Weltfrieden durch ein Weltethos?
Frieden mit friedlichen Mitteln!
von Albert Fuchs
Dem friedensethisch und friedenspolitisch motivierten »Projekt Weltethos« des Tübinger Theologen Hans Küng liegt ein vergleichsweise einfaches Rationale zugrunde: Durch interkulturellen und interreligiösen Dialog zu einem globalen Ethos, durch ein globales Ethos zu Religionsfrieden und durch Religionsfrieden zum Weltfrieden. Diese Vereinfachung des Zusammenhangs zwischen Weltethos und Weltfrieden muss u.a. im Hinblick auf die eingeschränkte Konflikt-Relevanz religiöser Differenzen korrigiert werden. Dann erscheint eine strikt dialogische Orientierung bei kollektiven Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art als Kern eines friedensförderlichen Weltethos. Eine solche Orientierung impliziert im Besonderen – anders als anscheinend von den Promotoren der Weltethos-Idee gesehen – den prinzipiellen und konsequenten Verzicht auf (die Androhung und Anwendung von) Gewalt.
Friedenswissenschaft und Friedenspsychologie sind in vielfacher Hinsicht auf moralische und ethische Fragen bezogen. Vor allem bilden Gerechtigkeits- und Reziprozitätsvorstellungen i.d.R. den Kern von Konfliktkonstellationen. Andererseits sind solche Konstellationen das Hauptanwendungsfeld ethischer Prinzipien und Normen und der Verfall des kognitiv-moralischen Funktionsniveaus der Kontrahenten gilt als adäquater Indikator der Konflikteskalation (z.B. Glasl, 1980 – zit. nach Eckert & Willems, 1992). Insofern liegt es nahe, die Stärkung des moralischen Bewusstseins als prophylaktische Maßnahme gegen destruktive Eskalationsprozesse zu betrachten und zu propagieren.
Dem von dem Tübinger Theologen Hans Küng zu Beginn der 1990er Jahre initiierten und seither breit diskutierten »Projekt Weltethos« (Küng, 1990/2003; Küng & Kuschel, 1993a ; vgl. Hasselmann, 2001) scheint genau dieses Rationale zugrunde zu liegen. Jedenfalls schreiben ihm seine Promotoren weit reichende friedenspolitische Bedeutung zu. Das kommt prägnant in drei viel zitierten Thesen Küngs zum Ausdruck: „Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.“ (Küng, 2003, S. 13 und passim). Bisweilen wird diese Bedeutungszuschreibung nochmals gesteigert, indem einschlägige Konzepte im Sinne hinreichender Bedingungen aufeinander bezogen werden, z.B.: „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b).
Mein Punkt ist genau dieser Bedeutungsanspruch. Ich möchte der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen ein globales Ethos plausiblerweise Religionsfrieden befördern und Religionsfrieden seinerseits zum Weltfrieden beitragen kann. Im Besonderen geht es mir um die Frage, wie ernst die substanzielle Weltethos-Komponente „Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 29; s.u.) zu nehmen ist, wenn dieses Ethos die behauptete Bedeutung haben soll.
In der »Erklärung zum Weltethos« (Parlament der Weltreligionen, 1993) wird ausdrücklich „ein konsensfähiger mittlerer Weg… zwischen einer›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) eingeschlagen. Dagegen läuft die im Untertitel angedeutete Antwort auf diese Frage auf einen »Gandhismus« ziemlich pur hinaus. Entsprechend dem Motto „Der Weg ist das Ziel“, möchte ich begründen, dass die Antwort lauten muss: „Frieden mit friedlichen Mitteln!“ Zunächst ist jedoch die Küngsche Konzeption näher zu erläutern.
Grundzüge der Weltethos-Konzeption
Die Erklärung zum Weltethos ist Ergebnis eines mehrjährigen interreligiösen Dialogs. Am Beginn stand ein Grundlagenreferat Hans Küngs zu einem von der UNESCO in Paris im Frühjahr 1989 ausgerichteten Symposium zum Thema »Pas de paix entre les nations sans paix entre les religions« (Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden). Verschiedene Zwischenschritte, unter Einbezug von mehr als hundert Experten aus allen größeren Religionen in den Konsultationsprozess, führten schließlich zur Annahme der Erklärung durch das »Zweite Parlament der Weltreligionen« in Chicago 1993 (Hasselmann, 2001; Küng, 1993a).1 Entsprechend diesem Verfahren der historisch-interpretativen Auswertung der ethischen Traditionen diverser Religionen ist die »Erklärung zum Weltethos« zunächst eine interreligiöse Proklamation eines Grundkonsenses „bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und moralischer Grundhaltungen“ (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 20). Insbesondere in Vorwegnahme eines „Einspruch(s) der Buddhisten“ wurde jedoch von vornherein auf jede Erwähnung Gottes verzichtet (Küng, 1993a, S. 69ff.). Die Erklärung appelliert an „alle Menschen, ob religiös oder nicht“, sich diesen Grundkonsens zu eigen zu machen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 42).
