Wessen Körper, wessen Rechte?
Konflikte um Selbstbestimmung als akutes Demokratieproblem
von Ulrika Mientus
Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sind zum selbstverständlichen Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung avanciert. Inwiefern bergen sie jedoch Zündstoff für innergesellschaftliche Konflikte, die eine Thematisierung in W&F rechtfertigen? Die historische Langzeitperspektive kann hier helfen und einerseits aufzeigen, was die Aushandlung von Geschlecht, Sexualität und Reproduktion mit Gewalt und Konflikt in der deutschen Gesellschaft zu tun haben. Andererseits wird deutlich, welchen Einfluss diese Aushandlungsprozesse auf das demokratische Miteinander im Hier und Jetzt haben und insofern dringend einer Reflexion bedürfen.
Ist nicht über sexuelle Identitäten und Geschlechter, über damit einhergehende und sie begründende Macht- und Gewaltverhältnisse alles gesagt? Haben nicht die Frauenbewegungen seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert, die Behindertenrechtsbewegung, der Aktivismus von Schwarzen, BIPoC und aus der LGBTQIA+ Community zur Genüge vor Augen geführt, dass Menschenrechte als Rechte aller Menschen umgesetzt werden müssen? Hat Carolin Emcke (2019, S. 91) nicht recht, wenn sie schreibt: „Manchmal kommt mir die Kritik an Ungleichheit und Diskriminierung nurmehr unoriginell vor – schließlich wiederholen wir das, was Generationen vor uns, mit anderen Erfahrungen und anderen Begriffen, bereits formuliert haben.“
Ist nicht schon alles gesagt?
Das Sprechen über und die Umsetzung von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung scheint heute in Deutschland eine Selbstverständlichkeit zu sein. Im November 2016 wurde mit der Reform des §177 Strafgesetzbuch (StGB) erstmals die Maxime »Nein heißt Nein!« im deutschen Strafrecht verankert, so dass nun der erkennbare Wille der*des Betroffenen gegen die sexuelle Handlung bzw. die fehlende Möglichkeit, einen Willen zu bilden, als Maßstab für die strafrechtliche Beurteilung sexueller Handlungen fungiert. Zwei Jahre später – im Januar 2019 – folgte die Reform des §219 StGB zum sogenannten Werbeverbot für Abtreibungen, dessen Streichung monatelang gefordert worden war, um die Informationsrechte (ungewollt) schwangerer Personen garantieren zu können, ohne die beteiligten Ärzt*innen hierfür zu kriminalisieren. Und schließlich steht die Ablösung des diskriminierenden Transsexuellengesetzes (TSG) durch ein Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag bevor. Diese (straf-)rechtlichen Reformen sind das Ergebnis langwieriger und konfliktreicher Aushandlungsprozesse über Geschlecht, Sexualität und Autonomie und verweisen exemplarisch auf einen gesellschaftlichen Wahrnehmungswandel in Bezug auf Körper und deren Verfügbarkeiten.
Zugleich sind die Grenzen dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeiten evident: Die Entscheidungshoheit über eine Abtreibung wird mit ihrer Kriminalisierung in §218 StGB nach wie vor der schwangeren Person entzogen. Ernsthafte und damit effektive staatliche Schutzkonzepte bezüglich sexueller und sexualisierter Gewalt insbesondere für Frauen, homosexuelle, trans und non-binäre Personen lassen auf sich warten (vgl. Notz 2022). Und die Verabschiedung des sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes wird mit Mythen über die Gefährlichkeit von trans Personen unnötig belastet und verzögert. Blickt man über den deutschen Tellerrand hinaus, zeigt sich zudem, dass einmal erkämpfte Rechte zur Disposition gestellt, beschnitten oder gar zurückgenommen werden können. Doch nicht nur das: während einerseits Rechte erkämpft und normalisiert werden, formieren sich andererseits vehemente Abwehrkräfte. So sind Frauen, trans und non-binäre Menschen heute deutlich sichtbarer vertreten, politisch aktiv und wirtschaftlich erfolgreich. Gleichzeitig sind sie einem ungewohnten Hass ausgesetzt, der sich dank neuer Technologien ungehemmter entladen kann.1 Um diese ambivalente Gleichzeitigkeit zu beschreiben, sprach Susanne Kaiser (2023) jüngst in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« nicht zu Unrecht von einem feministischen Paradoxon.
