W&F 2022/3

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine in deutschen Kommunen

von Kathrin Buddendieck und Lena Heuer

Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden auf allen Ebenen in einer beispiellosen Schnelligkeit und Entschlossenheit Maßnahmen umgesetzt, um ukrainische Geflüchtete in Deutschland zu unterstützen. Doch Hilfsmaßnahmen wie diese können unbeabsichtigte Auswirkungen auf bestehende Konflikte haben. Vor dem Hintergrund der Arbeit der Autor*innen im K3B – Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des VFB Salzwedel e.V.1 werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktdynamiken auf kommunaler Ebene erläutert und Potenziale skizziert, die durch eine konfliktsensible Gestaltung von Hilfsmaßnahmen und eine konstruktive Bearbeitung der Konflikte entstehen.

Anfang März dieses Jahres aktivierte die Europäische Union (EU) erstmalig die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie. Infolgedessen können sich Geflüchtete mit ukrainischem Pass frei in Europa bewegen, sie erhalten einen sicheren Aufenthaltsstatus für bis zu drei Jahre sowie eine Arbeitserlaubnis, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Rund 870.000 Geflüchtete wurden in den ersten vier Monaten seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister registriert (Mediendienst Integration 2022)2. Innerhalb kürzester Zeit wurden Wohnraum, Kita- und Schulplätze, Sprachkurse und weitere Integrationsangebote in den Kommunen geschaffen. Eine große Solidarität in der Bevölkerung sorgte für viel Hilfsbereitschaft, die sich unter anderem in der Aufnahme vieler Menschen in privaten Haushalten sowie in Geld-, Kleidungs- und Lebensmittelspenden und ehrenamtlichem Engagement ausdrückte. Doch all diese Hilfe kommt auch nicht ohne Konflikte – vor allem auf kommunaler Ebene. Eine Sensibilität für die Konfliktpotenziale bei der Implementierung von Maßnahmen wie diesen kann tiefgreifenden negativen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben vorbeugen und die positiven Wirkungen verstärken.

Unser Beitrag analysiert die Maßnahmen und Unterstützungsleistungen mit dem aus der internationalen Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit bekannten Do-No-Harm-Ansatz (dt.: »Richte keinen Schaden an«, Anderson 1999) als Rahmen. Er dient als Werkzeug für eine konfliktsensible Analyse, Planung und Gestaltung von Interventionen und zeigt auf, wie unbeabsichtigten (negativen) Wirkungen von Maßnahmen auf lokale Konfliktdynamiken vorgebeugt werden kann, beziehungsweise wie die Maßnahmen eine Konfliktbearbeitung unterstützen können. Dabei bietet der Blick auf Konflikte und die Sensibilität für deren Potenziale, wie nachfolgend beschrieben, die Chance für alle Beteiligten, bestehende Missstände zu erkennen und zu verändern.

Konkurrenz um (vermeintlich) knappe Ressourcen

Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung oder Herausforderung kann zu Solidarität und einem »Zusammenrücken« in einer Gesellschaft führen. Dabei werden zusätzliche Ressourcen mobilisiert, um die gemeinsame Krise zu bewältigen. Dieses Phänomen konnte auch beim Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland beobachtet werden. Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat haben auf allen Ebenen in einem beispiellosen Ausmaß Ressourcen eingebracht, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen.

Eine solche Mobilisierung und (Um-)Verteilung von Ressourcen kann aber auch existierende Spannungen verschärfen oder neue entstehen lassen. Kommt in gesellschaftlichen Gruppen z.B. der Eindruck auf, Ressourcen würden nun ungleicher verteilt beziehungsweise der eigene Zugang aufgrund der neu angekommenen Gruppe verschlechtert, entstehen gerade vor Ort, also auf kommunaler Ebene, Konfliktpotenziale. In der aktuellen Situation zeigen sich solche z.B. mit Blick auf die Verteilung der knappen Güter Wohnraum sowie Kita- und Schulplätze, aber auch die personelle Unterstützung von Seiten der Kommunalverwaltung.