Der fragliche Konsens erfordert eine Unterscheidung von elementarem und kulturell differentem Ethos. Er bezieht sich nur auf die elementaren ethischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und gemeinsamen Handelns, soll also keinen ethischen Total-, sondern einen Minimalkonsens darstellen. Mengentheoretisch gesprochen geht es um die Schnittmenge der ethischen Gehalte unterschiedlicher (religiöser) Traditionen. Inhaltlich wird diese Schnittmenge zunächst in sehr allgemeiner Weise gekennzeichnet. Einerseits kommt sie in der »Grundforderung« zum Ausdruck, jeden Menschen „menschlich“ zu behandeln, seine „unveräußerliche und unantastbare Würde“ zu respektieren, ihn „immer Rechtssubjekt und Ziel…, nie bloßes Mittel“ sein zu lassen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 26f.). Anderseits gilt die in vielen ethischen und religiösen Traditionen nachweisbare »Goldene Regel« als eine adäquate Formulierung dieser Grundforderung. Diese Regel fordert bekanntlich die wechselseitige Respektierung der Bedürfnisse und Interessen der Interaktionspartner.
Die Plausibilität dieser allgemeinen Formeln erleichtert den Konsens über ihre Orientierungsfunktion für moralisierbares Handeln. Ihre Allgemeinheit lässt jedoch auch kulturell, gesellschaftlich und individuell differente Lesarten zu und erschwert damit wechselseitig verbindliche Beurteilungen und Orientierungen in bestimmten Problemsituationen. Eine Konkretisierung der Grundforderung mit Bezug auf wichtige Sektoren der menschlichen Lebenswelt ist unabdingbar. Sie wird in einem ersten Schritt erreicht durch vier »unverrückbare Weisungen«. Diese Weisungen verpflichten auf eine Kultur
- „der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben“,
- „der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung“,
- „der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit“ und
- „der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“ (Parlament der Religionen, 1993, S. 29-40).
Diese inhaltlichen Konkretisierungen eines auf „das Wohl und die Würde des Menschen als Grundprinzip und Handlungsziel“ (Küng, 2003, S. 81) ausgerichteten Weltethos gelten einerseits als Garanten der „unverletzliche(n) Würde und unveräußerliche(n) Rechte“ jedes Einzelnen (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Sie sollen andererseits erlauben, der „unabweisbare(n) Verantwortung für das, was (man) tut und nicht tut“ zu entsprechen (ebd.) und der „planetarischen Verantwortung der Weltgesellschaft für ihre eigene Zukunft“ gerecht zu werden (Küng, 2003, S. 51f.).
In der transkulturellen Verbreitung der »Goldenen Regel« sieht Küng (1993a) einen eindrucksvollen Beleg dafür „dass das gemeinsame Weltethos der Religionen keine Neuerfindung, sondern nur eine Neuentdeckung ist.“ (S. 81f.) Darüber hinaus wird ausdrücklich „weder eine Weltideologie, noch eine einheitliche Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen noch eine Mischung aus allen Religionen“ bezweckt (Küng & Kuschel, 1993a, S. 9). Was soll dann aber eigentlich, mag man fragen, ein »Projekt Weltethos«? Hat das nicht zur Voraussetzung, dass noch kein globales Ethos existiert? Wenn aber kein globales Ethos existiert, kann auch kein »Projekt Weltethos« eins herbeizaubern. Ist also ein solches Projekt nicht in jedem Fall überflüssig? Obwohl die Weltethos-Erklärung sich diesen Fragen nicht ausdrücklich stellt, sind einige Antworten darauf angedeutet.
- So wird ein „Wandel des Bewußtseins beim Einzelnen und der Öffentlichkeit“ avisiert (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41). Offensichtlich geht es um nichts Geringeres als um die Entstehung einer neuen kollektiven Identität durch Verwandlung einer distributiven Gemeinsamkeit (gleiches elementares Ethos) in eine kollektive Gemeinsamkeit (geteiltes elementares Ethos), um die Konstituierung eines »moralischen Wir«. Das würde bedeuten, dass dieses Ethos derart selbstverständlich ist, dass jeder von seiner Existenz und Wirksamkeit beim andern über alle kulturellen und religiösen Differenzen hinweg ausgeht und darüber hinaus annimmt, dass der andere ihm Gleiches unterstellt.