Begleitet werden diese Momente der Infragestellung, der Verzögerung oder gar Zurücknahme durch eine – auch medial aufgeladene – Polarisierung der Gesellschaft: diametral stehen jene (rechts-)konservativen Verteidiger:innen einer imaginierten, zu bewahrenden natürlichen und/oder gottgegebenen Geschlechterordnung den von ihnen als »woke« diskreditierten Verfechter:innen sexueller und reproduktiver Selbstbestimmungsrechte gegenüber.2 Im Kern geht es dabei um nichts weniger als die Frage, für wen die Allgemeine Menschenrechtserklärung, ihr europäisches Pendant sowie die Grundrechte im Grundgesetz formuliert sind: Wer zählt als Mensch, dessen Würde unantastbar ist? Welche Leben gelten als schützenswert? Welche als weniger betrauernswert?3
Damit stellt sich die Frage, welche Folgen es für jene hat, deren Existenzen zur Disposition gestellt werden. Wie wirkt sich ihr Ausschluss zunächst auf individueller Ebene aus? Und welche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander hat die Grenzziehung zwischen jenen, die von den Menschenrechten adressiert werden und auf ihre Verwirklichung vertrauen können, und jenen, die um Anerkennung als Träger:innen von Menschenrechten kämpfen und auf ihre Verwirklichung nur hoffen dürfen. Der Blick in die Geschichte kann helfen, diese Auswirkungen sichtbar zu machen, um darauf aufbauend die Aktualität ebenso wie die Brisanz für das demokratische Miteinander offenzulegen.
Was hat das mit Gewalt zu tun? Ein Blick zurück!
Gewaltverständnisse
Das 20. Jahrhundert ist geprägt von einem enormen Wahrnehmungswandel von Gewalt, den Svenja Goltermann (2020) aus wissensgeschichtlicher Perspektive auf vier Entwicklungen zurückführt. Erstens lasse sich eine Delegitimierung von Gewalt beobachten, die zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa in den Sozialwissenschaften positiv mit Machtvorstellungen verknüpft war, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jedoch zunehmend im Sinne einer Verletzung thematisiert und dadurch negativ konnotiert wurde. Parallel hierzu fand, zweitens, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Aufwertung von individueller Erfahrung statt, die die Figur des Opfers von Gewalt in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung überhaupt erst plausibel machte (s. auch Goltermann 2017). Hierfür war, drittens, neues medizinisch-psychiatrisches Wissen notwendig, das die Annahmen von der individuellen Belastungsfähigkeit und damit den Verletzungsbegriff signifikant erweiterte. Die für die Friedens- und Konfliktforschung sicherlich bekannteste Zäsur bildete 1980 die Aufnahme der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung in das US-amerikanische Klassifikationssystem für psychische Krankheiten. Viertens griffen internationale Organisationen wie die UN, die WHO, UNICEF und die ILO Gewalt als gesundheitliches und nicht zuletzt auch ökonomisches Problemfeld auf, inkludierten dabei die private Ebene in die Auseinandersetzung mit Gewalt und verschafften so ihrer Thematisierung auf internationalem Parkett Relevanz (vgl. Goltermann 2020, S. 31ff.).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat sich nicht nur das Sprechen über Gewalterfahrungen massiv verändert, insofern es überhaupt erst ermöglicht wurde. Zudem wurde der Blick geweitet auf Ungleichheitsstrukturen und individuelle wie auch kollektive Diskriminierungserfahrungen. Unser zeitgenössisches Gewaltverständnis ist daher nicht beschränkt auf physische Handlungen, sondern schließt Sprechakte ebenso ein wie Strukturen der Missachtung und verweigerten Anerkennung des Gegenübers (vgl. Butler 2015). In Bezug auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zeigt sich dies exemplarisch an der – keineswegs selbstverständlichen oder notwendigen – politischen und rechtlichen Regulation von Elternschaft, Sexualität und geschlechtlicher Identität vom ausklingenden 19. Jahrhundert bis heute.
