Werte in der Friedenspsychologie
Am Beispiel empirischer Forschung zu Holocaust-Erinnerung
von Ruth K. Ditlmann und Berenike Firestone
Wie wirken Erinnerungsprojekte über den Holocaust auf Teilnehmende? Diesem Thema widmet sich unsere Forschung. Wir führen überwiegend quantitative, empirische Studien durch und nutzen diese Methode, um die kausale Wirkung von Projekten zu verstehen. Dabei werden wir oft mit Fragen von Normativität konfrontiert und geraten an die Grenzen des Ideals der wertfreien Forschung. Dies entspricht einer besonderen Herausforderung für empirische forschende Friedenspsycholog*innen. Doch Werteentscheidungen müssen transparent gemacht und offen diskutiert werden.
Es ist offensichtlich: Unsere Forschung zur Wirkung von Holocaust-Erinnerungsprojekten ist wertegeleitet. Doch ist das nicht ein Widerspruch zum Ideal wertfreien Forschens? Werte beeinflussten zum Beispiel unsere Entscheidung für den Forschungsgegenstand, die Auswahl der abhängigen Variablen, und die Interpretation der Ergebnisse. Diese Entscheidungen sind oft schwierig und erfordern, dass man sich intensiv mit Wertefragen auseinandersetzt und sich selbst zu Werten bekennt. Dabei wird klar, dass dies eine Verantwortung mit sich bringt, die – unserer Meinung nach – über die einer Privatperson hinausgeht. Es wird auch klar, dass es bei unserem Thema schier unmöglich ist, gute empirische Forschung zu machen, ohne sich intensiv mit Wertefragen auseinanderzusetzen. Deshalb wollen mit unserem Beitrag auch andere Friedenspsycholog:innen motivieren, ihre Werteentscheidungen transparent zu machen und offen zu diskutieren. Zunächst stellt sich natürlich die Frage, warum man überhaupt zu einem Thema empirisch arbeiten sollte, das so wertebasiert ist. Was kann die Friedenspsychologie hier beitragen? Wie kann eine quantitative empirische Studie zu diesem Thema aussehen?
Erinnerungsprojekte empirisch erforschen
Obwohl das kollektive Gedächtnis ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen ist, das oft von den Geisteswissenschaften untersucht wird, spielt auch die Friedenspsychologie in der Erforschung eine wichtige Rolle. Denn Geschichte wird nur dann zur Erinnerung, wenn Menschen sich mit ihr auseinandersetzen (Hirst und Manier 2008) – und hier spielen psychologische Faktoren eine maßgebliche Rolle. Die Auseinandersetzung kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, von der reinen Informationsaufnahme historischer Fakten bis hin zur aktiven Teilnahme an Bildungs- oder Erinnerungsprojekten. Da der Holocaust ein tief traumatisierendes und schwieriges Thema der Geschichte darstellt, ist es keinesfalls selbstverständlich, dass Menschen sich damit befassen (Bilewicz et al. 2017).
Gemäß der Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1978) ist es insbesondere für Menschen, die sich mit den historischen Täter:innen identifizieren, schwierig, sowohl über die Vergangenheit zu lernen, als auch von der Vergangenheit zu lernen, da dies die Moralität ihrer Gruppe in Frage stellt. Weil Gruppen eine wichtige Quelle für den eigenen Selbstwert darstellen, so das Argument der Theorie, werden derartige Informationen im Zweifelsfall eher abgewehrt. Gleichzeitig verbinden viele gesellschaftliche Akteure Hoffnung mit dem Lernen aus der Vergangenheit und der bewussten Auseinandersetzung mit unserer Gewaltgeschichte. Diese Hoffnung ist vielschichtig, einerseits geht es oft darum, Gewalt gegen vormalige Opfergruppen in Zukunft zu verhindern. Dieser Prozess ist zudem oftmals von besonderer Bedeutung für die Nachfahren der Opfergruppen (Shnabel et al. 2009) für welche das Wachhalten der Erinnerung eine Form von symbolischer Gerechtigkeit sein kann. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, welche Erinnerungsprojekte mit der Verdrängungsbewegung konstruktiv umgehen und somit die gewünschte Wirkung des Lernens aus der Vergangenheit haben. Da die empirische Datenlage zu diesen Fragen bisher äußerst gemischt ist, führten wir zwei größere Projekte durch, die sich jeweils mit prominenten und innovativen Projekten aus der deutschen Erinnerungskultur befassen.
