BICC, HSFK, IFSH, INEF (Hrsg.) (2024): Welt ohne Kompass. Friedensgutachten 2024. Bielefeld: transcript, ISBN 978-3-8376-7421-7, 156 S., 15 € (print)/ Open Access (digital).
Die »regionalen« Schwerpunkte des diesjährigen Friedensgutachtens der „führenden deutschen Friedensforschungsinstitute“ liegen tagespolitisch gesehen auf der Hand: Die Kriege im Osten (Ukraine/Russland), in Nahost (Israel/Palästina) und der neu aufgebrochene Krisenherd in Westafrika bzw. in der Sahelzone. Auf valider Grundlage werden die jeweiligen Konfliktkonstellationen und deren Geschichte herausgearbeitet. Den daraus folgenden Empfehlungen für die deutsche Politik kann man überwiegend folgen.
Ein Punkt des Gutachtens sei herausgehoben: Die klare Haltung der Institute gegen eine neue nukleare Bewaffnung der Europäischen Union (oder gar Deutschlands). Warum diese Debatte ohne Substanz und nachgerade gefährlich ist, wird sehr präzise argumentiert.
Es ist zudem gut, dass sich das Gutachten in diesem Jahr zwei besonderen Problematiken zuwendet:
- 1. Wie kann der Aufstieg rechtsextremer Gruppen und Ideologien und die davon ausgehende Gefährdung demokratisch verfasster Gesellschaften bzw. Staaten verhindert werden? Diese Rechtsdrift abzuwehren, die ja mit der Zunahme gewaltaffinen Denkens, mit gesellschaftlichen Polarisierungen und nach außen gerichteten Machtphantasien verbunden ist, stellt neue Anforderungen an politische Akteure, an die Politische Bildung, an die Medien etc.
- 2. Wie können gewaltförmige Konflikte auf dem Verhandlungsweg gelöst bzw. auf zivilen Konfliktaustrag transformiert werden? Damit wird die recht kontrovers geführte Debatte über Auswege aus dem zwischenstaatlichen Krieg in der Ukraine aufgegriffen. Das Friedensgutachten liefert aber nur Anhaltspunkte, wie es gelingen könnte.
Insgesamt kann man konstatieren, dass das Friedensgutachten wieder neben nützlichen Analysen eine ganze Palette an konstruktiven Vorschlägen beinhaltet. Es gehört damit zweifelsfrei in die Hände von politischen Praktikern, Medienvertreter*innen und Aktiven der verschiedenen Bürgerbewegungen. Doch bietet es auch genügend friedenspolitische Substanz auf?
Der Grundgedanke des Friedensgutachtens 2024 lautet: „Die Welt ist ohne Kompass.“ Die Analyse der Institute dazu: Multilaterale Institutionen, nicht zuletzt die UNO, sind zunehmend marginalisiert worden, knallharte Interessenwahrung mächtiger Einzelstaaten ist an deren Stelle getreten. Gewaltförmige Konflikte in nahezu allen Erdteilen nehmen zu. Die Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen sind beinahe vollständig erodiert. Die Kräfte, die auf autoritäre, rückwärtsgewandte »Krisenlösungen« setzen, scheinen auf dem Vormarsch. Zu Recht weisen die Friedensforschungsinstitute darauf hin, dass die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens global bedroht sind, weil die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) immer unrealistischer wird. Dagegen setzt die Friedensforschung auf die übergreifenden Orientierungspunkte: Völkerrecht und internationale Gerichtsbarkeit; Einhegung von Rivalität und Rüstungskontrolle; Vorbereitung von Verhandlungen und Sicherheitsgarantien.
Das ist zweifelsfrei richtig, reicht aber nicht. Gerade das Nachdenken über Alternativen lenkt den Blick auf Schwachstellen der etablierten Friedensforschung, die ich mit den Attributen »zu pragmatisch« und »zu brav« charakterisieren würde. Dass die Institute in den Friedensgutachten vor allzu »schroffer« Kritik an den »westlich« geprägten Institutionen zurückschrecken, ist keine neue Erkenntnis. Dass sie auch weiter als Beratungsadresse anerkannt bleiben wollen, kann man gut verstehen – auch wenn diese Rechnung meist nicht aufgeht.
Die Verfasser*innen schreiben: „Zukunftsweisende Ideen für die politische Gestaltung einer neuen globalen Ära sind rar. Angesichts der multiplen Krisen unserer Zeit benötigt die globale Politik neue, pragmatische Orientierungspunkte.“ (S. 5)
Ja, die Komplexität der Konfliktkonstellationen lässt es ratsam erscheinen, einen pragmatischen Ansatz zu wählen. Auch die beträchtlichen Widerstände gegen die gebotenen Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft müssen mitbedacht werden. Aber der tiefgreifende Krisenbefund legt zugleich nahe, grundlegender über Entwicklungsperspektiven der Menschheit nachzudenken. Wie können Wohlstand und Glück vor dem Hintergrund drohender Klimakatastrophen global und lokal neu definiert werden? Wie kann die Universalität der Menschenrechte mit der Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen auf dem Planeten zusammengehen? Welcher Paradigmenwechsel wird nötig sein, um Gerechtigkeit auch global herzustellen?
