ökologischer Raubbau, Landflucht, Dust-Bowl, Rohstoffausbeutung, Massentourismus, militärische Umweltschäden, Aralsee, Grüne Revolution, rasches Wirtschaftswachstum, geplante oder ungeregelte Urbanisierung sowie technische Havarien, Schadstoffemissionen, Müllkippen und Altlasten. Aus der Diagnose der Syndrome ergibt sich, wie katastrophale Entwicklungen durch geeignete Therapien eingedämmt werden können.

Das Leitplanken-Konzept untersucht die Einhaltung planetarer Grenzen, etwa des Temperaturziels der Klimapolitik. Grenzen engen ein, schützen aber auch. Ihre Überwindung bietet Chancen und Freiheiten, schafft aber auch Risiken und Überraschungen. Wenn ein Fahrzeug mit voller Geschwindigkeit in eine Mauer rast, können Fahrzeug und Mauer zerstört werden, aber auch das Leben der Insassen. Wer über eine Klippe springt und sich im freien Fall der Gravitationskraft aussetzt, riskiert sein Leben. Und wer in einer Pandemie die Wohnung verlässt und auf die Schutzmaske verzichtet, schafft ein erhöhtes Infektionsrisiko und trägt zur weltweiten Ausbreitung bei. Nationale Grenzen schränken unkontrol­lierte Grenzübertritte ein; Grenzwerte für Umweltgifte sollen Körper und Umwelt schützen.

Aufgrund von Unsicherheiten in komplexen Systemen sind Grenzwerte oft nicht exakt bestimmbar, sodass Sicherheitsabstände einzuhalten sind, die Raum zum Handeln lassen. Bei Überschreiten von Kipppunkten können abrupte und irreversible Kaskaden und Dominoeffekte ebenso ausgelöst werden wie exponentielles Wachstum, Chaos und Systemkollaps. Beim exponentiellen Wachstum kann eine kleine Abweichung zu explosivem Wachstum oder Zerfall führen, wie bei der Pandemie und anderen Erkrankungen, die ab einer Schwelle zum Tode führen (z.B. Krebs oder hohes Fieber), darunter aber eine Genesung erlauben, wenn das Immunsystem die Oberhand gewinnt. Die Menschheit konnte in ihrer Geschichte bei hoher Geburtenrate ihre Sterberate soweit verringern, dass eine exponentielle Bevölkerungszunahme erfolgte. Bei Erreichen planetarer Grenzen kann ein Gleichgewicht durch Begrenzung von Zuwachs oder durch Zerfall erreicht werden. Mehr Zerfallserscheinungen könnten die Lebensbedingungen auf der Erde weiter gefährden und gesellschaftliche Kippdynamiken auslösen, wie Kriege, Revolutionen oder den Zusammenbruch politischer Regime.

Natürliche Krisensymptome

Neun planetare Belastungsgrenzen wurden ausgemacht, in den Feldern Arten­sterben, Stickstoff/Phosphor-Kreislauf, Abholzung und Landnutzung, Ozeanversauerung, Klimakrise sowie Ozonloch, Süßwasserverbrauch, atmosphärische Verschmutzung und Freisetzung neuer Stoffe (Steffen et al. 2015). Im sechsten »Global Environment Outlook« unter dem Titel »Healthy Planet, Healthy People« wird 2019 konstatiert, dass Gesundheit und Wohlstand direkt mit der Umwelt verbunden sind. Global können jährlich etwa ein Viertel aller Todesfälle und wirtschaftliche Verluste von 4,6 Bio. US$ (6,2 % der Produktion) auf beeinflussbare Umweltfaktoren und -schäden zurückgeführt werden (UNEP 2019, S. 9/588). Die durch Einhaltung der Klimaziele eingesparten Gesundheitskosten lägen noch deutlich darüber. Bei einer Bevölkerung von zehn Mrd. Menschen bis 2100 nehmen die Umweltbelastungen zu, wenn Produktions- und Konsummuster nicht radikal geändert werden.