Stolpersteine
Stolpersteine sind vielleicht das bekannteste Projekt zur Erinnerung an Opfer der NS-Verfolgung. Die kleinen, kupfernen Pflastersteine gibt es mittlerweile in ganz Europa. In Berlin allein sind es über 8.000. Die Steine ehren die Opfer an ihrem letzten selbstgewählten Wohnort. Sie werden meistens von Familienmitgliedern in Auftrag gegeben und alle von einem Künstler, Gunter Demnig, angefertigt. Seit einiger Zeit gibt es eine Karte, auf der alle Berliner Stolpersteine vermerkt sind. Diese Karte nutzten wir, um zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Vorhandensein sowie der Anzahl von Stolpersteinen in einem Wahlurnenbezirk und dem Stimmanteil für die rechtspopulistische Partei AfD. Wir fanden einen Zusammenhang in einem Längsschnitt über sieben Wahlen (von 2013-2017) in allen Berliner Bezirken. Dort, wo neue Stolpersteine verlegt wurden, schnitt die AfD in den darauffolgenden Wahlen im Durchschnitt schlechter ab. Die Studie wurde in PNAS veröffentlicht (Turkoglu et al. 2023).
Da wir nur existierende quantitative Daten nutzten und selbst keine Daten erhoben, konnten wir in unsere Studie nicht untersuchen, warum Stolpersteine den Wahlanteil der AfD verringern. Wir vermuten, dass sie die Vergangenheit sichtbar machen und durch ihren lokalen Charakter sowie Aktivitäten von Mitbürger:innen, die z.B. die Stolpersteine putzen, schwer zu ignorieren sind. Damit stehen sie in einem starken Kontrast zur Rhetorik der AfD, die immer wieder versucht, die Gräueltaten der Deutschen während des Holocausts herunterzuspielen (Keim 2021). Aus dieser Forschung lernen wir, dass auch ein Projekt, das primär dem Gedenken dient, eine Wirkung auf aktuelles politisches Handeln haben kann, indem es die Unterstützung für eine anti-demokratische Partei unterminiert.
#everynamecounts
Wie wirkt sich die Teilnahme an einem partizipativen Erinnerungsprojekt auf die Mitwirkenden aus? Dieser Frage widmeten wir uns in einem zweiten Forschungsprojekt, das wir in Zusammenarbeit mit den Arolsen Archives durchführten. Die Arolsen Archives sind das weltweit größte Archiv über Opfer und Überlebende des NS-Regimes. Nach Kriegsende gründeten die Alliierten das Archiv und überführten alle Originaldokumente aus Konzentrationslagern, sowie Dokumente zu Zwangsarbeit und aus den Lagern von Displaced Persons dorthin. Die Dokumente dienten der Suche nach Vermissten und ermöglichen es heute Angehörigen, mehr über das Schicksal ihrer Vorfahren zu erfahren. Seit 2020 laden die Arolsen Archives Freiwillige ein, bei der Digitalisierung des Archivs zu helfen. Mehr als 7 Millionen der insgesamt über 30 Millionen Dokumente des Archivs wurden so schon von über 115.000 Freiwilligen digitalisiert.1
Wir untersuchten in zwei randomisierten Studien wie sich die Teilnahme an #everynamecounts auswirkt. In diesen Studien wurden insgesamt 1.452 Teilnehmer:innen jeweils in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe leistete einen Beitrag zu #everynamecounts, während die andere Gruppe als Vergleichsgruppe diente und nichts über das Mitmachprojekt erfuhr. Teilnehmende wurden für ihren Aufwand entschädigt und konnten die Teilnahme jederzeit abbrechen (was einige auch taten).
