W&F 1984/2

Weltraumtechnologie = Erstschlagstechnologie

von Jürgen Scheffran

Die neuen Entwicklungen in der Waffentechnik, insbesondere für den Weltraum, lassen sich durch folgende Parameter beschreiben, die eng miteinander verknüpft sind:

  • Vergrößerung der räumlichen Ausdehnung (größere Reichweite, globale Überwachung und Kommunikation)
  • Verkürzung der Entscheidungszeit (Flugzeit, Vorwarnzeit, „launch on warning“)
  • Erhöhung der Zielgenauigkeit (CEP Faktor, Zerstörungswahrscheinlichkeit)
  • Verringerung der Zerstörungswirkung (geringere Sprengkraft, selektive Zielbekämpfung, begrenzter Atomkrieg)
  • Steigerung der zu verarbeitenden Informationen (Computerisierung und Automatisierung der Kriegsführung)
  • Zunahme von Komplexität und Anfälligkeit einzelner Waffen, sowie ihrer integrierten Koordination Fehlstarts, Krieg aus Zufall, C3I-System)
  • Wachsende „Intelligenz“ spezieller Waffen (Zielsuchsystem, künstliche Intelligenz, Musterkennung).

Durch solche Tendenzen rücken nun wieder bereits verdrängte Überlegungen in den Bereich des technisch Machbaren, so die in den sechziger Jahren diskutierte Fähigkeit zum Erstschlag und zur Abwehr von Interkontinentalraketen. Es ist auch kein Zufall, daß die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles zum Katalysator und Symbol der Kriegsgefahr für die Friedensbewegung wurde, erfüllen sie doch einige der obengenannten Eigenschaften.

Das Schlüsselwort, das in diesem Zusammenhang besonders häufig genannt wird, heißt Erstschlagfähigkeit. Während früher darunter im wesentlichen die Fähigkeit verstanden wurde, die gegnerischen Raketen in ihren Silos zu zerstören, zeichnen sich heute fünf Stufen der Erstschlagsfähigkeit ab, die sich gegenseitig ergänzen und (in Klammern ist der weltraumspezifische Beitrag genannt):

  1. Weitgehende Zerstörung des gegnerischen C3I-Systems und „Enthauptung“ der Kommandozentren (Zerstörung der Frühwarn-, Kommunikations und Navigationssatelliten durch ASAT)
  2. Vernichtung der landgestützten Zweitschlagskapazität in den Silos (Silobestimmung durch Überwachungssatelliten, Radarbilder für Radarendphasenlenksystem, Bodenerkundung über geodätische Satelliten für Cruise missiles, hohe Zielgenauigkeit durch Navigationssatelliten)
  3. Bekämpfung der Zweitschlagskapazität auf See (U-Boot-Ortung durch Überwachungssatelliten, koordinierte U-Boot-Verfolgung und Bekämpfung durch Kommunikations- und Überwachungssatelliten)
  4. Ausschalten der verbliebenen Rest-Raketen im Flug durch DreißSchicht ABM-System (konventionelle Abwehrsatelliten und Laserkampfstationen in der Umlaufbahn)
  5. Globale, integrierte, taktische Kriegsführung mit konventionellen, atomaren, chemischen und elektronischen Waffen (weltraumgestützte C3I-System, Navigation-, Kommunikationssatelliten)

Zu jedem dieser fünf Punkte sind zur Zeit Entwicklungen im Gange, gibt es Lösungsansätze, die gegen Ende der achtziger Jahre verwirklicht sein können. Allein das Vorhandensein dieser Systeme erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Krieges, ob nun ein Erstschlag beabsichtigt ist oder nicht. Unabhängig davon, welche Seite eine solche Erstschlagskapazität besitzt, auch wenn beide Seiten sie haben: der Angreifer könnte sich einen solch großen Vorteil vom ersten Schlag versprechen, daß er sich zur Ausführung gezwungen sieht, wenn er vom Gegner etwas vergleichbares erwarten kann (etwa in einer Krisensituation). Dies wäre eine höchst instabile Situation. Die Militarisierung des Weltraums könnte in diesem Zusammenhang nicht nur eine Fortsetzung der Aufrüstung auf der Erde bedeuten, sondern darüberhinaus die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges erhöhen (Triggerfunktion).