Regulation von Elternschaft, Sexualität und geschlechtlicher Identität
Politische und rechtliche Maßnahmen im Bereich sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung (re-)produzieren Geschlechternormen, mit denen anerkennungswürdige Identitäten, Körper und Lebensweisen definiert und damit immer auch nicht anerkennungswürdige ausgegrenzt werden. Dies lässt sich an den Themen Abtreibung, Zwangssterilisation und TSG skizzieren.
Seit über 150 Jahren findet sich in §218 StGB das bekannteste und umstrittenste Instrument zur Regulation von Leben und Körpern: die Kriminalisierung der Abtreibung. Auf Basis dieses Paragraphen entschieden bis 1976 überwiegend männliche Ärzte über rechtmäßige Gründe zur Beendigung einer Schwangerschaft ((sozial-)medizinische Indikation). Seither wird der schwangeren Person zwar eine zeitlich begrenzte Entscheidungsgewalt über ihren Körper zugestanden (Fristenlösung), von voller Mündigkeit kann jedoch angesichts einer Zwangsberatung nicht gesprochen werden. Und so schwebt über dem Ausleben der Sexualität bestimmter Personen das Damoklesschwert einer Infragestellung ihrer Entscheidungsfähigkeit, die überhaupt erst durch eine vergeschlechtlichte Sexualmoral plausibel wird.
Steht hier zunächst die Definitionshoheit über die körperliche Integrität zur Disposition, verletzten Zwangssterilisationen zugleich die Körper und die Würde einer Person. Als Instrument der Geburtensteuerung wurden sie seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert von Eugeniker:innen unterschiedlicher politischer Couleur gefordert und auch in demokratischen Staaten bis weit in die 1970er Jahre durchgeführt. Im Deutschen Reich erließen die Nationalsozialisten 1933 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN), mit dem zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben differenziert wurde, wobei die Beurteilung durch Ärzte und Richter erfolgte. Getarnt als gesundheitspolitische Maßnahme für den »Volkskörper« folgten eugenisch motivierte Zwangssterilisationen ableistischen, sexistischen, klassistischen und rassistischen Logiken4, deren Wirkmächtigkeit in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten durch Aufarbeitungsbemühungen (vielfach auch von Betroffenenverbänden) mühsam sichtbar gemacht wurde. Als NS-Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gelten Zwangssterilisierte indes bis heute nicht, da die Eingriffe in den 1950er und 1960er Jahren – als das BEG verabschiedet wurde – als gesellschaftlich wünschenswerte und für das Individuum nicht weiter beeinträchtigende Operationen galten. Dass mit den Zwangssterilisationen ein Unwerturteil über die Betroffenen gesprochen wurde, mit dem Stigmatisierungen verbunden waren, die die beruflichen, wirtschaftlichen und romantischen Biographien beeinträchtigten, wurde ignoriert. Stattdessen gab es parallel zu den BEG-Beratungen Entwürfe für ein neues Sterilisationsgesetz.
Die westdeutsche Geschichte der Zwangssterilisationen war hiermit nicht beendet, sondern setzte sich für Menschen mit Behinderung und trans Menschen fort. Nachdem die Krüppelbewegung die Anerkennung der sexuellen Entfaltung von Menschen mit Behinderung erkämpfte, wurden Zwangssterilisationen insbesondere an Mädchen und Frauen mit dem Label »geistig behindert« durchgeführt.5 Diese Eingriffe wurden von den Ärzt:innen unter anderem mit dem Schutz der Betroffenen vor sexuellen Übergriffen begründet – geschützt wurden jedoch nicht die Betroffenen, sondern die Gesellschaft vor ihrer potentiellen Mutterschaft (vgl. Schenk 2016).6
Auch die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von trans Menschen wird bislang verletzt. Mit Inkrafttreten des TSG 1981 wurde überhaupt erst eine gesetzliche Regelung für die Änderung des Geschlechtseintrages geschaffen, die jedoch bis 2008 die Scheidung von verheirateten Personen sowie bis 2011 die Unfruchtbarmachung der Betroffenen voraussetzte. Nach wie vor erfordert das TSG zudem ein Begutachtungsverfahren, das trans Menschen pathologisiert und stigmatisiert, während die Deutungshoheit letztlich in die Hände von Richter:innen und Mediziner:innen gelegt wird (vgl. Ewert 2018).