Die meisten Todesfälle und Krankheiten gibt es durch Luftverschmutzung, etwa neun Mio. oder 16 % aller 2015 Verstorbenen (UNEP 2019, S. 10). Wachsende CO2-Emissionen und Megastädte bringen vielfältige gesundheitliche Belastungen mit sich. Noch schlechter steht es um die Biodiversität. Je nach Lebensraum sind 25-42 % der Wirbellosen-Arten bedroht, darunter viele Insekten (UNEP 2019, S. 154). Wenn nichts geschieht, ist mit hohen Schäden zu rechnen, z.B. durch invasive Arten, Zoonosen zwischen Tieren und Menschen, Verlust von Ökosystemleistungen. Die fehlende Bienen-Bestäubung beeinträchtigt die Versorgung mit Nahrungsmitteln und pflanzlichen Medikamenten. Arme sind besonders stark betroffen.

Schäden an Land und Böden gefährden die Ernährungssicherheit zusätzlich. Weltweit werden degradierte Landflächen auf 29 % geschätzt, wodurch 3,2 Mrd. Menschen betroffen sind (UNEP 2019, S. 203). Das in Flüssen, Seen und Feuchtgebieten verfügbare Süßwasser und die zugehörigen Ökosysteme nehmen weltweit stark ab; fast die Hälfte aller Feuchtgebiete ist bereits verloren. Durch Wasserverschmutzung mit Plastik, Antibiotika, Pestiziden, Schwermetallen und anderen Chemikalien sinkt die Qualität von Süßwasser; etwa 1,4 Mio. Menschen sterben jährlich daran (UNEP 2019, S. 236). Antibiotika-Resistenzen verbreiten sich über Landwirtschaft, Aquakulturen und Abwasser. Besorgniserregend ist auch der Zustand der Ökosysteme in Ozeanen und an Küsten, u.a. durch Erderwärmung, Versauerung und Überfischung, Übernutzung und Verschmutzung. Weltweit benötigen 3,1 Mrd. Menschen Fisch für ihre Proteinversorgung, viele Bestände sind bereits überfischt. Die Korallenbleiche betrifft rund 70 % aller Korallenriffe weltweit und hat vermutlich einen Kipppunkt erreicht. Jährlich gelangen rund acht Mio. Tonnen Kunststoff in die Meere (UNEP 2019).

Eine Folge der Umweltzerstörung sind soziale Instabilitäten und Konflikte. Dies gilt besonders für den Klimawandel als Stressfaktor, der das Konfliktrisiko dort steigert, wo die Lebensbedingungen schlecht und institutionelle Strukturen fragil sind (Friedensgutachten 2020, S. 7). Entsprechendes lässt sich über Ressourcenkonflikte sagen, wobei Konflikte um das Artensterben noch wenig untersucht sind (Scheffran 2018). Das Jahr 2020 brachte destabilisierende Entwicklungen mit exponentieller Kaskadendynamik, wie die Busch- und Waldbrände in Australien, mit dem Tod von mehr als einer Milliarde Tieren, und die Heuschreckenschwärme in Ostafrika und Südasien, die Ernten gefährden.

Besonders schwerwiegend ist die aus einer Zoonose entstandene COVID-19-Pandemie, die ungeahnte Ressourcen verschlingt, politische Interventionen und sozioökonomische Verwerfungen auslöst, Gewaltkonflikte und humanitäre Notlagen verschärft (Friedensgutachten 2020, S. 5).