Anand Srivastav  Ekkehard Sieker

Der Weltraum und die Erlangung der Erstschlagsfähigkeit

„Teilen Sie mit mir eine Vision der Zukunft, die Hoffnung bietet. Sie besteht darin, daß wir ein Programm in die Wege leiten, um der schrecklichen sowjetischen Raketenbedrohung mit Maßnahmen zu begegnen, die defensiv sind.“ (R.Reagan am 23.3.1 983 in seiner „Star-War“-Rede). Unter dem Vorwand der sowjetischen Raketenbedrohung wurde die „Strategic Defence Initiative“ eingeläutet. Es ist eine Initiative, die Technologien zur abgestuften Abwehr gegnerischer ballistischer Raketen (BMD) bereitstellen soll. Was auf den ersten Blick vernünftig, weil „defensiv“ erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als das genaue Gegenteil. Liest man Reagans Rede mit der militär-strategischen „Sachkompetenz“ eines Colin S. Gray, so kommt eine sehr präzise Einschätzung heraus: „it must be emphasized that President Reagan did not endorse a particular weapon technology on 23 March 1983, nor did he present a spezific programme: instead he offered a strategic vision“.1.

Also im Klartext: Es geht nicht in erster Linie um die Technologie, sondern um die Strategie. Nicht um BMD (Ballistic Missile Defence) isoliert geht es, sondern die Funktionsbestimmung von BMD im Rahmen dieser „strategischen Vision“. Gray sagt uns auch in dankenswerter Offenheit, welche Strategie gemeint ist: „Conceptually, should space be viewed as the „high ground“ of the future control or command, of which grants perhaps a war-winning advantage?“ 2

Gemeint ist also eine Strategie, deren Ziel inzwischen aus dem Pentagonpapier, dem Air-Land-Battle-Konzept und seiner konventionellen Variante, dem Rogers-Plan und natürlich aus den Veröffentlichungen von Gray bekannt ist: Sieg im Atomkrieg.

Erstschlag – Was ist das?

Mit dem Übergang von der Strategie der „massiven Vergeltung“ zur Strategie des „flexible Response“, versuchen die USA aus dem atomaren Patt auszubrechen. Die Folge war ein Rüstungswettlauf, der die atomaren Optionen zwar auffächert, jedoch das nukleare Patt auf immer neuen, gefährlichen Stufen wiederherstellt. Auf Grund der technologischen Möglichkeiten glaubt die jetzige US-Administration, aus dem „Dilemma“ des nuklearen Gleichgewichtes herauskommen zu können. Trotz des Fehlens vieler wesentlicher Technologien (z.B. Weltraumrüstung) sind die Strategie und damit verbundene Anforderungen an die Technologie genauestens determiniert. Der Schlüssel, die Methode mit der der Sieg über die UdSSR erreicht werden soll, ist die Enthauptung („Decapitation“ nach Pentagonpapieren), d.h. die Ausschaltung der gegnerischen C3I Struktur, Doch die Enthauptung allein reicht nicht aus, Die kriegsentscheidende Zerstörung des gegnerischen strategischen Potentials (Zweitschlagskapazität), d.h. die Entwaffnung, muß ebenso sicher erfolgen wie der Abfang des nach der Entwaffnung gestarteten Nuklearpotentials des Gegners. Hinzukommen muß natürlich ein für die Kriegsführung geeignetes eigenes C3I-System.

Umfassender Erstschlag erfordert also eine kriegsentscheidende Schwächung der gegnerischen Zweitschlagskapazität durch eine integrierte Enthauptung, Entwaffnung, BMD. Demzufolge unterteilen wir die Gesamtheit der Technologien, die für den Erstschlag gebraucht werden (Erstschlagstechnologien), in Enthauptungs-, Entwaffnung- und Abfangtechnologien. Im folgenden werden wir untersuchen, inwieweit der Weltraum für die Bereitstellung der oben genannten Technologien genutzt werden muß, und inwieweit mit den schon vorhandenen Technologien die strategischen Ziele Enthauptung, Entwaffnung und Abfang erreicht werden können.

Erstschlagstechnologie

Die Ausschaltung der gegnerischen C3I Struktur erfolgt im wesentlichen im Weltraum durch Zerstörung/Blendung der gegnerischen Satelliten (ASAT) und durch die Zerstörung der erdgebundenen, verbunkerten C3I-Systeme. Bevor wir auf die Enthauptung der erdgebundenen Systeme eingehen, geben wir eine kurze Erläuterung der Begriffes „Erstschlagsfähigkeit einer Waffe“. Dieser Begriff, der die wesentlichen technologischen Fähigkeiten eines Nuklearsystems sprachlich bündelt, wird z.T. bewußt falsch gebraucht, um die Funktion erstschlagsfähiger Waffen zu verschleiern.

Die Erstschlagfähigkeit einer Waffe ist allein auf Grund ihrer technischen Eigenschaften

a. über 90 % Vernichtungswahrscheinlichkeit

b. geringe Randzerstörungen, also geringe Sprengkraft

bestimmt. Die Zielgenauigkeit ist das entscheidende Maß für die Erstschlagsfähigkeit einer Waffe. Demzufolge sind Pershing II-Raketen Erstschlagswaffen, die SS-20 aber nicht.