Das Projekt zeigt interessante Ergebnisse: Die Teilnahme bei #everynamcounts motivierte die Mitwirkenden dazu, sich für weitere Erinnerungsarbeit (sowohl zum Holocaust als auch zur deutschen Kolonialgeschichte), gegen Antisemitismus, und für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft zu engagieren. Die Teilnahme hat allerdings keine Wirkung auf individuelle Vorurteile gegenüber minorisierten Gruppen und auch nicht auf die Motivation, im persönlichen Umfeld bei Diskriminierung einzugreifen. Was erklärt die positive Wirkung auf kollektives Handeln? Die Teilnehmenden an #everynamecounts berichten darüber, einen konkreten und wichtigen Beitrag zu dem gemeinsamen und oft abstrakten Ziel der kollektiven Erinnerung leisten zu können (»partizipative Wirksamkeit«, siehe auch: Van Zomeren et al. 2013). Dies unterstreicht, wie wichtig #everynamecounts und ähnliche partizipative Projekte sind – nicht nur als Projekte selbst, sondern auch als Katalysatoren für weiteres gemeinsames Handeln, das eine lebendige Erinnerungskultur ausmacht.
Beide Projekte, #everynamecounts und Stolpersteine, zeigen eine Wirkung, die eher der Hoffnung auf Lernen aus der Vergangenheit als der Abwehr der Informationen entspricht. Und obgleich die Projekte natürlich nur symbolisch sind (es sind keine Reparationszahlungen oder juristischen Prozesse), können sie doch durch ihren Einfluss auf unser Handeln die Gesellschaft verändern. Ohne die empirischen Methoden der Friedenspsychologie wäre es schwierig, dafür Beweise zu generieren.
Normativität in der Forschung
In der Umsetzung beider Studien wurden wir an vielen Punkten mit der von Ulrich Wagner aufgegriffenen Frage nach Normativität konfrontiert (Wagner 2023). Wagner erklärt, dass die Friedenspsychologie, als empirische Wissenschaft, primär etwas zur Auswahl von Wegen, nicht aber zur Festlegung von Zielen beitragen kann. Ziele seien das Ergebnis von moralisch-ethischen Überlegungen oder politisch-demokratischen Entscheidungsprozessen, nicht aber von empirischen Methoden. Dennoch sollten sich Friedenspsycholog*innen immer wieder mit Zielfragen befassen, was Wagner als eine besondere Herausforderung und Chance für die Friedenspsychologie sieht.
In unserer empirischen Forschung mussten wir an vielen Stellen wertebasierte Entscheidungen treffen. Dabei begriffen wir diese Herausforderung als Chance, bestimmte friedenspsychologische Ziele in den Vordergrund stellen zu können. In unserem Fall geht es inbesondere darum, durch den Prozess und das Ergebnis unserer Forschung zu einer gewaltlosen und konstruktiven Bearbeitung der deutschen Gewaltgeschichte beizutragen; mit dem Ziel sozialen Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen und zu erhalten. Am konkreten Beispiel unserer Studien wollen wir darstellen, wo Herausforderungen mit solchen Entscheidungen liegen können und damit aufzeigen, dass empirische Forschung zu Wegen ohne kritische Reflexion und Bekenntnis zu bestimmten friedenspsychologischen Zielen bei unserem Thema schier unmöglich ist.