- Von einem Projekt zu reden, macht zweitens insofern Sinn, als „für viele umstrittene ethische Einzelfragen“ und „in vielen Lebensbereichen“ und „für möglichst viele Berufsklassen“ im Geiste des Grundkonsenses „sachgerechte Lösungen“ erst noch zu finden wären (Parlament der Weltreligionen, 1993, S. 41f.).
- Drittens kommt es letztlich auf die Lebenspraxis an, d.h. auf die effektive Entwicklung „sozialverträgliche(r), friedensfördernde(r) und naturfreundliche(r) Lebensformen“ (ebd., S. 42).
- Aus kritisch-philosophischer Sicht ist viertens zu ergänzen, dass Küngs Ansatz, so vorrangig zunächst der historisch-empirische Aufweis allgemeingültiger und konsensfähiger normativer Prinzipien sein mag, doch um die Erörterung von reflexiven Begründungsfragen nicht herumkommt (Fahrenbach, 2001).
Dem Küngschen Projekt liegt demnach eine Unterscheidung von potenziellem (implizitem) und aktualisiertem (explizitem) Weltethos zugrunde, von Weltethos und Weltethos*. Klar scheint im Hinblick auf die vorgenannten Dimensionen auch zu sein, dass diese Aktualisie rung immer nur annäherungsweise erfolgen kann, die Weltethos*-Idee also eine Leitidee bleiben muss. Die besondere friedenspolitische Bedeutung wird dem Aktualisierungsprozess bzw. dessen (Zwischen-) Ergebnissen zugeschrieben, also dem wie auch immer vorläufigen Weltethos*. Wichtig ist im Zusammenhang meiner Leitfrage (s.o.) vor allem, dass die Aktualisierung nur strikt dialogisch erfolgen kann, d.h.
- in wechselseitig symmetrischer Anerkennung der Teilnehmer,
- unter konsequentem Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und
- vor dem Hintergrund des regulativ unterstellten Grundkonsenses über die »Goldene Regel« o.Ä.
Insbesondere würde der Einschluss von Zwangsmacht oder Gewalt auf einen Widerspruch zu diesem Bezugspunkt und damit auch auf einen pragmatischen Selbstwiderspruch hinauslaufen.
Religionsfrieden via Weltethos*?
Die erläuterte Aktualisierung des Weltethos setzt im Hinblick auf die Zuständigkeit bzw. auf den Zuständigkeitsanspruch der Religionen für Fragen der Moral und Ethik zwar interreligiös an, dreht sich aber nicht um religiöse Fragen oder Religionsfrieden i.e.S. Was aber könnte das Weltethos* leisten, wenn es genau darum geht?
Zur Präzisierung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass religiöse Systeme facettenreiche, mehrdimensionale Gebilde darstellen. So unterscheidet der Soziologe Glock (1969) auf religionsvergleichender Basis fünf grundlegende Ausdrucksformen oder Kerndimensionen von Religiosität: Religiöse Erfahrung, Ideologie, Ritus, Wissen und säkulare Konsequenzen. Dieser mehrdimensionale Bezugsrahmen hat sich inzwischen in zahlreichen empirischen Studien zur religiösen Orientierung bewährt (vgl. Huber, 1996). Trotz der augenscheinlich unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Dimensionen in verschiedenen Religionen kann daher seine generelle Relevanz unterstellt werden.