Die genannten Beispiele verweisen darauf, dass Regierungen entscheiden, welche Elternschaft, welche Partner:innenschaft, welche Sexualität und welche Körper als gesellschaftlich wünschenswert gelten. Unter dem Deckmantel juristischer und medizinischer Plausibilitäten werden Körper unterschiedlich reguliert, angreifbar und verwundbar gemacht. Doch welche Folgen hat dies individuell und kollektiv?
Folgen für das demokratische Miteinander
Eine derartige Regulation von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung hat unmittelbare Auswirkungen auf Individuen: Identitäten, Körper und die eigene Art, zu sein, wird hinterfragt, abgewertet, verletzbar gemacht und durch physische Eingriffe beschnitten. Dies geschieht auf staatlicher Ebene, indem etwa durch das GzVeN und das TSG definiert wird, wessen Leben wie lebenswert ist. Begünstigt werden dadurch Stigmatisierung und Diskriminierung, die Scham und Gewalt produzieren können. So beschrieben NS-Zwangssterilisierte eine internalisierte Scham über das verhängte Unwerturteil, die ein öffentliches Sprechen über die Ereignisse und damit einen effektiven Kampf um Anerkennung für die überwiegende Mehrheit der Betroffenen verunmöglichte. Dabei begünstigt eine rechtliche Stigmatisierung gesellschaftliche Vorurteile, die Gewalterfahrungen wahrscheinlicher machen, wie die Häufigkeit digitaler, physischer und psychischer Gewalt gegen homosexuelle und trans Menschen zeigt (vgl. Lüter et al. 2022).
Für Betroffene kann dies heißen, die eigene Identität trotz allem finden zu müssen, sich in der Gesellschaft trotz allem bewegen zu lernen. Angesichts der Verbreitung der Gewalt an Frauen spricht Franziska Schutzbach auch von einer internalisierten Habachtstellung und permanenten Gefahrenabschätzung als Mechanismen, die Mädchen und junge Frauen zu entwickeln lernen und die – neben anderen sexistischen Strukturen – eine Erschöpfung produzieren (Schutzbach 2021). Wenn auf diese Weise und vor allem durch die ungleiche Verteilung von Selbstbestimmungsrechten die Erschöpfung bestimmter Personen in Kauf genommen wird, dann hat dies auch unmittelbare gesellschaftliche Konsequenzen.
Wenn Personen(-gruppen) Ressourcen und Kräfte aktivieren müssen, um zu existieren oder für ihre Existenz zu kämpfen, bleiben am Ende des Tages keine oder signifikant weniger Ressourcen für andere politische Themen. Damit geht es aber nicht mehr nur um die ungleiche Verteilung von Anerkennung, sondern auch um eine daraus resultierende Ungleichverteilung von Ressourcen, mit denen sich Personen in die demokratische Gesellschaft einbringen können. Damit erweist sich die verweigerte sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung Einzelner als demokratisches Problem aller (vgl. Bücker 2022, S. 267-306). Und so heißt es trotz allem, den Worten Emckes zu folgen:
„Aber nur weil eine Ungerechtigkeit schon lange besteht, ist sie nicht weniger ungerecht. […] Aus der bloßen Dauer von Ressentiment und Diskriminierung ergibt sich nicht ihre Richtigkeit. Insofern bleibt ihre Kritik (leider) dringlich und aktuell.“ (Emcke 2019, S. 91)
Anmerkungen
1) Vgl. hierzu für den deutschsprachigen Raum die im Herbst erscheinenden Bücher der Juristinnen Christina Clemm (2023) und Asha Hedayati (2023).