I. Werteentscheidungen beim Forschungsdesign
Unser Forschungsgegenstand sind Erinnerungs- und Bildungsprojekte zum Holocaust. Der Grund, weshalb es solche Projekte überhaupt gibt, ist ein normativer: Der Holocaust wird als ein entsetzliches Verbrechen bewertet, die Erinnerung an die Opfer und Überlebenden als moralisch geboten, und die Bildung zum Thema im Land der Täter*innen als erforderlich angesehen – und entsprechend gefördert. Bei einem Forschungsgegenstand wie diesem können wir als Forschende nicht neutral sein, denn auch das wäre im Umkehrschluss eine normative Haltung zu dem Thema. Neutral zum Beispiel gegenüber der Frage zu sein, ob das Gedenken an Holocaustopfer erstrebenswert ist, ist auch eine normative Haltung. Jede Forschung zu diesem Thema ist also schon normativ positioniert. Wenn wir uns dafür entscheiden, Bildungs- und Erinnerungsprojekte zum Holocaust empirisch zu untersuchen, ist dies bereits eine Werteentscheidung hinter der eine normative Haltung steckt. Diese Haltungen und Werteentscheidungen transparent zu machen, ermöglicht es anderen (nicht nur) Forschenden, unsere Forschungspraxis und unsere Schlussfolgerungen nachzuvollziehen.
Als Zweites kommt hinzu, dass wir uns in unserer Forschung mit besonderen Objekten befassen. Sowohl Stolpersteine als auch die Archivdokumente aus Konzentrationslagern sind keine neutralen Objekte (oder »Stimuli«, wie sie in psychologischen Studien oft genannt werden), die nach Belieben in ihrem Zuschnitt, Aussagen oder Kontexten verändert werden können (bspw. durch Präsentation von Karten mit und ohne Namen), sondern Objekte, die konkreten Opfern des NS-Regimes gedenken bzw. ihr Schicksal dokumentieren. Wie Meron Mendel – Historiker, Pädagoge und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank – in einem Interview mit dem Bundesarchiv sagte: „Diese authentischen Dokumente oder Orte haben etwas Sakrales, die Verantwortung im Umgang damit ist sehr hoch“ (Bundesarchiv 2021, S. 20).
Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, entschieden wir uns daher dagegen, die Objekte zu verändern, und präsentierten sie den Studienteilnehmer*innen nur in ihrem Originalkontext bzw. -form. Im Falle von Stolpersteinen, einem Gedenkprojekt, bedeutete das für uns, dass es nur angemessen ist, vorhandene Daten (wie die Geolokalisation der Steine) zu nutzen und das Projekt in seiner Auswirkung indirekt zu beobachten, jedoch in keiner Weise einzugreifen (wie beispielsweise Stolpersteine gezielt für das Forschungsprojekt zu beauftragen).
Bei der #everynamecounts Studie, einem Bildungsprojekt, wiesen wir Teilnehmende darauf hin, dass die Häftlingsregistrierungskarten Originaldokumente sind und baten sie von der Teilnahme abzusehen, wenn sie die Dokumente nicht entsprechend würdigen wollen. Damit riskierten wir, dass Personen mit bestimmten Einstellungen abspringen, was Auswirkungen darauf hätte, wie wir die gewonnenen Daten analysieren können.
So passten wir also unsere empirischen Methoden an diesen und anderen Stellen an normative Überlegungen an und schränkten sie teilweise ein, um den besonderen Objekten gerecht zu werden.