In unserem Zusammenhang erfordert die ideologische Dimension besondere Aufmerksamkeit. Mit dieser Dimension wird dem Umstand Rechnung getragen, dass jede Religion bestimmte Glaubensaussagen beinhaltet bzw. jeder religiöse Mensch sich zu bestimmten Glaubensaussagen bekennt. Das aber bedingt einen strukturellen Konflikt: Der Ausschließlichkeit des jeweiligen (absoluten) Wahrheits- und (universellen) Geltungsanspruchs steht der Pluralismus der religös-weltanschaulichen Deutungsangebote entgegen (Lütterfelds, 2001). Zur Entschärfung dieses Konflikts und damit zur Erreichung von Religionsfrieden via Weltethos* stellt Küng (z.B. 1993b) – unverkennbar in der Tradition von Lessings (1779) Nathan der Weise – auf die „Grundnorm echter Menschlichkeit“ als Wahrheitskriterium ab: „Nach dieser Grundnorm… lassen sich gut und böse, wahr und falsch unterscheiden, lässt sich auch unterscheiden, was in der einzelnen Religion grundsätzlich gut und böse, was wahr und was falsch ist.“ (ebd., S. 38)
Dieser Weg zu Religionsfrieden via Weltethos* kann jedoch nicht recht überzeugen. Zum einen dürfte eine solche Hierarchisierung der religiösen Ausdrucksformen selbst strittig sein. Zum anderen sind Wahrheit und Geltung einer Weltdeutung nicht Angelegenheit ihres ethischen Gehalts und erst recht nicht Funktion der Moralität ihrer Anhänger. Vor allem aber läuft diese »Lösung« inhaltlich-sachlicher Konflikte aufgrund der konkurrierenden Wahrheits- und Geltungsansprüche auf eine Nichtannahme der wechselseitigen Herausforderungen hinaus und damit auf eine Verleugnung des strukturellen Konflikts.
Andererseits existieren Wahrheit und Geltung nur in Form individueller und kollektiver Praxis des Für-wahr-Haltens und Geltend-Machens. Als soziales Verhalten unterliegt diese Praxis (auch) moralischen Kriterien. Damit kommt das Weltethos* nun doch als Grundlage eines ökumenischen (interreligiösen) Dialogs ins Spiel. Religionsfrieden kann es aber nur insoweit befördern, als es insbesondere lebenspraktisch aktualisiert wird (s.o.) und auf diese Weise den Konflikt der Überzeugungen und Bekenntnisse entschärft (Lütterfelds, 2001). In der Geschichte der Christenheit jedenfalls führten intensive Religionsgespräche, trotz des (bewussten) gemeinchristlichen Ethos, wiederholt zu blutigen Kriegen. Man wird also an einen friedensförderlichen interreligiösen Dialog i.e.S. grundsätzlich die gleichen Anforderungen stel len müssen wie an den Dialog zur Erarbeitung des Weltethos*:
- wechselseitig symmetrische Anerkennung der Teilnehmer,
- konsequenter Verzicht auf Zwangsmacht und Gewalt und wohl auch
- Orientierung an der regulativen Idee einer Konvergenz der religiösen Wahrheit(en).
Weltfrieden durch Religionsfrieden?
Vor Erörterung dieser Frage ist eine Anmerkung zur Begrifflichkeit angebracht: Der Ausdruck »Weltfrieden« steht in diesem Zusammenhang offensichtlich nicht für den Oberbegriff zu den Begriffen Religionsfrieden und politischer Frieden. Denn dann ergäbe sich rein begriffslogisch, dass Religionsfrieden Weltfrieden impliziert. Soll es aber um ein empirisches Verhältnis gehen, muss mit »Weltfrieden« der politische Frieden gemeint sein. Ob ein in der geschilderten Weise gestifteter oder gewahrter Religionsfrieden zum Weltfrieden in diesem engeren Sinn beizutragen vermag, hängt aber davon ab, welche Rolle die Religion in »weltlichen« Konflikten spielt. In Zeiten eines weltweiten, fundamentalistisch (islamistisch) inspirierten Terrorismus und entsprechend fundamentalistischer Staatsterrorismen scheint auf den ersten Blick außer Frage zu stehen, dass Religionen einen wesentlichen Einfluss auf das Konfliktgeschehen ausüben. Nach Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) ist jedoch die wissenschaftliche Analyse keineswegs eindeutig; drei Sichtweisen konkurrieren um eine überzeugende Deutung der schwierigen Beziehung zwischen Religion und kriegerischer Gewalt.
In der sog. primordialistischen Perspektive stellen kulturell-religiöse Gegensätze als Konflikthintergrund oder Konfliktgegenstand originäre Ursachen gewaltförmiger Konfliktaustragung innerhalb von und zwischen Gesellschaften dar. Eine zeitgeschichtlich akzentuierende Version des primordialistischen Ansatzes ist Huntingtons (1993) viel diskutierte These von einem »Kampf der Kulturen« (clash of civilizations). Danach ist der Wandel der Weltpolitik nach Überwindung der Ost-West-Konfrontation i.W. als Neuausrichtung der Menschen und Völker nach indentitätsstiftenden religiös-kulturellen Deutungssystemen zu verstehen. Diese Neuausrichtung soll zu dramatischen Homogenisierungs- und Polarisierungsprozessen geführt haben oder führen, die mit gewaltförmigen Konflikten einhergehen.