2) »Woke« als konservativer Kampfbegriff ist aus den rechten und rechtsextremen US-amerikanischen Debatten in den deutschen Diskurs übergeschwappt. Dabei handelt es sich um eine Aneignung des Begriffs aus Teilen der Schwarzen Kultur, in der woke den Prozess des Gewahrwerdens insbesondere von rassistischer Diskriminierung, aber auch von Sexismus und Klassismus beschreibt.
3) Mit dieser Frageperspektive weist Judith Butler daraufhin, dass Leben unterschiedlich gelten: so gleichen sich die Körper zwar in ihrer Verletzbarkeit, werden aber unterschiedlich verwundbar gemacht. Folgerichtig müssen daher die Prozesse der Bewertung und die „strukturelle Verwundbarmachung“ (Govrin 2022, S. 72) in den Blick genommen werden.
4) Ableismus beschreibt die Reduktion auf den (nicht-)behinderten Körper und die mit ihm assoziierten Fähigkeiten, auf deren Basis Menschen beurteilt und auf-/abgewertet werden. Analog dazu adressiert Klassismus die Reduktion einer Person auf ihre (antizipierte) soziale Herkunft oder Position. Mit der Analyse ableistischer und klassistischer Verhältnisse werden Herrschafts- und Unterdrückungssysteme sichtbar, die eine Hierarchisierung, Abwertung und Ausgrenzung von Menschen voraussetzen und reproduzieren.
5) Unter dem bewusst provokativen Schlagwort „Jedem Krüppel seinen Knüppel“ gründete sich in Bremen 1978 die erste selbsternannte Krüppelgruppe. Über die Republik verteilt organisierten sich fortan Menschen mit Behinderung, um ihre Diskriminierung öffentlich sichtbar zu machen und die Durchsetzung ihrer Grundrechte zu erkämpfen.
6) 1992 wurde mit der Reform des Betreuungsgesetzes zumindest ein rechtlicher Rahmen für die Unfruchtbarmachung geschaffen.
Literatur
Bücker, T. (2022): Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Berlin: ullstein.
Butler, J. (2015): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Butler, J. (2023): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Clemm, C. (2023): Gegen Frauenhass. Berlin: Hanser.
Emcke, C. (2019): Ja heißt ja und …. Frankfurt a.M.: Fischer.
Ewert, F. (2018): Trans.Frau.Sein. Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung. Münster: edition assemblage.
Goltermann, S. (2017): Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer.
Goltermann, S. (2020): Gewaltwahrnehmung. Für eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert. Mittelweg 36(2), S. 23-46.
Govrin, J. (2022): Politische Körper. Von Sorge und Solidarität. Berlin: Matthes&Seitz.
Hedayati, A. (2023): Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen allein lässt. Hamburg: rowohlt.
Kaiser, S. (2023): Das feministische Paradoxon. Der brutale Backlash gegen die Emanzipation. Blätter für deutsche und internationale Politik, 67(5), S. 65-74.
Lüter, A. et al. (2022): Berliner Monitoring trans- und homophobe Gewalt. Schwerpunktthema transfeindliche Gewalt. Berlin.
Notz, G. (2022): Gewalt gegen Frauen. Immer noch ist das Private nicht politisch. W&F 1/2022, S. 22-24.
Schenk, B.-M. (2016): Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik (1960er bis 1990er Jahre). Frankfurt a.M.: Campus Verlag.
Schutzbach, F. (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München: Droemer.
Kommentar
Omnipräsent … und dennoch vertagt
Wo bleiben Antworten auf patriarchale Gewalt?
Es war ein heißer Julitag in Berlin, als das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundesfamilienministerin und die Bundesinnenministerin den Lagebericht zu häuslicher Gewalt in Deutschland 2022 und den bedrückenden Anstieg der Taten um 8,5 % im Vergleich zum Vorjahr vorstellten. Die Zahl der Fälle von Partnerschaftsgewalt stiegen sogar um 9,1 % auf 157.818 Fälle – und das sind nur die gemeldeten. Dabei sind über 80 % der Opfer weiblich, rund 78 % der Täter männlich. Wie Bundesfamilienministerin Lisa Paus konstatierte, erfuhren im letzten Jahr pro Stunde 14 Frauen Gewalt. 133 Frauen wurden 2022 von ihrem (Ex-)Partner ermordet.