II. Forschungsethische Priorisierungen
Der Gegenstand unserer Forschung hat auch Konsequenzen für die Forschungsethik (Humphreys 2015). Das Erinnern an den Holocaust hat für Opfer und Überlebende sowie deren Nachfahren oft eine große Bedeutung. Häufig ist dieses Erinnern an bestimmte normative Ziele geknüpft, z.B. dass die Opfer und ihr Leiden nicht vergessen werden sollen. Auch wenn viele Überlebende und Opfer nicht mehr unter uns sind, kommen sie doch in unserer Forschung vor – ihre Namen stehen zum Beispiel auf den Stolpersteinen oder KZ-Häftlingsregistrierungskarten. Besonders vor dem Hintergrund des Umgangs mit der deutschen Geschichte mindestens seit 1945, in der die Vorstellungen und Wünsche der Überlebenden und Familienmitglieder von Opfern an vielen Stellen übergangen wurden (Czollek 2023), wäre es unserer Meinung nach unmöglich, ethische Forschung zum Holocaust durchzuführen, ohne den normativen Zielen der Betroffenen einen hohen Stellenwert zuzuschreiben. Da unsere Forschung, wie jede Art von empirischer Forschung, auch ein Schadensrisiko birgt (z.B. wenn die Forschung von falschen Akteuren instrumentalisiert und das Erbe der Opfer dadurch beschmutzt wird), müssen wir also den Zielen der Opfer, die eine solche Schadenswirkung betreffen würde, einen hohen Stellenwert einräumen, was letztendlich eine Werteentscheidung ist.
III. Keine wertneutrale Messung und Interpretation
Die Hypothese, dass die Erinnerung an den Holocaust Bürger:innen dazu motivieren könnte, sich für die Demokratie einzusetzen, erscheint uns heute selbstverständlich. Doch Katrin Antweiler (2023, Kapitel 3) stellt überzeugend dar, dass dies keineswegs ein natürlicher Zusammenhang ist, sondern das Ergebnis eines bewussten Prozesses. Das Narrativ, das die Gräueltaten des Holocaust mit der Verteidigung von Menschenrechten und der liberalen Demokratie zusammenbringt, wurde unter anderem von der UNESCO und der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) formuliert und gezielt in Museen, Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen verankert und so ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Uns war es wichtig, diese globalen Zusammenhänge zunächst zu verstehen, bevor wir uns dafür entschieden unter anderem die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie als abhängige Variablen zu messen. Nur so können wir in der Reflexion über unsere Interpretationen auch transparent machen, wie normative Setzungen (wie nach dem Zusammenhang von Holocaust-Erinnerung und Demokratieverteidigung) unsere Messmethoden informiert haben.
Gleichzeitig berücksichtigten wir bei der Konzeption unseres Forschungsdesigns zwei wichtige Kritikpunkte an dieser Agenda:
- Jede psychologische Forschung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt und fragt, welche Lehren Einzelpersonen aus der Geschichte für ihre persönliche und globale Verantwortung ziehen, ist Teil eines neoliberalen Konzepts von der mündigen Bürger*in. Dieses Konzept betont eine hohe Eigenverantwortung, was dazu führen kann, dass systemische Missstände übersehen oder als nachrangig betrachtet werden. Im schlimmsten Fall ignoriert der Fokus auf individuelle Verantwortung die Rolle von Ideologien, Nationalstaaten und internationalen Akteuren, die zur Entstehung von Verbrechen wie dem Holocaust beigetragen haben (Antweiler 2023, Kapitel 8, 9). Gerade in Deutschland ist dies besonders problematisch, da an der Erinnerungskultur kritisiert wird, dass sie vor allem symbolisch ist und von der Zivilgesellschaft wesentlich getragen wird, während die ökonomischen und juristischen Konsequenzen für NS-Täter*innen und Institutionen vergleichsweise gering blieben (Czollek 2023, Kapitel 2). Um diese Kritik ernstzunehmen, messen wir in unseren Studien kollektives und politisches Handeln. Zwar steht das Individuum im Mittelpunkt, jedoch nicht losgelöst von den politischen Strukturen, sondern in seiner Rolle als Akteur im politischen System. Interessanterweise finden wir gerade in Bezug auf diese kollektiven Ziele vielversprechende Ergebnisse, während sich bei individuellen Zielen, wie etwa der Verringerung von Vorurteilen, keine nennenswerten Effekte zeigen.