Da der Enthauptungsschlag gegen die erdgebundenen Systeme nur mit dem Risiko weniger Minuten Vorwarnzeit erfolgen kann, ist derzeit allein Pershing II schnell und zielgenau genug, um als Enthauptungstechnologie identifiziert zu werden, ihre Reichweite und die vorgesehene Anzahl von über 300 Raketen macht sie zur „idealen“ Enthauptungswaffe: mit einer Reichweite von 1800-2300 km kann die Pershing II alle wesentlichen C3I-Zentralen der UdSSR, die nach Angaben des ehemaligen Vorsitzenden des Vereinigten Stabschef der USA, General S. Brown, aus dem Jahre 1977, innerhalb eines Radius von 150 km um Moskau liegen, treffen. 3

Die Anzahl der Führungszentren der UdSSR wird von der Brookings Institution in Washington mit „60 National Command and Authority Centers“ angegeben. 4

Berücksichtigt man, daß 108 nachladbare Startgeräte für die Pershing II stationiert und über 300 Raketen bereitgestellt werden sollen, errechnet man eine mehr als 50 %ige Wahrscheinlichkeit, die oben genannten 60 Ziele zu zerstören.

Entwaffnungstechnologien

Entwaffnungstechnologien müssen die kriegsentscheidende Zerstörung/Schwächung der gegnerischen Zweitschlagskapazität gewährleisten. Sie müssen sowohl gegen SLBM als auch gegen ICBM wirksam sein. Die Anti-U-Boot-Kriegsführung (ASW) erfordert entsprechende Sensoren, Unterwasserraketen und Trägersysteme, von denen eine ganze Reihe schon bereitstehen. 5

Im Mittelpunkt der Anstrengungen seitens der USA steht der Aufbau des globalen Ortungs- und Zeitsystems NAVSTAR. 18 NAVSTAR-Satelliten sollen so in Umlaufbahnen gebracht werden, daß ein Flugobjekt (z.B. ballistische Rakete) in jedem Punkt seiner Flugbahn gleichzeitig Informationen von mindestens 4 Satelliten empfangen und entsprechende Kurskorrekturen vornehmen kann. Sollten nach den Minuteman II-Raketen sämtliche bis 1988 fertiggestellten 408 Raketen des Typs Trident I mit NAVSTAR-Leitsystemen ausgerüstet werden, würde nach Angaben von Robert C. Aldridge die Wahrscheinlichkeit, alle 1398 sowjetischen Raketensilos bei einem kombinierten Einsatz von Minuteman II und Trident I zu zerstören, auf 95% steigen. Die verbleibenden 70% landgestützten Raketen müßten mittels BMD aufgefangen werden.

Abfangtechnologien (BMD)

Die Abwehr ballistischer Raketen ist zur Zeit noch der wundeste Punkt im Erstschlagkonzept der USA. Entsprechend den verschiedenen Phasen des Fluges einer ballistischen Rakete gibt es verschiedene Abfangoptionen, die aber alle noch im Erprobungs- bzw. Forschungsstadium sind:

  1. Abwehrphase. Zerstörung in der Startphase durch satellitengestützte Vought Raketen (auch Strahlenwaffen sind denkbar)
  2. Abwehrphase: Zerstörung in der Phase des ballistischen Fluges durch Strahlenwaffen (Laser, Partikel, Mikrowellen, Plasma)
  3. Abwehrphase: Zerstörung der gegnerischen Sprengköpfe in Zielnähe mittels bodengestützter Systeme kurz vor dem Aufschlag.

Zusammenfassend kann man sagen, daß der Aufbau einer Erstschlagsfähigkeit eine qualitativ völlig neue Stufe der Weltraumrüstung erzwingt. In einem künftigen Atomkrieg wird der Weltraum gleichzeitig Schauplatz und Kontrollzentrum der Eskalation sein. Ein Erstschlag ist ohne die strategische Einbeziehung des Weltraums nicht denkbar.

Der Stopp der Weltraummilitarisierung würde den Erstschlagsstrategen eines ihrer wichtigsten Instrumente aus der Hand schlagen.

Anmerkungen

1 Gray, Cohn S., Space is not a Sanctuary, in: Survival, 9/10, 1983 Zurück

2 ·ebenda Zurück

3 ·IISS-London, Adelphi Paper Nr. 169/1981, S. 20 und S. 44 Zurück

4 The Brookings Institution, Washington D.C., Berman/Baker, Soviet Strategic Forces: Requirements and Reports 1982, S. 103 und S. 137 Zurück

5 Aldridge, Robert C., Das Instrumentarium für den „entwaffnenden Erstschlag“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 1983, S. 462 ff. Zurück

Jürgen Scheffran ist Diplomphysiker in Marburg; Anand Srivastav (VDS-Projektbereich Frieden); Ekkehard Sieker (Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung e.V.)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/2 1984-2, Seite