Patriarchale Gewalt, so könnte man meinen, ist auf (inter-)nationalem Parkett in aller Munde, wird als gesamtgesellschaftliches Problem ernstgenommen und angegangen. Doch was setzt die Bundesregierung ihr entgegen? Was tut sie, um der Istanbul-Konvention gerecht zu werden, die hierzulande seit 2018 umgesetzt werden muss?
Auf der Pressekonferenz wurde die Durchführung einer Dunkelfeldstudie bekannt gegeben, deren erste Ergebnisse für 2025 erwartet werden. Zudem sollen Hilfsangebote für Gewaltbetroffene weiter gefördert und ausgebaut werden. Bereits der wenige Tage zuvor veröffentliche Entwurf für den Bundeshaushalt 2024 hat gezeigt: zwar werden die Mittel für die »Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen« nicht gekürzt, aber im Wesentlichen bleibt sie auf die Unterstützung gewaltbetroffener Personen beschränkt. Das ist – ohne Frage – eine notwendige und angesichts von bundesweit 14.000 fehlenden Frauenhausplätzen auch keine banale Angelegenheit. Gleichwohl scheint der Präventionsbegriff im Bereich der patriarchalen Gewalt nach wie vor einer erstaunlichen Verkürzung auf (potentielle) Opfer zu unterliegen. Aber Frauenhäuser, Beratungsstellen und Hilfetelefone sind keine Prävention, sind nicht Maßnahmen zur Gewaltvorbeugung, sondern lediglich Erste-Hilfe-Leistungen bei drohender oder erlebter Gewalt. Ruht sich eine Gesellschaft auf diesen Maßnahmen aus, nimmt sie die Gewalt fahrlässig und billigend in Kauf.
Dass dies der Fall ist, zeigt exemplarisch der neueste Bericht der UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem. Mit deutlichen Worten kennzeichnete sie den Umgang von Familiengerichten mit gewaltbetroffenen Müttern und Kindern als Menschenrechtsverletzung, weil Gewalttätern regelmäßig trotz allem der Umgang mit Kindern zugestanden und damit die Sicherheit der Frauen und Kinder gefährdet wird. Auch in Deutschland.
Dies berichten regelmäßig die Anwältinnen Christina Clemm und Asha Hedayati aus ihrer Alltagspraxis in Sozialen Medien, um das Problem sichtbarer zu machen. Nicht einmal nachdem Gewalttäter auffällig wurden, weiß die Gesellschaft also Antworten zu formulieren, die diese Taten angemessen sanktionieren und vor allem die Betroffenen schützen. Stattdessen wird die Sicherheit der Opfer unter Rückgriff auf pseudowissenschaftliche Entfremdungskonzepte und misogyne Mythen zugunsten der Interessen der Täter gefährdet, wie die Frauenhauskoordinierung e.V. kritisiert.
Das Beispiel zeigt: es braucht ein Umdenken. Patriarchale Gewalt und ihre strukturellen Ursachen müssen benannt werden; Toxische Männlichkeitskonstrukte müssen problematisiert werden; Vermeintliche Einzelfälle müssen als gesamtgesellschaftliches Problem adressiert werden. Es reicht nicht, dass die Ministerinnen mit ihrem Lagebild „jeden aufrütteln“ wollen und die entscheidenden Fragen dann nicht stellen. Denn wo sind die Täter in ihrer Präventionsstrategie? Es reicht einfach nicht, dass wir uns fragen, ob wir Betroffene kennen. Wir müssen uns endlich fragen, ob wir die Täter kennen. Wer sind sie? Warum hören sie nicht auf? Und wo bleibt das Konzept für eine Gesellschaft, in der sich Frauen nicht mehr schützen müssen?
Ulrika Mientus
Ulrika Mientus war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Marburg, wo sie ihr Promotionsprojekt über die Opferverbände der NS-Zwangssterilisierten und »Euthanasie«-Geschädigten zum Abschluss bringt. Sie ist Dozentin in der außerschulischen politischen Bildung und Redaktionsmitglied von W&F.