- Der zweite Kritikpunkt betrifft die Geschichtsschreibung und die Schaffung öffentlicher Erinnerung. Beides sind zutiefst politische Prozesse, die eng mit bestehenden Machtstrukturen verflochten sind (Antweiler 2023, Kapitel 8). Wenn wir testen, ob Bürger:innen oder – noch schlimmer – Mitglieder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen diese Lektionen verinnerlicht haben und somit als »mündig« gelten oder noch etwas »lernen« müssen, bewegen wir uns auf gefährlichem Terrain. Denn dies kann schnell zu Gefühlen moralischer Überlegenheit führen und den Raum für kritische Reflexion verkleinern (Antweiler 2023, Kapitel 9). Im schlimmsten Fall könnten unsere Ergebnisse als eine Art Test verstanden werden: Haben die Teilnehmenden bestanden? Da unsere Ergebnisse ja durchaus positiv ausfallen, könnten sie zu Wohlgefälligkeit beitragen – sie »beweisen« gewissermaßen, dass »wir Deutschen alles richtig machen«. Als empirisch Forschende können wir nicht kontrollieren, wie unsere Ergebnisse von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren verstanden und genutzt werden. Wir bemühen uns jedoch, einer solch einseitigen Interpretation der Ergebnisse vorzugreifen, in dem wie wir die Interpretation unserer Forschungsergebnisse vor dem Hintergrund solcher machtkritischer Perspektiven anstellen und gezielt kommunizieren, was letztendlich wieder eine Werteentscheidung ist.
Umgang mit Werten in der empirischen Forschung
Nun sollte klar geworden sein, an wie vielen Stellen im Forschungsprozesses wir uns mit Wertefragen beschäftigt haben. Immer wieder haben wir in der Art und Weise wie wir forschen (z.B. wie wir mit den historischen Objekten umgehen) und in Entscheidungen dafür, was wir erforschen (z.B. der Forschungsgegenstand »Wirkung von Erinnerungsprojekten«) sozialen Frieden und Gerechtigkeit in den Vordergrund gerückt. Diese Entscheidungen haben unser empirisches Design stark beeinflusst. Mit empirischen Methoden lassen sich keine Wertefragen beantworten, aber Werte beeinflussen stark, welche empirischen Methoden wir einsetzen und wie wir das tun. Deshalb halten wir es für umso wichtiger, diese Werte zu reflektieren und transparent zu diskutieren und hoffen, dass es in der Friedenspsychologie der Zukunft viel Raum dafür gibt.
Neben der Reflexion und Kenntlichmachung unserer wertebasierten Entscheidungen während des gesamten Forschungsprozesses ist außerdem ein klares Wertebekenntnis zu Antifaschismus, gegen Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit für uns unerlässlich. Wenn wir Antisemitismus erforschen, aber nicht aktiv zu seiner Bekämpfung beitragen, werden wir Teil des »Versöhnungstheaters« – ein Begriff, den Max Czollek für die deutsche Erinnerungskultur verwendet (Czollek 2023, Kapitel 2). Eine zentrale Facette dieses »Versöhnungstheaters« besteht darin, dass zwar von der Bekämpfung von Antisemitismus und Faschismus gesprochen wird, es aber vorrangig darum geht, das nationale Selbstbild zu verbessern. Die tatsächliche Bekämpfung des Problems tritt hinter den symbolischen Diskurs zurück. Wie stehen wir, als empirisch Forschende, da, wenn wir über das Problem schreiben, uns aber nicht für strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen einsetzen? Diese Problematik spitzt sich noch weiter zu, wenn wir von der Forschung persönlich profitieren, z.B. durch Publikationen und Beförderungen.