Zugleich sehr praktisch: Welche Strukturreformen (IWF, Weltbank etc.) werden nötig sein, um eine andere Ressourcenpolitik angehen zu können? Wie kann mit der Utopie der Gewaltfreiheit, die für künftiges Zusammenleben auf dem Planeten essentiell ist, schon heute begonnen werden? Wie könnte eine kooperative – konkurrierend und kritisch zugleich – Politik gegenüber China, Indien und anderen »emerging states« aussehen? Diese Fragenkomplexe müssten im Kontext der sich herausbildenden multipolaren Welt neu durchbuchstabiert werden. Die Antworten werden nur in interdisziplinären Projekten gefunden werden. Es wäre jedoch gut, wenn es solche neuen Denk- und Debattenanstöße – pragmatisch und radikal – aus der Friedenswissenschaft – und ganz konkret im Friedensgutachten – gäbe.
Immerhin haben sich die Autor*innen in puncto Nahostkonflikt aus der Reserve gewagt: „Die Bundesregierung hat mit ihrer Haltung gerade in den ersten Monaten nach dem 7. Oktober Zweifel geweckt, ob sie mit dem notwendigen Nachdruck – auch im Sinne einer Universalität der Menschenrechte – für die Belange der palästinensischen Bevölkerung eintritt, die in Gaza in extremer Weise Zerstörung, Vertreibung, Tod und Hunger ausgesetzt ist.“ (S. 6) Der Vertrauensverlust westlicher Politik im »Rest der Welt« ist in der Tat dramatisch und ein konsequenteres Verhalten überfällig. Die Empfehlung des Gutachtens, Waffenlieferungen an Israel zu begrenzen und auf den Prüfstand zu stellen, ist daher folgerichtig.
Eine gewisse Ratlosigkeit ist dem Gutachten in puncto Westafrika anzumerken. Was folgt daraus, dass man sich in der Zusammenarbeit auf den Sicherheitssektor verlegt hatte, und wir jetzt mit der Rückkehr der Militärputsche in dieser Region zu tun haben? Was folgt daraus, dass Westmächte wie Frankreich, die USA, aber auch die EU dort dramatisch an Einfluss verlieren, während autoritäre Regime – besonders Russland – beträchtliche »Geländegewinne« erzielen? Nur rücksichtsvollere Diplomatie anzumahnen, wird nicht ausreichen. Die Stärkung lokaler Gemeinschaften in der Entwicklungszusammenarbeit zu fordern, ist löblich. Aber wir sollten schon über kapitalistisch begründete Wirtschaftsstrategien reden, mit denen Entwicklungs-, Umweltschutz- und gesellschaftliche Partizipationsprozesse in diesen »post-kolonialen« Regionen seit Jahrzehnten blockiert werden. Und man hätte sich auch deutlichere Worte zur Migrationspolitik der »westlichen« Staaten, insbesondere der EU gewünscht, denen zur Krisenbewältigung und zu eigenem Machterhalt nicht viel anderes als verschärfte Abwehr und Grenzziehung einfällt.
Mehr Traute wäre auch im engeren Bereich der Friedenspolitik angemessen. Ja, es liegt nahe unter dem Vorzeichen der Zeitenwende sehr kleine Brötchen zu backen. Ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine ist nicht absehbar; die Weichen in Richtung militärisch gestützter Abschreckung gegenüber Russland sind gestellt. Aber reicht es aus, solche Sätze aufzuschreiben wie: „… wird es auf absehbare Zeit nicht um Abrüstung gehen, sondern innenpolitisch um die Konsolidierung dieser höheren Rüstungsausgaben, außenpolitisch um die Stabilisierung in Zeiten zunehmend konfrontativer Sicherheitspolitik.“ (S. 9) Was heißt »Konsolidierung«, was »Stabilisierung«? Wäre es nicht angebracht, das auf bloßes Aufrüsten und Konfrontation gerichtete Denken, das die vorherrschende Politik zu prägen scheint, deutlich zu kritisieren? Wäre es nicht unabdingbar, innerhalb des vermeintlichen Sicherheitskonsens der westlichen Allianz Fragen nach der Plausibilität und Sinnhaftigkeit der neuen Aufrüstung aufzuwerfen: Warum braucht die Nordatlantische Allianz einen exorbitanten Rüstungsschub, wenn sie doch dem »Gegner« Russland ein Vielfaches überlegen ist? Wie kann eine rationale, effiziente Antwort auf die tatsächlich zu konstatierende »Kriegsmobilisierung« Russlands aussehen, die aber auch Möglichkeiten der Rüstungskontrolle und der Vertrauensbildung einbezieht? Schließlich gilt es, mit dem Denken über den schlimmen Status quo hinaus, schon heute zu beginnen und praktikable Vorschläge zu präsentieren. Friedenspolitisch weiter denken – über den sicherheitspolitischen Mainstream hinaus – sollte der Anspruch sein, an dem künftige Friedensgutachten gemessen werden sollten.
Paul Schäfer ist Mitglied der Redaktion von W&F, Publizist und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Partei DIE LINKE.