Konkret: Kommunen standen Anfang des Jahres vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Unterkünfte für die ankommenden ukrainischen Geflüchteten bereitzustellen. In manchen Orten wurden die Geflüchteten, die bisher in den Gemeinschaftsunterkünften lebten, zum Auszug aufgefordert oder in andere Unterkünfte verlegt, um Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Betroffene verloren dadurch ihre sozialen Netzwerke; es sind Fälle bekannt, bei denen auch der Verlust des Arbeitsplatzes mit einem solch erzwungenen Umzug verbunden war (vgl. z.B. von Hardenberg 2022). Manche dieser nun verlegten Geflüchteten hätten zwar bereits das Recht gehabt, in eine eigene Wohnung zu ziehen, konnten dies aber aufgrund des Wohnungsmangels und weit verbreiteter Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt nicht umsetzen. Seitens eines Sozialamts wurde uns berichtet, dass Wohnungseigentümer*innen ihre Mietwohnungen der Kommune „nur für Ukrainer*innen“ zur Verfügung stellen wollten, weshalb die Stadt befürchtete, den Wohnraum zur Nutzung zu verlieren, wenn sie diesem Anspruch nicht nachkommen würde. Dieses Risiko wird in der Wahrnehmung durch kommunale Akteure umso bedeutender, steigen doch die Spannungen auf dem Wohnungsmarkt ganz unabhängig: Der soziale Wohnungsbau kommt nicht entsprechend voran, Baumaterialien sind knapp und steigende Preise und Kreditkosten tun ihr Übriges dazu (ZEIT Online 2022).

Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zu Schulen und Kitas. Während einerseits mancherorts auf sehr kreative Weise eine schnelle und unbürokratische Aufnahme von ukrainischen Kindern in Schulen und Kindergärten ermöglicht wurde, ist andererseits seit Jahren und auch durch die Covid-19-Pandemie zunehmend das System, insbesondere das Personal, überlastet. Die Hilfsmaßnahmen für die Einen laufen Gefahr, den Eindruck der Ungleichbehandlung und der Konkurrenz bei den Anderen zu verstärken. Ein Sozialdezernent einer ländlichen Kommune erzählte uns: Wie soll ich den Eltern, deren Kindern seit Jahren auf einen Schulplatz in der Nähe warten und die stattdessen lange Wege mit dem Schulbus fahren, erklären, dass diese Schule nun für ukrainische Kinder geöffnet wird?“

Die Situation bringt auch eine zusätzliche Belastung der Kommunalverwaltung mit sich und die Personalressourcen sind auch dort knapp. Infolgedessen wächst bei nicht-ukrainischen Geflüchteten die Sorge, dass sie gegenüber den Neuankommenden zurückgestellt werden beziehungsweise ihre Anliegen langsamer bearbeitet werden. Längere Wartezeiten auf Termine bei Ämtern bedeutet konkret für manche eine Verlängerung ihrer ohnehin prekären Lebenssituation, wie z.B. das weitere Warten auf Familiennachzug.

Implizite Botschaften und mediale Verstärkung

Die Art und Weise wie Hilfsmaßnahmen gestaltet werden wirkt sich nicht nur auf den Zugang zu Ressourcen aus, sondern sendet auch implizite Botschaften. Ukrainer*innen erfahren durch die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie besonderen Schutz und Freiheiten. Gleichzeitig bemühen sich Staat, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur sowie Wirtschaftsunternehmen, ihnen die Ankunft in Deutschland so leicht wie möglich zu gestalten, indem sie freien Eintritt in Museen und kulturelle Einrichtungen sowie mancherorts die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ermöglichen. Außerdem erhalten ukrainische Geflüchtete seit dem 01. Juni 2022 Zugang zu Sozialleistungen nach SGB II und XII und damit zu umfassenden Gesundheitsleistungen nach dem GKV-Leistungskatalog.

All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie in der Regel ausschließlich für Geflüchtete mit ukrainischem Pass gelten. Diese Ungleichbehandlungen von Kriegsgeflüchteten senden implizite Botschaften über die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Sie reproduzieren rassistische und kulturalistische Ansichten und führen zu einer weiteren Ausgrenzung und Marginalisierung von nicht-ukrainischen Geflüchteten. Dies passiert, wie oben beschrieben, einerseits durch die ungleiche Vergabe von wichtigen Ressourcen und Rechten, die Geflüchteten eine Teilhabe und Integration in der Aufnahmegesellschaft erlauben. Durch die einseitigen Maßnahmen entsteht andererseits bei den nicht-ukrainischen Geflüchteten der Eindruck, dass sie nicht willkommen und ihre Bedürfnisse weniger wichtig seien. Eine Folge dieser Diskriminierungserfahrung kann beispielsweise sein, dass diese geflüchteten Menschen noch mehr den Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft vermeiden und sich in parallele Strukturen zurückziehen, möglicherweise aber auch, dass sie ihre Rechte, Teilhabe und Anerkennung einfordern.

Konfliktpotenziale für die Gesellschaft entstehen zudem auch durch Kommunikation und Medienberichterstattung über Maßnahmen und Hilfen. Das gilt erst recht, wenn es sich um Gerüchte und Falschinformationen handelt. Beobachten ließ sich dies beispielsweise bei der Meldung aus dem Mai 2022: „Ukrainer*innen dürften ohne Abitur in Deutschland studieren“ (Thust 2022). Die tatsächliche Entscheidung der Kultusministerkonferenz war um einiges komplexer als diese vereinfachende Meldung. Der Eindruck der Ungleichbehandlung bei anderen Personen, die ein Studium anstreben, wurde dadurch allerdings verstärkt.