Würde die primordialistische Sicht die Sachlage adäquat erfassen, hätte interreligiöser Frieden natürlich eine enorme unmittelbare Bedeutung für die inner- und zwischengesellschaftliche Konfliktaustragung. Mit der empirischen Bestätigung dieser Perspektive steht es aber eher schlecht. Bei Versuchen, beispielsweise die Huntington-These empirisch zu prüfen, konnte weder ein signifikanter Zusammenhang zwischen der religiös-kulturellen Heterogenität von Gesellschaften und ihrer Bürgerkriegsneigung nachgewiesen werden, noch ein Zusammenhang von religiös-kultureller Distanz zwischen Gesellschaften und deren kriegerischer Verwicklung (vgl. Chiozza, 2002). Der gewaltsame Verlauf der meisten inner- und zwischenstaatlichen Konflikte kann andererseits mit Hilfe der (traditionellen) Kategorien der Macht – und Interessenkonkurrenz erklärt werden. So liegt eher eine instrumentalistische Perspektive nahe. Danach können religiös-kulturelle Gegensätze zwar zur Konfliktverschärfung beitragen – von Kriegsunternehmern dazu benutzt werden –, jedoch kaum die Konflikte verursachen. Als Ursachen von Aufruhr und kriegerischer Gewalt gelten grundsätzlich politische und sozioökonomische Ungleichheiten und Begehrlichkeiten. Entsprechend bescheiden müssen bei dieser Sicht der Dinge die Erwartungen ausfallen, den Weltfrieden durch Religionsfrieden zu befördern.
In Anbetracht im Besonderen der Angewiesenheit von Kriegsherren auf das legitimatorische Potenzial religiös-weltanschaulicher Systeme präferieren Hasenclever & Rittberger (2000; Rittberger & Hasenclever, 2001) eine konstruktivistische Perspektive, die sie „irgendwo zwischen Primordialismus und Instrumentalismus“ verorten (2000, S. 647). Der Konstruktivismus teilt mit der instrumentalistischen Sicht die Überzeugung, dass Macht und Interessen entscheidende Bedeutung für politische Prozesse haben; und ebenso schreibt er politischen Führern und ihrer mobilisierten Anhängerschaft eine zentralen Rolle zu, vor allem im Hinblick die Art und Weise der Konfliktaustragung. Andererseits führen kollektive (religiös-weltanschauliche) Mentalitäten eine Art Eigenleben und die Macht der Propaganda ist keineswegs unbeschränkt. Nicht nur kann jede legitimatorische Argumentation problematisiert werden, auch die Deutungskompetenz der Propagandisten ist selbst in Frage zu stellen.
Für Konstruktivisten fungieren religiöse Systeme demnach sozusagen als Moderatorvariablen. Aufgrund ihres hoch ambivalenten konfliktkulturellen Gehalts – ihres Schwankens zwischen den Modellen »Heiliger Krieg« und »Reich Gottes« (Boulding, 1986) – können sie sowohl friedensförderlich wie kriegstreibend wirken. Es kommt darauf an, wie sie von den religiösen Autoritäten »geschaltet« werden. Aussichten, nachhaltig „Weltfrieden durch Religionsfrieden“ (Küng & Kuschel, 1993b) zu erreichen, bestehen also nur in dem Maße, wie diese Autoritäten einerseits konsequent die Legitimation von Gewalt bei inner- und intergesellschaftlichen Auseinandersetzungen verweigern und andererseits dialogisch-problemlösende Formen der Konfliktbearbeitung wie Verhandlung, Mediation und Selbsttransformation auch in die »weltlichen« Konflikte einbringen. Das aber läuft abermals auf den Verzicht von Gewalt bzw. Gewaltrechtfertigung hinaus. Die Bedeutung des interreligiösen Friedens für den Weltfrieden wird allerdings auch dadurch eingeschränkt, dass Religionen aus konstruktivistischer Sicht nur dann das Konfliktverhalten zu beeinflussen vermögen, wenn die Antagonisten auf Massenloyalität angewiesen sind; in den sog. neuen Kriegen scheint diese Bedingung kaum erfüllt.