Gesellschaftliche Krisensymptome

Durch die Beschleunigung weltumspannender Ströme von Gütern, Kapital, Finanzen, Technologie und Kommunikation geraten soziale und politische Systeme aus den Fugen. Im Raubtier-Kapitalismus bestehen nur die Stärksten, während viele Menschen durch geringe Löhne und Arbeitsplatzangebote vom Wohlstand ausgeschlossen sind. Krisen verschärfen die gesellschaftliche Spaltung und schaffen ein Heer der Unzufriedenen, das durch populistische und autokratische Strömungen und Regierungen mobilisierbar ist. Die Überwindung sozialer Ungleichheit scheitert an den ökonomischen Machtverhältnissen, die durch demokratische Strukturen nicht hinreichend kontrolliert werden. Mit der Finanzkrise 2008 begann eine Kette von Krisen, die Bruchlinien im Internationalen System offenbarte. Die außer Kontrolle geratene Globalisierung verstärkt zwischenstaatliche Machtkämpfe und Konfliktpotentiale, terroristische Gewaltstrukturen und gesellschaftliche Widerstände.

Zwischenstaatliche Machtkämpfe und Gewaltkonflikte

Beim Übergang vom bipolaren Ost-West-Konflikt über eine unipolare in eine multipolare Welt entstanden neue Machtkämpfe und Gewaltkonflikte. Hierzu gehörten bewaffnete Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien und der zerfallenen Sowjetunion, die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie die Gewaltereignisse und Terroranschläge in Nahost und in Nordafrika. Durch den Arabischen Frühling wurden Kaskaden ausgelöst, die im Mittelmeerraum Konflikte und Fluchtbewegungen zwischen Afrika, Asien und Europa miteinander verknüpften.

Dem Friedensgutachten 2020 zufolge dominieren Rivalitäten das Weltgeschehen und schwächen internationale Normen und Institutionen. Während die USA unter Trump mit »America First« weiter auf Hegemonie setzen und internationale Institutionen untergraben, versucht China, die internationale Ordnung zu seinen Gunsten umzugestalten und seinen weltpolitischen Einfluss auszuweiten. Mit der »Neuen Seidenstraße« zu Land und zur See entsteht ein Netzwerk von Infrastrukturen und Märkten von Ostasien bis nach Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien wird China zum wirtschaftlichen Herausforderer Europas und der USA. Militärisch bereitet sich China auf internationale Auseinandersetzungen vor, besonders im Südchinesischen Meer. Der von den USA forcierte Handelskrieg kann ebenso zum Brandbeschleuniger werden wie der Streit um Hongkong und Taiwan oder die Vorwürfe in der Corona-Krise. Russland forciert Großmachtansprüche, vom Ukraine- und Krim-Konflikt über Syrien, Libyen und Iran bis in die Arktis. In diesem Dreieckverhältnis eines neuen »Kalten Krieges« steht das durch den Brexit geschwächte Europa, das über die NATO in den Aufrüstungskurs hineingezogen wird.

Weltweit stiegen die Rüstungsausgaben 2019 auf einen neuen Höchststand von 1.600 Mrd. Euro, real fast 20 % über dem höchsten Niveau des Kalten Krieges. Die G20-Staaten sind für 82 % der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Während die russischen Militärausgaben von 2016 bis 2019 um mehr als 20 % zurückgingen, übersteigen die Militärausgaben der NATO die Russlands um fast das 16-fache. Die deutschen Militärausgaben stiegen 2019 um 12 % auf 47,9 Mrd. Euro. Der internationale Handel mit Großwaffen 2015-2019 wuchs gegenüber 2010-2014 um 5,5 %, deutsche Waffenexporte gar um 17 % (Friedensgutachten 2020, S. 98).

An der Spitze steht das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und Russland, die neue Nuklearwaffen entwickeln und Rüstungskontrollabkommen beenden. Trump droht gar die Wiederaufnahme von Atomwaffentests an. Zudem schreitet die Militarisierung, ja Bewaffnung des Weltraums voran, nachdem Russland, China und die USA »Weltraumstreitkräfte« geschaffen haben und weitere Staaten, wie Indien, ebenfalls Raketen und Satelliten im All zerstören können. Auch hier ist die Rüstungskontrolle in der Sackgasse. Die Militarisierung erstreckt sich auf neue Bereiche, wie den Cyberraum, in dem eine zivil-militärische Abgrenzung schwer möglich ist. Kaum erkennbar ist die Grenze zwischen Krieg und Frieden in »hybriden Kriegen« mit Drohnen, Attacken über das Internet und auf zivile Infrastrukturen oder Fake News und Hate Speech in sozialen Medien. Die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien fallen auf ihre Urheber zurück.