Konfliktsensibilität: Chancen und Potenziale

Hilfsmaßnahmen sollten daher dringend konfliktsensibel gestaltet und bereits umgesetzte Maßnahmen entsprechend angepasst werden, um solch unbeabsichtigte und unnötige Konfliktverstärkung auf materieller, symbolischer und kommunikativer Ebene zu verhindern. Für Politik und Zivilgesellschaft gilt es, sich offen für die gleiche Behandlung von allen Menschen einzusetzen und eine klare Haltung für Gleichberechtigung zu beziehen. Dies ist in der aktuellen Situation beispielsweise bei der Verteilung von Wohnraum zentral. Hier gilt es bei der Gestaltung von Hilfsmaßnahmen die Bedarfe aller betroffenen Gruppen zu berücksichtigen und so zu vermeiden, dass am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen auch noch gegeneinander ausgespielt werden.

Für eine erfolgreiche und nachhaltige Bearbeitung von bereits vorhandenen Konflikten ist es allerdings auch erforderlich, existierende Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Gruppen zu erkennen. Bearbeitungsprozesse sollten daher inklusiv gestaltet werden, sodass jede der am Konflikt beteiligten und vom Konflikt betroffenen Gruppen ihre Perspektiven, Interessen und Bedürfnisse einbringen kann. Das bedeutet auch, dass Gruppen, die Unterdrückung und Diskriminierung erfahren, einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben, um an Prozessen zur Konfliktbearbeitung teilhaben zu können. Dies ist keine unerhebliche Feststellung, wenn mit Blick auf die in diesem Beitrag angerissenen Konfliktdimensionen erklärt werden muss: die vorhandenen personellen, institutionellen und finanziellen Ressourcen der zuständigen Kommunen werden mit Sicherheit für die Bearbeitung solcher Herausforderungen nicht ausreichen.

Unseres Erachtens stecken jedoch in der Zurkenntnisnahme der aufkommenden und sich vermutlich noch verstärkenden Konflikte auch Chancen: Verdeckte gesellschaftliche Missstände werden offensichtlich, bestehende Ungleichbehandlung in der Gesellschaft transparent. Eine konstruktive, konfliktsensible Bearbeitung der Konflikte kann Veränderungsprozesse grundsätzlicherer Art ermöglichen, aktivierend wirken und zu mehr Teilhabe, Gleichheit und Anerkennung führen.

In der Mobilisierung von zusätzlichen Mitteln für Geflüchtete sowie dem Sichtbarwerden von Ungleichheiten liegt dann auch eine Chance für positive Veränderung. Oder, mit den Worten eines Geflüchteten aus Syrien, mit dem wir im Vorfeld sprachen: „Die Hoffnung, dass sich zukünftig etwas für Alle ändern kann“.

Anmerkungen

1) Das K3B berät Gemeinden, Städten und Landkreisen Beratung bei Konflikten im kommunalen Raum. Für mehr Informationen zum Ansatz der Kommunalen Konfliktberatung siehe Berndt und Gessler 2021.

2) Die Zahl ist allerdings ungenau, da ukrainische Staatsbürger*innen ohne Visum in die EU einreisen und sich im Schengen-Raum frei bewegen können. Möglicherweise sind einige der Personen bereits weitergereist oder wieder zurückgekehrt.

Literatur

Anderson, M. B. (1999): Do No Harm: How aid can support peace – or war. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

Berndt, H.; Gessler, O. (2021): Kommunale Konfliktberatung. Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen friedenslogisch bearbeiten. W&F 4/2021, S. 44-46.

Mediendienst Integration (2022): Flüchtlinge aus der Ukraine. Homepage, Stand 06.07.2022.

Thust, S. (2022): Ohne Abi zur Uni? Was hinter dem Beschluss der Kultusministerkonferenz für Geflüchtete aus der Ukraine steckt. Correctiv.org, 19.05.2022.

Von Hardenberg, N. (2022): Sie sollen Platz machen. Süddeutsche Zeitung, 27.03.2022.

ZEIT Online (2022): Weniger Baugenehmigungen für Wohnungen und Einfamilienhäuser. ZEIT Online, 17.06.2022.

Kathrin Buddendieck ist als freiberufliche Konfliktberaterin für das K3B tätig und arbeitet seit mehreren Jahren für den Zivilen Friedensdienst im In- und Ausland.
Lena Heuer ist Projektmitarbeiterin im Vorhaben »Herausforderungen gesellschaftlicher Integration gemeinsam verstehen und bearbeiten« durchgeführt im K3B.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 36–38