Hier zeigt sich die Schwierigkeit, unser Leben als Forschende zu Holocaust-Erinnerung von unserem Leben als Privatpersonen bzw. gesellschaftlich engagierte Personen zu trennen (Causadias et al., 2024), wie es beim Ideal der wertfreien empirischen Forschung oft gefordert wird. Die gesellschaftlich engagierte Person nimmt durch wertebasierte Entscheidungen Einfluss auf die empirische Forschung und die erfolgreiche empirische Forschung verpflichtet Forschende moralisch dazu, sich gesellschaftlich zu engagieren. Forschende tragen dabei unserer Meinung nach eine Verantwortung, die über die von Privatpersonen hinausgeht und eine Friedenspsychologie, die normativ dem Friedensziel vermittels der Gewaltreduktion politisch verpflichtet ist, eröffnet dafür einen Raum. Außerdem ist eine demokratische, offene Gesellschaft wiederum für die Wissenschaft unabdinglich. Nur unter diesen Umständen können wir unsere Forschung – friedenspsychologisch oder anderweitig – weiterführen. Wenn dies nicht gegeben ist, können wir weder Wege noch Ziele erforschen.
Anmerkung
1) Beim Projekt #everynamecounts kann jede:r über eine online Plattform schon in fünf Minuten einen Beitrag dazu leisten, dass die Dokumente weltweit zugänglich werden und so ein digitales Denkmal für die Opfer und Überlebenden gebaut wird. Auch Sie können am Projekt teilnehmen. Das Projekt findet sich unter: everynamecounts.arolsen-archives.org.
Literatur
Antweiler, K. (2023): Memoralizing the Holocaust in Human Rights Museums. Berlin, Boston: De Gruyter.
Bilewicz, M.; Witkowska, M.; Stubig, S.; Beneda, M.; Imhoff, R. (2017): How to teach about the Holocaust? Psychological obstacles in historical education in Poland and Germany. In: Psaltis, Ch.; Carretero, M.; Čehajić-Clancy, S. (Hrsg.): History education and conflict transformation. Social Psychological Theories, History Teaching and Reconciliation. Cham: Palgrave Macmillan, S. 169-197.
Bundesarchiv (2021): Archive und Erinnerungskulturen: Zwischen Bereitstellung und Geschichtspolitik. Koblenz: Bundesarchiv.
Causadias, J. M.; Rogers, L. O.; Juang, L. P.; Yip, T. (2024): Scholar activism benefits science and society. Nature Reviews Psychology 3(6), S. 370-371.
Czollek, M. (2023): Versöhnungstheater. München: Hanser.
Hirst, W.; Manier, D. (2008): Towards a psychology of collective memory. Memory 16(3), S. 183-200.
Humphreys, M. (2015): Reflections on the ethics of social experimentation. Journal of Globalization and Development 6(1), S. 87-112.
Keim, W. (2021): Post‐Fascists: Putting the So‐Called “Populist Right” into Historical Perspective. Journal of Historical Sociology 34(4), S. 604-623.
Shnabel, N.; Nadler, A.; Ullrich, J.; Dovidio, J. F.; Carmi, D. (2009): Promoting reconciliation through the satisfaction of the emotional needs of victimized and perpetrating group members. The needs-based model of reconciliation. Personality and Social Psychology Bulletin 35(8), S. 1021-1030.
Tajfel, H. (1978): Differentiation between social groups. Studies in the social psychology of intergroup relations. London: Academic Press.
Turkoglu, O.; Ditlmann, R.; Firestone, B. (2023): Commemorating local victims of past atrocities and far-right support over time. Proceedings of the National Academy of Sciences 120(28), e2221158120.
Van Zomeren, M.; Saguy, T.; Schellhaas, F. M. (2013): Believing in “making a difference” to collective efforts. Participative efficacy beliefs as a unique predictor of collective action. Group Processes & Intergroup Relations 16(5), S. 618-634.
Ruth K. Ditlmann ist Professorin für Social Psychology and Public Policy an der Hertie School in Berlin.
Berenike Firestone ist Postdoctoral Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin in der Forschungsabteilung zu Transformationen der Demokratie.