Terrorismus und Rechtsextremismus

Internationale und transnationale Gewalt ist mit innergesellschaftlichen Gewaltdynamiken und Terrorismus verbunden. Während nach dem Arabischen Frühling die Zahl der Terroranschläge und ihrer Opfer deutlich anstiegen, nahmen jüngst die Zahlen ab. 2018 starben bei mehr als 9.600 Anschlägen weltweit 15.952 Menschen, 2017 waren es noch 17.284 (Friedensgutachten 2020, S. 142). Der weitaus größte Teil geht auf den islamistischen Terrorismus in instabilen Staaten oder Bürgerkriegsregionen zurück.

Parallel zur Rückkehr des Nationalismus hat in westlichen Demokratien Rechtsextremismus zugenommen. Über die strategische Nutzung sozialer Medien und internationale Vernetzung nehmen Rechtsextreme auf politische Entscheidungen Einfluss (Beispiel Trump-Wahl). Sie agieren gegen internationale Kooperation mit Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit. Durch rechtsterroristische Angriffe starben 2018 mindestens 26 Menschen; 2019 waren es bis zum Herbst schon 84, vor allem in Neuseeland (Friedensgutachten 2020). In Europa hat Deutschland die meisten Fälle rechtsextremer Gewalt, darunter Angriffe auf Minderheiten und Politiker*innen.

Soziale Bewegungen und Massenproteste

Das Jahr 2019 war weltweit durch Massenproteste geprägt und beendete ein Jahrzehnt zahlreicher Protestbewegungen. Schon 2011 breitete sich eine Welle von Anti-Regime-Protesten über die arabische Welt aus, ebenso von transnationalen Protesten, wie der Occupy-Bewegung. 2019 gab es in 45 Ländern 65 Fälle einer Massenmobilisierung mit mindestens 50.000 Menschen, davon 48 Proteste in Demokratien: „Beispiele sind die Massenproteste in Chile, Ecuador, Indonesien und Kolumbien, die 2018 entstandene Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die Proteste im Rahmen des Brexits in Großbritannien, Arbeiterproteste in Tunesien oder die Klimaproteste in zahlreichen Ländern.“ (Friedensgutachten 2020, S 74) Hinzu kamen Proteste in Russland, Sudan oder Iran. Die Protestziele betrafen grob sieben Kategorien: 21 gegen Regierungen, fünf gegen hohe Lebenshaltungskosten, fünf für Arbeitsrechte, acht für/gegen Nationalismus/Unabhängigkeit, sechs für Frauenrechte, 14 für Klimaschutz und sechs mit anderen spezifischen Zielen.

Proteste setzten sich auch im Jahr 2020 fort und kulminierten in der Massenbewegung gegen Rassismus und Diskriminierung »Black Lives Matter« in den USA, trotz oder wegen der Pandemie, die politische Aktionen auslösen, aber auch erschweren kann. Proteste gegen Probleme können ihrerseits Krisensymptome sein, wenn Betroffene und Unzufriedene sich zur Wehr setzen, so wie die Immunabwehr gegen Krankheitsursachen. Fraglich ist, ob sie zur Problemlösung beitragen oder zur Problemverschärfung.