Resümee und Schlussfolgerungen
Im Rahmen des nicht zuletzt friedenspolitisch motivierten »Projekts Weltethos« des Theologen Hans Küng gilt ein (aktualisiertes) globales Ethos als eine Art friedenspolitisches Allheilmittel. Und das, ohne dass ein konsequenter Gewaltverzicht als Wesensbestandteil eines solchen Ethos anerkannt wird. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, dass zumindest analytisch drei Funktionsebenen klar zu unterscheiden sind: Entwicklung bzw. Aktualisierung eines globalen Ethos, Anwendung bei interreligiösen Auseinandersetzungen und Übertragung in den Bereich »weltlicher« Macht- und Interessen-Konflikte. Auf allen drei Ebenen kann ein Weltethos nur in dem Maße friedensförderlich sein, wie man bei der Konfliktbearbeitung strikt dialogisch verfährt. Das bedeutet aber, dass der konsequente Verzicht auf (die Androhung, Anwendung und Rechtfertigung von) verletzender und tötender Gewalt als solcher zum Kernbestand eines Weltethos gehören muss, das friedensförderlich sein soll. Insofern ist die Rede von „ein(em) konsensfähige(n) mittlere(n) Weg… zwischen einer ›Realpolitik‹ der Gewalt zur Konfliktlösung und einem unrealistischen unbedingten Pazifismus“ (Küng, 1993a, S. 77f.) irreführend und gefährlich – »altes Denken« mit einem neuen Etikett. Auch und gerade im Rahmen eines Projekts Weltethos kann es Frieden nur mit friedlichen Mitteln geben.
Literatur
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Chiozzo, G. (2002): Is there a clash of civilizations? Evidence from patterns of international conflict involvement, 1946-1997. Journal of Peace Research, 38, 711-734.
Eckert, R. & Willems, H. (1992): Konfliktintervention. Perspektivenübernahme in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Opladen: Leske + Budrich.
Fahrenbach, H. (2001): Die Notwendigkeit des Projekts Weltethos – aber ohne »theonome Begründung«. Beiträge einer Philosophie kommunikativer Vernunft – atheistisch, sozialistisch und diskursethisch akzentuiert. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 383-414). München: Piper.
Glock, C.Y. (1969): Über die Dimensionen der Religiosität. In J. Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II (S. 150-168). Reinbek: Rowohlt.
Hasenclever, A. & Rittberger, V. (2000): Does religion make a difference? Theoretical approaches to the impact of faith on political conflict. Millennium: Journal of International Studies, 29, 641-674.
Hasselmann, C. (2001): Parlament der Weltreligionen: Die Weltethos-Erklärung von Chicago 1993. Concilium, 37, 409-420.
Huber, S. (1997): Dimensionen der Religiosität. Skalen, Messmodelle und Ergebnisse einer empirisch orientierten Religionspsychologie. Bern: Huber.
Huntington, S.P. (1993). The clash of civilizations. Foreign Affairs, 72 (2), 22-49.
Küng, H. (1993a): Geschichte, Sinn und Methode der Erklärung zu einem Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 49-87). München: Piper
Küng, H. (1993b): Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Ein ökumenischer Weg zwischen Wahrheitsfanatismus und Wahrheitsvergessenheit. In H. Küng H. & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen (S. 21-49). München: Piper.
Küng, H. (2003): Projekt Weltethos (1. Auflage 1990). München: Piper
Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993a): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.
Küng, H. & Kuschel, K.-J. (Hrsg.) (1993b): Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen. München: Piper.
Kuschel, K.J. (1993): Das Parlament der Weltreligionen 1893/1993. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen (S. 89-123). München: Piper.
Lütterfelds, W. (2001): Viele religiöse Wahrheiten und ein Weltethos? Zur begrifflichen Struktur eines Konfliktes und seiner Auflösung. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 415-437). München: Piper.
Parlament der Weltreligionen (1993): Erklärung zum Weltethos. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München: Piper.
Rittberger, V. & Hasenclever, A. (2001): Religionen in Konflikten. In H. Küng & K.-J. Kuschel (Hrsg.): Wissenschaft und Weltethos (S. 161-200). München: Piper.
Anmerkungen
1) Das »Zweite Parlament der Weltreligionen« tagte, unter Beteiligung von 6.500 Personen aus allen möglichen Religionen, vom 28. August bis 4. September 1993 in Chicago, zur Jahrhundertfeier der Tagung des »Ersten Parlaments der Weltreligionen« in Chicago 1893. Das Treffen von 1893 seinerseits stellt das erste formelle Treffen von Vertretern der Weltreligionen dar und gilt als Beginn eines genuinen – nicht auf Konversion abstellenden – interreligiösen Dialogs (vgl. Kuschel, 1993; Hasselmann, 2001).
Prof. Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F