Vom kranken Planeten zur planetaren Gesundheit

Die Krisensymptome der Globalisierung zeigen die Erschütterungen der neoliberalen Weltordnung. Eine geeignete Therapie erfordert eine Diagnose der Ursachen, wird jedoch von den Verantwortlichen kaum durchgeführt. Tabudenken bestärkt die Annahme, für die Krisen sei nicht der Westen verantwortlich, der 1989 den Sieg im Kalten Krieg errungen und damit angeblich das »Ende der Geschichte« erreicht hatte. Zu dieser Fehleinschätzung passt eine selbst zugewiesene Opferrolle, ohne die eigene Verantwortlichkeit anzuerkennen. Stattdessen werden die Symptome bekämpft – durch Abschottung, Abgrenzung und Interventionismus. Dabei ist die Rückkehr zur Kleinstaaterei ebenso wenig eine Alternative wie militärische Interventionen.

Während die Welt im Schüttelfrost gefangen scheint, wird fieberhaft nach Lösungen gesucht. Um einen Wandel zu einer nachhaltigen, friedlichen und gerechten Welt herbeizuführen, spielen Protestbewegungen eine Rolle, wie auch Wissenschaft, Technik und Medizin. Ausschlaggebend ist, ob Innovationen die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern und einen Ausgleich mit der Natur im gemeinsamen Haus der Erde ermöglichen.

Als Bezugsrahmen zur Bewahrung des Lebens auf der Erde können Konzepte einer Gesundheit dienen, die mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit (so wie Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg ist). Im positiven Sinne geht es um das Wohlbefinden von Menschen und die Befriedigung von Grundbedürfnissen, im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten, Zielen und Lebensbedingungen. Ein Maßstab ist die physische, psychische und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit. Um eine weitere Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen zu vermeiden, ist eine engere Verknüpfung von Umwelt und Gesundheit hilfreich, die eine Balance von Erhaltung und Entfaltung des Lebens gegen Wachstum, Macht und Gewalt ermöglicht (Scheffran 1996).

Dabei können Konzepte einer »Viable World« helfen, den Planeten innerhalb seiner Grenzen für alle Menschen lebensfähig und lebenswert zu gestalten. Dazu gehört die Immunisierung gegen globale Erkrankungen durch vier Therapien: ökologischer Fußabdruck in planetarischen Grenzen, erneuerbare Energien für alle, sauberer Wohlstand für alle und Kohabitation der Nationalstaaten (Knies 2017).

Literatur

Friedensgutachten (2020): Im Schatten der Pandemie – letzte Chance für Europa. Friedensgutachten 2020. Herausgegeben von Bonn International Center for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Bielefeld: transcript.

Knies G. (2017): COHAB-Zusammenarbeitsmodell der Nationalstaaten. In: Weizsäcker E.U., Wijkman A. (Hrsg.): Wir sind dran – Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Bericht an den Club of Rome. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 354 ff.

Scheffran J. (1996): Leben bewahren gegen Wachstum, Macht, Gewalt – Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung. W&F 3/1996, S. 5-9.

Scheffran J. (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden. FIfF-Kommunikation, Nr. 3/2015, S. 34-38.

Scheffran J. (2018): Biodiversity and Conflict. Supplementary Contribution to: IPBES, Global Assessment on Biodiversity and Ecosystem Services. March 5, 2018.

Steffen W. et al. (2015): Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. PNAS (Proceed­ings of the National Academy of Sciences of the United States), Vol. 115, Nr. 33, S. 8252-8259.

United Nations Environment Programme/UNEP (2019): Global Environment Outlook (GEO-6) – Healthy Planet, Healthy People. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Teilübersetzung durch das Umweltbundesamt.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen/WBGU (1996): Welt im Wandel – Herausforderungen für die deutsche Wissenschaft. Jahresgutachten 1996. Berlin: Springer.

Zimmerer J. (2020a): Viren standen am Anfang der Globalisierung. Der Tagesspiegel, 31.3.2020.

Zimmerer J. (2020b): Robert Koch – Der berühmte Forscher und die Menschenexperimente. DER SPIEGEL, 27.5.2020.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-­Redaktion.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 6–10